»Bist du sicher?«, fragte Remic, als er Caziana in den unterirdischen Tunnel folgte. »Die Dokumente könnten überall sein.« Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Caziana über ihre Schulter. Die Fackel vor sich, das Halstuch vor Mund und Nase, folgte sie dem Tunnel vor sich. Das Atmen fiel ihr schwer. Langsam kam ihr der Gedanke, dass Remic recht haben könnte. Vielleicht hatte der Stadtvogt die Dokumente doch nicht im Bunker unter der Stadt versteckt. Aber wo sollten sie sonst sein? Informationen über die Paladine wurden nicht an jeder Straßenecke verteilt, wo jeder Dorftrottel sie finden und gegen die Glaubensbrüder verwenden konnte. Ein Bunker unterhalb der Stadt war das ideale Versteck. »Ich bin sicher. Und jetzt trödel nicht herum. Wir haben Arbeit zu erledigen.« »Ich bin schon unterwegs. Aber wenn hier
nichts ist, musst du deinem Vater erklären, was wir ...« »Ziehvater«, fuhr sie ihn schärfer an, als sie wollte, und fügte schließlich hinzu: »Es tut mir leid.« Remic atmete tief durch, bevor er sagte: »Wie auch immer. Auf jeden Fall wirst du ihm erklären müssen, was wir hier unten gemacht haben. Verstehst du?« »Du machst dir zu viele Sorgen, Remic. Alles wird gut.« Zweifel keimten in ihr auf. »Und du machst dir zu wenig Sorgen. Ich will einfach nur hier raus. Und damit meine ich nicht diese stinkende Jauchegrube von einem Tunnel.« Caziana blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Ihr Lächeln zeichnete sich unter dem Halstuch ab. »Das wollen wir beide. Wenn wir die Dokumente gefunden und abgeliefert haben, können wir immer noch irgendwo untertauchen, wo der Soldan-Clan uns nicht findet.
Einverstanden?« Widerwillig gab Remic nach. »Wehe, du verarschst mich.« »Habe ich das jemals getan?« »Äh, ja.« »Bei welcher Gelegenheit denn?« »Beim Würfelspiel, zum Beispiel?« »Bei welchem Spiel den?« »Bei allen.« »Ach komm. Du bist einfach zu schlecht beim Würfeln, als dass man gegen dich verlieren könnte.« Caziana genoss es, Remic zur Verzweiflung zu bringen. Auf eine seltsame Art fand sie es beruhigend. So war es schon immer gewesen. Egal, wie unruhig oder niedergeschlagen sie war, wenn sie merkte, dass es jemandem genauso ging, waren die innere Unruhe und die Niedergeschlagenheit wie weggewischt. »Sind wir bald da?« »Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen.« Als
sie sich zu ihm umdrehte, sah sie sein breites Grinsen. Da begriff sie, dass er sie ärgern wollte. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, es war ihm gelungen. »Komm. Es ist nicht mehr weit.« Tatsächlich waren sie schon nach wenigen Schritten am Ziel. Vor ihnen versperrte eine schwere Eichentür den Weg. Caziana legte ihr Ohr an die Tür, um zu lauschen. Dahinter war nichts zu hören. Dann trat sie zur Seite. Remic zog einen Satz Dietriche aus der Tasche und machte sich an die Arbeit. »Sag mal, Caz, woher wusstest du, wo du suchen musst? »Ich habe meine Mittel und Wege.« »Redest du von Erpressung?«, fragte Remic zynisch. »Wir hätten schon vor langer Zeit fliehen sollen. Der Soldan-Clan tut dir nicht gut. Hat er noch nie.« Obwohl Caziana wusste, dass er recht hatte, schmerzte seine Aussage wie ein Stich ins Herz.
Sie wandte sich von ihrem Freund ab, damit er die Träne nicht sah. Seit Ricard sie als Kind adoptiert hatte, gab es für sie nur Diebstahl, Körperverletzung und Schmuggel. Wenn sie auch nur ein wenig von Ricards Willen abwich, bestrafte er sie gnadenlos mit Nahrungsentzug und Freiheitsberaubung. Die Würmer der Scham und des Zorns machten sich in ihrem Bauch bemerkbar. Gleichzeitig wuchs der Wunsch nach Freiheit in ihrem Herzen. Wie lange konnte sie noch durchhalten, bevor sie endgültig zusammenbrach? Das Quietschen der sich öffnenden Tür riss sie aus ihren düsteren Gedanken. »Die edle Dame zuerst.« Remic verbeugte sich übertrieben wie ein edler Herr auf einem königlichen Fest. Widerstrebend hoben sich ihre Mundwinkel. »Danke, edler Herr.« Auch sie verbeugte sich übertrieben und betrat den Raum. Sie befanden sich in einer Art Bibliothek. Der
Raum war fast so groß wie das Anwesen von Ricard Soldan. Überall standen Regale, deren Fächer von Büchern und Schriftrollen überquollen. Überall waren Leuchtkristalle angebracht, die die Bibliothek in ein gedämpftes Licht tauchten. »Sind das die Dokumente, die wir brauchen?« Remic war sichtlich erschlagen von der Menge der Schriften. »Wie sollen wir das alles hier rauskriegen? Und vor allem, wo sollen wir es lagern?« Seine Naivität war erfrischend. »Wir brauchen nicht alles. Nur ein paar bestimmte Dokumente.« »Und wie sollen wir die finden?« »Auf die herkömmliche Art und Weise«, sagte Caziana kühl. »Suchen.« Sie nahm das nächstbeste Buch in die Hand. Mit den Fingern fuhr sie über den Ledereinband. ›Die Legende vom heiligen Krieger‹ war darauf gedruckt. Sie blätterte darin. Es gab einige
