Der Sturm war also über mich hereingebrochen. Ob meine Larve fiel, wollen sicher einige Leser wissen. Ich kann sagen: Zum Glück nein. Tatsächlich behielten alle, die wussten, wer der eigentliche Urheber des Aufsatzes war, diese Information für sich. Zwar wurde der Aufsatz auch in den offenen Häusern immer wieder gezeigt, vorgelesen und besprochen, allerdings wusste ich mich dann zurück zu halten. Auch hier gab es wilde Spekulationen, die sich auch teilweise auf Abraham Tornow bezogen, allerdings konnte niemand einen Verdacht verifizieren beziehungsweise wurden sie verworfen, da der Stil des Schreibers gänzlich unbekannt war und nicht mit der vermuteten Person und deren jeweiligen Publikationen übereinstimmte. Verleger Reimann hatte sich nach dem ersten
Schock auch schnell erholt und bewusst verschiedene Gerüchte gestreut. Immer wieder hatte er verbreiten lassen, dass Michelle Gilles schon bald einen weiteren Aufsatz veröffentlichen würde. Er habe ihm bereits einen weiteren Entwurf zu treuen Händen gereicht. Das waren alles Lügen, aber sie steigerten kurzzeitig die Auflage, wovon der findige Geschäftsmann zu profitieren wusste. Reimann drängte mich zwar anfänglich dazu, einen weiteren Aufsatz folgen zu lassen, aber dies lehnte ich ab. Nach der Publikation war ich leer, hatte das Gefühl alles gesagt zu haben. Was hätte ich denn noch sagen können, was nicht schon geschrieben wurde? Außerdem wollte ich mich nicht der erhöhten Gefahr aussetzen, doch noch erkannt zu werden. So verlief der Rest der Zeit bis zum Assessorexamen ohne weitere besondere Vorkommnisse. Nach dem Ablegen der
Prüfungen wurde ich, dank der geknüpften Kontakte in den Gesellschaften, als Sekretär bei einem französischen Gesandten angestellt. Ludwig wurde Anwalt und sollte seinen Beruf in der Kanzlei eines Freundes seines Vaters ausüben. Bevor wir unsere jeweiligen Berufe aufnahmen, verblieb uns noch ein wenig Zeit, die wir für eine kleine Lustreise nutzten, die uns die Eltern von Ludwig spendierten. Mit einer deutlich besser gefederten Kutsche, als ich einstmals in dieser Stadt angekommen war, verließen wir sie nunmehr für kurze Zeit. Ziel war ein Kurort im Osten, in der Nähe des Siebengebirges. Berühmt war der Ort, so sagte es mir mein Freund, da sich hier gerne auch illustre Gäste einfanden. Was er damit meinte, war mir zunächst nicht ganz klar. Auf der Fahrt offenbarte er mir schließlich, dass hier gerne Personen verkehrte, die, ähnlich wie die Gäste in den offenen
Häusern, progressivere Vorstellungen von der zukünftigen Gesellschaftsordnung hatten. Eine Gräfin, ohne nennenswerten Einfluss, soll der Gastgeberin des Salons, in den Ludwig mich zuerst eingeführt hatte, sogar das Schwimmen beigebracht haben. Es war ein vergnügliches Bild sich vorzustellen, dass eine Jüdin ganz unbefangen mit einer Gräfin im Wasser planschte. Kaum angekommen erkundeten wir die Kuranlagen. Es war noch Frühling, der aber schon an der Schwelle zum Sommer stand. Die Sonne schien warm und freundlich auf die weitläufigen Gartenanlagen herab, während wir in besonders guten Ausgehröcken geradezu paradierten. Solches Verhalten kannte man sonst nur von den Lustwandlern auf der Paradestraße Unter den Linden. Und wir waren nicht die einzigen Personen, die sich zu einem kleinen Spaziergang entschlossen. Immer wieder sahen
