In neuem Glanz
Finster war’s, der Mond schien helle … kam ihr in den Sinn und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie müde die nächtliche Fußgängerzone entlang ging. Sie folgte mit starrem Blick den seelenlosen Schaufenstern, die sie als teuflischen Zombie widerspiegelten. Sie fühlte sich wie ein unbeabsichtigt zertretener Hundehaufen, dem auch die freundlichste Entschuldigung des Verursachers seine Form nicht mehr wiedergab. Diese Selbsterkenntnis entlockte ihr ein winzig kleines Lächeln, das aber sofort wieder gefror, obwohl es nicht kalt war. Sie zog den Kragen enger.
Ein kleiner Karren Leben war ihr geblieben, wenige persönliche Dinge wie Zahnbürste und Unterwäsche, eine Börse mit etwas Geld, ein altes Kofferradio und ein paar Kladden mit Geschichten, ihren Geschichten. Sie waren ihr größter Schatz und erinnerten an bessere Zeiten. Was würden die kommenden Wochen bringen? Vermutlich nicht mehr als die Kälte, Unsicherheit und Traurigkeit, die sie seit ihrem Absturz auf die Straße verfolgten. Erst hatte sie ihre Arbeit und dann die Wohnung verloren. Letztlich büßte sie noch die früher so wichtigen, vorurteilsfreien sowie oberflächlichen Kontakte ein. Und sie wusste, es war ihre eigene Verantwortung, der süße Wein des
beruflichen Aufstiegs, der sie trunken gemacht hatte. Jetzt gab es niemand mehr, der sie aus dieser Sackgasse befreite. Ein paar Mal hatte sie Zuflucht im Obdachlosenasyl gesucht, aber das Leid ihrer ›Kollegen‹ hatte sie nur noch mehr zermürbt. Deren Lebensbeichten verstärkte nur ihren eigenen Kummer. Da suchte sie lieber noch Zuflucht in einem unverschlossenen Kellerloch. Ihr liefen kalte Schauer über den Rücken. Das Verlorene schmerzte zu sehr. Zukunft, was ist das? Nein! Für sie gab es keine Zukunft. Was für ein Leben, was für ein Scheiß! Wohin? Warum überhaupt irgendwo hin? Sie war des Wanderns müde und fühlte sich ausgelaugt. Ihr
Schaltgetriebe stand auf Leerlauf, allenfalls erster Gang. Ohne Ziel, kein Weg. Stille lange Schatten folgten ihr, um sie Augenblicke später unauffällig zu überholen. Früher hatte hier das Leben getobt, da hatte sie beim Italiener am Eck vor ihrer Pizza und einem Glas Rotwein gesessen und die Menschen an gut besuchten Straßencafés vorbeiflanieren sehen. Da hatte sie noch mit schön verzierten Besteck von feinem Porzellan gegessen. Ihr Vermögen hatte sie quasi verprasst, als gäbe es kein Morgen …
Jetzt hatte sie beides nicht mehr, stellte sie mit gequältem Lächeln fest. Resignation hatte sich in ihr
ausgebreitet. Ihre Gedanken waren dunkel wie das mit Brettern vernagelte Lokal, das den Kampf ums Geschäft verloren hatte. Kein Trost, fand sie.
Einzig der kleine Streuner, dem sie in den letzten Wochen ab und zu begegnet war, konnte ihr ein mattes Lächeln abringen. Doch heute leistete er ihr keine Gesellschaft. Einzig das Rattern ihres Handkarren auf dem Pflaster unterbrach das immerwährende, rastlose Schweigen zwischen den Mauern.
Sie zog ein zerknautschtes Taschentuch aus der Manteltasche und schnäuzte sich. Das Schnauben dröhnte unangenehm in ihren Ohren. Welchen Weg sollte sie gehen und wo die Nacht verbringen? Im
Asyl drängten sich all die anderen Verlorenen, denen sie schon am Tag aus dem Weg ging. Egal, wohin ich hingehe oder auch nicht, der Weg endet an derselben Biegung, dachte sie traurig. Sie ließ sich mühsam beherrscht auf eine Bank sinken. Wie gern würde sie einfach nur schlafen, doch die trüben Gedanken beherrschten auch die hellste Nacht. Sie kramte eine Kladde aus ihrer Tasche, blätterte ein paar Seiten und las im Schein der Laterne: Am Ende des Weges. Es war ein Traum, ich ging meines Weges in der Dunkelheit. Vor mir ein Weg, eingetaucht in diffuses Licht. Nur schemenhaft ließ sich die Umgebung erkennen, und weit voraus strahlte ein
Lichtbogen zu mir. Mein größter Wunsch war, dieses Licht zu erkennen, zu wissen, was es war, woher es kam. Also ging ich, aber ich kam ihm nicht näher. Je schneller ich lief, desto mehr entfernte es sich. Blieb ich stehen, so blieb die Distanz gleich. So kam es, dass ich versuchte, dieses Licht, mein Ziel, zu vergessen, zu ignorieren. Doch auch nach Jahren der Wanderung, der Stagnation, hat sich das Licht nicht verändert … und ich habe die Fähigkeit zu vergessen verlernt.
Sie starrte gedankenvoll die Straße entlang. Tränen liefen ihr über die Wangen und ihr Blick verlor sich im Irgendwo. Auf einmal spürte sie seine
feuchte Schnauze, die sich an ihre Hände schmiegte. Sie sah dankbar auf ›ihren‹ Streuner hinab und das Lächeln in seinen Augen stoppte ihre Tränen. Sie streichelte ihm wortlos über das struppige Fell. Er liebte es, wenn sie ihn hinter den Ohren kraulte oder eine Strähne mit zwei Fingern zwirbelte, und quittierte das mit freudigem Schwanzwedeln. Dabei legte er den Kopf zur Seite und die bernsteinfarbenen Augen sahen sie eindringlich an: Ich habe dich vermisst, wo warst du? Sie langte in ihrer Manteltasche nach einer Tüte und holte einen Keks hervor. »Bitte, ich habe sie dir extra aufgehoben.«
Ein Keks nach dem anderen verschwand
in seiner Schnauze. »So, das war der Letzte, mein Freund.« Sie ließ die Tüte in den Papierkorb neben der Bank fallen.
»Was machen wir jetzt?«
Statt einer Antwort ging der Hund ein paar Schritte und drehte sich zu ihr um. Nun komm. Sie nahm ihren Karren. »Wo willst du mit mir hin?«
Seiner eigenen Logik folgend dirigierte er sie durch ein Gewirr von Straßen, die ihr fremd und unheimlich waren. Plötzlich blieb er stehen und setzte sich mitten auf den Weg. In diesem Moment öffnete sich eine Tür und ein Lichtschein fiel auf sie. Da trat jemand heraus. Eine warme Frauenstimme rief: »Komm nur. Der Tee wird dir gut tun.«
Überrascht sah sie von der Frau zum Hund und wieder zu der Tür. Die Silhouette winkte ihr zu. Seine feuchte Nase stupste sie, dann trottete er den Weg zurück. An der Straßenecke drehte er sich noch einmal um. Ein leises Bellen, ein Blick. Dann folgte er seinem eigenen Weg.
»Komm, der Tee hat lange genug gezogen.«
Sie folgte wortlos dem Angebot. Alles war besser als das Zurückliegende oder auch das Morgen. Die Karrenräder knarrten bekräftigend. Als die Tür hinter ihr zufiel, ging am Ende der Straße zwischen den Bäumen die Sonne auf.