Zeichnungen. Einige zeigten Schlachtszenen. Andere zeigten einen edlen Mann, der auf einem Thron saß. Der heilige Krieger? Irgendetwas an diesem Buch faszinierte sie. Sie beschloss, es einzustecken. »Sind das die Dokumente, die wir suchen?«, rief Remic aus einem anderen Gang. Caziana ging zu ihm, um den Fund zu begutachten. Auf den Dokumenten standen Namen. Einige erkannte sie. Es waren hochrangige Paladine. Hinter den Namen standen Zahlen. Sie konnte sie schnell als Geldbeträge deuten und das Datum, an dem sie dem jeweiligen Paladin ausgezahlt worden waren. In den hinteren Spalten standen die Summen mit Zinsen, die die Paladine zurückzahlen mussten. »Das sind die Dokumente.« Caziana war erstaunt, wie schnell sie die Dokumente angesichts der Fülle der Bibliothek gefunden hatten. »Und jetzt raus
hier.« Kaum hatten sie die Tür erreicht, durch die sie gekommen waren, hörten sie schwere Schritte vom anderen Ende der Bibliothek. So leise wie möglich schlichen sie zurück in den Tunnel. Remic hielt Caziana wortlos davon ab, die Tür hinter sich zu schließen. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Tür zu viel Lärm machen würde. Leise eilten sie durch den Tunnel. Sie hatten die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie von hinten jemanden schreien hörten: »Alarm. Eindringlinge. Alarm.« Caziana rannte so schnell wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie ignorierte das Brennen in ihren Oberschenkeln, das Seitenstechen und die stechenden Blicke in ihrem Nacken. Sie versuchte, während des Sprints ruhig zu atmen. Endlich erreichten sie die Leiter, die nach oben führte. »Los, los, los«, trieb Remic sie zur Eile an. Caziana stieß die Luke auf und hievte sich
hinaus. Sie half Remic hinaus. Wenn sie genug Zeit gehabt hätten, hätten sie die Luke mit etwas Schwerem versperren. Da ihnen die Stadtwache dicht auf den Fersen war, flohen sie sofort aus dem Lagerhaus. Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter sah sie den ersten Wächter aus dem Schacht klettern, in seinem tiefroten Waffenrock mit dem Wappen einer Krone über zwei gekreuzten Schwertern. Caziana schob Remic in die Menge, die sich bereits auf dem Marktplatz drängte. Da es früher Morgen war, war auf dem Markt noch nicht viel los. Sie mussten sich hin und her bewegen, um irgendwie unsichtbar zu bleiben. »Verteilt euch!« Die befehlsgewohnte Stimme des Wachmanns war in dem Stimmengewirr kaum zu überhören. »Findet den Dieb!« Den Dieb. Nicht die Diebe. Ein Lächeln huschte über Cazianas Gesicht. Sie und Remic waren also nicht gesehen worden. Zumindest nicht beide. Dann hatten sie noch eine Chance zu
entkommen. »Hier entlang.« Remic packte sie am Arm und zog sie hinter sich her. Einer der Wächter, ein eher schmächtig wirkender Mann, der kaum in der Lage zu sein schien, eine Waffe zu halten, geschweige denn ein Wächter zu sein, war ihnen dicht auf den Fersen. Remic führte sie in eine Seitengasse und drückte sie gegen eine Hauswand. Ohne Vorwarnung drückte Remic seine Lippen auf die Irre. Überrascht riss Caziana die Augen auf. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Ihre Beine wurden weich, und das lag sicher nicht am Sprint. Remic ließ sie los und sagte: »Spiel einfach mit.« Als er sie wieder küsste, ließ sie es zu. Sie schlang ihre zitternden Arme um seinen Nacken. Er erwiderte den süßen Kuss. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Brust. Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch. Könnte dieser Augenblick doch ewig dauern. Der hagere Wächter ging an ihnen vorbei. Dann
drehte er sich um und sah das Paar grinsend an. »Was ist los?«, fuhr Caziana ihn an, als sie sich von Remics Lippen löste. Sie konnte selbst kaum glauben, wie fest ihre Stimme klang. »Noch nie zwei Menschen gesehen, die sich lieben?« Mit erhobenen Händen und einem breiten Grinsen im Gesicht ging der Wachmann davon. Erst jetzt drangen seine Worte zu ihr durch. Liebe. War es Liebe, was sie empfand? Das konnte es nicht sein. Remic und sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Solche Gefühle hatte es noch nie gegeben. Liebe konnte es nicht sein. Oder doch? »Wir haben es geschafft«, sagte Remic lächelnd und gab ihr noch einen Kuss auf die Wange. Und noch einen. »Jetzt hör auf«, sagte sie und wünschte sich gleichzeitig, er würde weitermachen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verhinderte den Ernst in ihrer
Stimme. Remics Gesicht lief rot an. Beschämt blickte er sie an. Jetzt sah er so aus, wie Caziana sich fühlte. »Jetzt müssen wir den Auftrag zu Ende bringen«, sagte Caziana, um dem peinlichen Schweigen zu entkommen. War der Moment des Glücks wirklich schon vorbei? Hatte sie dieses bisschen Glück überhaupt verdient? Caziana versuchte, die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Doch ein kleines Stück blieb irgendwo in den hintersten Winkeln ihres Verstandes hängen.