wir Paare lustwandeln, aber auch Familien, wobei die Töchter meist in heiratsfähigem Alter waren, ebenso die Söhne. Ein Schelm, wer hier Hintergedanken vermutete. Zumindest die vitalen jungen Familienmitglieder wirkten nicht so, als dass diese Kurbäder und Trinkkuren mit Heilwasser nötig hätten. „Tornow! Welch eine Freude Euch endlich wieder leibhaftig sehen zu dürfen!“, erschallte eine wohlklingende Stimme hinter uns. „Gräfin von Stollberg!“, antwortete er in der Drehung. „Auch mir ist es ein Fest Euch zu treffen, nachdem wir nach unserem letzten Treffen so viele Briefe gewechselt haben.“ Auch ich erblickte nun eine hochgewachsene Frau mit blonden, glatten Haaren, die mit einer gewissen aristokratischen Strenge uns mit hellblauen Augen musterte. Im Kontrast dazu hatte sie eine geradezu lachende Stimme, mit einem Singsang im Sprechen, dass man glauben konnte, dass sie
die Worte im Gesang vortrug, statt zu sprechen. „Und dies ist euer vorzüglicher Freund von Bühlow, welch Freude einen Abkömmling eines so klangvollen Geschlechts hier begrüßen zu dürfen.“ „Gräfin von Stollberg, ich…“ Sie lachte. „Ach, nicht so steif und förmlich! Hier sind Titel Schall und Rauch. Ich tanzte gestern Walzer mit einem Herrn, der gutes Geld als Reeder gemacht hatte. Kein Titel, kein großer Name, aber ein ausgenommen guter Tänzer. Also zieren Sie sich nicht hier mit anderen verarmten Adeligen und wem auch immer über Gott und die Welt zu sprechen.“ Ich nickte. „Ich werde es beherzigen.“ „Ihr Freund weiß schon, dass hier ganz ungezwungen gesprochen werden kann und noch sehr viel mehr. Wir sehen uns hoffentlich beim geselligen Abend?“ Ludwig machte einen angedeuteten Knicks. „Wie die Gräfin befehlen. Ich werde auf Euren Wink hin überall hin folgen.“ „Spötter!“, versetzte sie ihm wandte sich von uns ab.
Ludwig eröffnete mir, dass er die Gräfin bei dem letzten Aufenthalt der Familie Tornow an diesem Ort kennen gelernt hatte. Seitdem standen die beiden in brieflicher Korrespondenz. Die Gesellschaftliche Unschicklichkeit, dass ein unverheirateter junger Mann, noch dazu konvertierter Jude, mit einer früh verwitweten einen Briefwechsel führte, spornte die Gräfin hierzu erst recht an. Das hatte sie bereits zu Beginn der Korrespondenz klargestellt, die mir Ludwig später in Auszügen zu lesen gab. Ja, die Gräfin hatte nicht gelogen, das kann ich jedem Leser versichern. Tatsächlich mischte sich hier ein buntes Völkchen ganz unterschiedlicher Personen. Nach dem Diner am Abend war das anschließende gesellige Beisammensein auf der großen Terrasse ein
Spektakel. Wer sich hier einfand gehörte in der Tat einem erlesenen und eingeschworenen Zirkel an. Einige Gäste fanden sich bereits seit Jahren hier gemeinsam ein und unterhielten brieflichen Kontakt. Man kannte sich, man wusste, was die anderen dachten. Aus diesem Grunde war es auch möglich besonders frei und ungezwungen zu sprechen. Die Äußerung utopischer, progressiver, sozialistischer und anderer Gedanken war möglich, denn für alle war es ein Spiel und im Grunde ungefährlich, da gerade die Riege an Aristokraten, ebenso wie ich, keinen Einfluss in Positionen geltend machen konnten, die gar die Gefahr eines Staatsstreiches hätte mit sich bringen können. An einem der Abende präsentierte die Gräfin von Stollberg dann meinen Aufsatz aus den Blättern für die gelehrten Stände, der auch fleißig besprochen wurde. Im Gegensatz zum öffentlichen Echo herrschte hier eine geradezu
