Unter dem Eindruck der letzten beschriebenen Szene nahm ich am kommenden Morgen sofort alle Fragmente zur Hand, die ich bis dahin gesammelt hatte. Manchmal war es lediglich ein kleiner Absatz von wenigen Sätzen, Notizen über Ausschnitte aus Büchern, die ich verwenden wollte und manchmal war es der Entwurf einer Struktur des Aufsatzes. Bis zur Mittagsstunde verbrachte ich damit, alles zu lesen und hierbei schuf ich mir ein System, indem ich die einzelnen Blätter mit Zahlen versah und sie so in die gedachte Struktur des Aufsatzes einfügte, wie Teile eines Mosaiks, in welches ich die kleinen Steinchen setzte. Bis zum Abend hatte ich dann alles zusammengeschrieben und hielt erstmalig eine komplette Fassung meiner bisherigen Gedanken, gefasst in einen Text, in meinen Händen. Vieles
erschien mir manierlich und gut gelungen, aber einige Passagen erschienen mir doch recht naiv und apodiktisch gefasst. Wiederum gab es Abschnitte, in denen ich mich über Dinge weitschweifig ausließ, die heute keiner Diskussion mehr bedurften, zumindest aus meiner Sicht. Voller Tatendrang machte ich mich an den folgenden Tagen daran den Text zu verfeinern. Der Tenor war eindeutig und ich bemühte mich nach Leibeskräften ihn pointiert hervorzuheben. Der Gedanke einer jüdischen Rasse, einer jüdischen Denkungsart war irrig. Es gab nur Menschen, wie sie nun einmal waren. Der Staat muss sich bemühen, diese zu freiheitlich denkenden Bürgern zu erziehen, zu guten Gliedern des Staates und es war nicht einsichtig, weshalb Juden dies nicht ebenso gut sein konnten wie Christen. Zudem stimmten die Grundsätze der jüdischen Religion auch mit der
Vernunft überein, wie die der christlichen Lehre. Insofern war es auch nicht einsichtig, weshalb die Riten verboten werden sollten oder gar die Konversion erforderlich sei. Eine komplette rechtliche Gleichstellung ohne jegliche Einschränkung sei daher zwingend anzustreben. Es mochten zwei Wochen ins Land gezogen sein, genau kann ich es nicht mehr sagen, da glaubte ich endlich eine zufriedenstellende Fassung in Händen halten zu können. In dieser Zeit hatte ich die sonstigen geselligen Unternehmungen eingestellt. Weder begleitete ich Ludwig in die offenen Gesellschaften, noch schloss ich mich einer Kutschfahrt ins Umland an, die meine Gastfamilie an einem sonnigen Samstag unternahm. Selbst meine Lektionen in Französisch nahm ich nur halbherzig nach der Pflicht war. Das verwirrte Sophie und scheinbar auch den Rest der Familie, da Sophie
ungewöhnlich oft des Abends in meine Kammer stieg, um mit mir zu sprechen. Unter normalen Umständen hätte mich dies außerordentlich gefreut, aber ich war wie betrunken von dem Gedanken, den Aufsatz zu beenden. Und so kam es schließlich, dass meine Freundin mich dazu aufforderte, den Grund meines seltsamen Verhaltens zu offenbaren. „Was ist das, was dich so sehr bindet, dass du dich hier oben verkriechst?“ „Ich schreibe einen Aufsatz, mehr ist es nicht.“ Fragend sah sie mich an. „Einen Aufsatz? Willst du jetzt ein Schriftsteller werden?“, fragte sie mit einem unverhohlenen Interesse in der Stimme. „Nun, das freilich nicht. Aber ich denke, es könnte ein wenig Aufmerksamkeit erregen.“ Das machte sie noch neugieriger. „So so! Und was ist das Thema dieses bedeutenden Aufsatzes?“ „Die rechtliche Gleichberechtigung der Juden“, war meine Antwort, die schneller ausgesprochen