feierliche Stimmung, in die wir auch einstimmten, um uns keine Blöße zu geben. Trotzdem muss ich zugeben, dass es mir eine Wohltat war, dass es Kreise gab, in denen meine Abhandlung solch eine Zustimmung erhielt. Gar preiste manche der anwesenden Personen den Autoren als genialen Geist, was ich aber den zu dieser Stunde schon alkoholisch erheiterten Gemütern zuschreiben will. Am Rande dieser Gesellschaft hatte sich eine junge Frau mit blassem Teint niedergelassen und dem Vortrag der Gräfin sowie der anschließenden Diskussion mit gesteigerter Anteilnahme gelauscht. Weshalb ich sie im Anschluss ansprach. „Madam, darf ich mich vorstellen? Markus von Bühlow.“ Bei der Erwähnung meines Namens funkelten ihre Augen, was ich zunächst nicht zu deuten vermochte. „Welch Freude, Euch kennen
zu lernen. Ich bin Eva Levi; wäret Ihr so galant, mich ein wenig in den Garten zu begleiten?“ Sie reichte mir ohne Zögern ihre behandschuhte Hand, die ich ergriff. Madam Levi war eine sehr zarte, beinahe elfenhafte Gestalt mit ihren glatten schwarzen Haaren, der weißen Haut und den deshalb scheinbar leuchtenden roten Lippen. Heute würde ich sagen, dass Schneewittchen den Hausmärchen der Gebrüder Grimm an diesem Abend entstiegen sei. Als wir erst schweigend einige Meter von der Terrasse und den anderen entfernt standen, leitete sie mich geschickt hinter eine Hecke, wo uns niemand mehr erblicken konnte. „Ihr werdet Euch fragen, warum ich Euch hierher geleitet habe, nicht wahr?“ Dies musste ich bejahen. „Seht, wie die anderen Personen in wenigen Metern Entfernung, bin ich nicht zum ersten Mal an diesem Ort. Ich unterhalte einen Briefwechsel mit der Gräfin von Stollberg und
auch mit Eurem Freund Tornow. Ich wusste, dass Ihr hier sein werdet und ja, unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit habe ich Eurem Freund abgepresst, wer der Autor des Aufsatzes ist.“ Ich war wie vom Donner gerührt. „Nein, bitte seid nicht wütend. Ich habe Ludwig lang bedrängt, seitdem ich den Artikel zum ersten Mal gelesen habe. Ich kenne Ludwig schon länger, da seine Familie zur selben Zeit konvertierte, wie meine. Deshalb weiß er auch, dass er mir vertrauen kann. Aus Prahlerei schrieb er mir, nachdem ich ihm meine Freude über dieses Werk übersandt hatte, dass er den Autoren vielleicht kennen würde und dann ließ ich nicht locker. Danke, danke Herr von Bühlow.“ Ihre Augen funkelten im Schein einer Laterne wie Smaragde und ich erblickte wahrhaftige Dankbarkeit darin, was mich selbst sehr rührte. „Ich danke Euch, Madam Levi für diesen Dank, der mir mehr wert ist als der tosende Beifall gerade eben auf der Terrasse.
Tatsächlich habe ich Euch angesprochen, weil Ihr dem Vortrag mit solch einer Inbrunst gelauscht habt, wie ich es bisher noch nirgendwo erlebt habe. Aber Eure Worte lassen mich dies nun auch klar sehen.“ Sie gab mir einen kleinen Zettel. „Hierauf findet Ihr meine Adresse. Ich würde mich freuen, wenn Ihr mich nicht vergesst und weiter so Korrespondenz halten.“ Den kleinen Zettel entfaltete ich, nahm die Adresse zur Kenntnis und steckte ihn tief in eine meiner Taschen, wie ein wertvolles Kleinod, welches ich niemals verlieren durfte. „Ich werde mich bemühen, aber sonderlich geübt bin ich nicht darin, weshalb Ihr mir manche Ungelenkheit werdet verzeihen müssen.“ „Übung macht den Meister! Und jetzt kommt, sonst vermissen die anderen uns noch.“ Sie reichte mir ihren Arm, den ich vorsichtig ergriff und so schritten wir zurück zu den
anderen.
Die weiteren Tage dieser Kur vergingen, wie auch dieser Tag, mit vielen angeregten Gesprächen, dem Schließen von Kontakten und der Freude über die geistige Freiheit, die an diesem Ort herrschte. Daher kehrten wir beide in die Hauptstadt mit vielen erhabenen Gedanken im Gepäck zurück und ich zudem mit dem wichtigsten Schatz: Der Adresse von Eva Levi.