war, als ich nachdenken konnte. Wovor hatte ich mich denn auch zu maskieren? „Das treibst du also bei Denen“, erhielt ich zur Antwort, die deutlich kälter ausfiel, als ich es erwartet hatte. „Wie meinst du das? Wen meinst du mit Denen?“ Sophie stemmte die Hände in die Seiten. „Deine Judenfreunde, bei denen zu ständig bist. Die haben dir das wohl beigebracht. Vater werde ich hiervon nichts erzählen, weil du mein Freund bist, aber lass so etwas nie gegenüber ihm oder meiner Mutter fallen, wenn du nicht mit Schimpf und Schande aus deiner Kammer vertrieben werden willst. Und deine Zettel solltest du im Ofen verbrennen, damit sie nicht in die falschen Hände fallen.“ In diesem Moment wusste ich nicht recht, was ich sagen sollte. „Ja, aber…bist du denn nicht auch dafür…?“, fragte ich zaghaft. „Höre mir zu, Markus! Solange die Juden nicht an unseren Erlöser Jesus Christus glauben und von ihren fehlgeleiteten
Gebräuchen absehen, so werden sie niemals Deutsche werden und sind folglich auch nicht wie solche zu behandeln. Vater ist der Auffassung und ich finde, er hat Recht. Auch Mutter stimmt ihm da zu, denn die Juden haben Jesus getötet und sind trotz der Bemühungen großer Männer wie Doktor Martin Luther immer noch so verstockt, als zu Zeiten Christi. Hüte dich vor den Anhängern des Buchstabens, denn wie schreibt der Apostel Paulus im zweiten Korintherbrief: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ Ich verbrachte den restlichen Abend, nachdem Sophie gegangen war, zunächst in starrer Bewegungslosigkeit. Ich weiß es noch wie heute und spüre die Leere, die mich ergriff gerade jetzt wieder. Viele Stunden, die ich mit ihr zuvor verbracht hatte stehen mir nicht mehr vor dem geistigen Auge. Ich weiß nur, dass ich ein herzliches Gefühl mit diesen Mußestunden
verbinde. Aber diese Szene war ein Schlag von solcher Wucht, dass sie eine Zäsur bildete. Nie wieder würde ich Sophie so sehen können, wie zuvor. Auch sie war infiziert vom Gift des Judenhasses. Man hätte meinen können, dass eine vielbelesene junge Dame wie sie es war, anders denken würde. Doch was zagte und zögerte ich da vor mich hin? War es denn nicht so, dass ich auch in den offenen Häusern Menschen von Bildung und hohem Stand antraf, die ebenso dachten und sprachen? Ich wusste es schon früh, dass dieses Gift alle befällt, die es freudig trinken. Und es macht sie alle gleich, ob Mann oder Frau, ob Universitätsprofessor oder Bauersmann, alle sind sie vereint in ihrem Hass gegen alles, was sie für jüdisch halten. Nachdem ich mich in diese düstere Erkenntnis geflüchtet hatte, war ich auch wieder bereit tätig zu handeln. Mochte Sophie Juden hassen, aber ich war ihr Freund, weshalb der Hinweis
auf das Verbrennen meiner Skizzenblätter dankbar angenommen wurde. In dieser Nacht vernichtete ich alle Entwürfe bis auf das einzige Exemplar der damaligen Endfassung sowie jegliche noch so geringe Notiz, die darauf hindeuten könnte, was ich hier die letzten Tage getrieben hatte. Die übrig gebliebenen Bögen versteckte ich in meiner Tasche. Bereits am Folgetag war ich bei Familie Tornow eingeladen, sodass ich dieser die Frucht meiner Arbeit zur Durchsicht und Verwahrung überließ. Abraham Tornow war es, der ausführliche Anmerkungen verfasste, die ich kurzerhand einfließen ließ, nachdem diese ganz offen bei Tisch mit der gesamten Familie besprochen wurden. Es war Ludwig, der meinen Aufsatz vorgelesen hatte, woran sich dann die angeregte Diskussion anschloss. Und wie in einem Fieberrausch ließ man den Verleger Reimann ins Haus kommen, damit dieser ihn für die Blätter für die gebildeten Stände aufbereitete.
Vornehmlich kürzte er ein paar Stellen ein, um das Format seines monatlich erscheinenden Periodikums einhalten zu können. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass Reimann mir zu einem Pseudonym riet. Ich wählte Michelle Gilles, Nachfahre von geflüchteten Hugenotten. Möglichst unauffällig, ohne Adelstitel, damit niemand Nachforschungen anstellen und keine Verbindung zu mir hergestellt werden konnte. Mir war durchaus bewusst, dass ich ein Vabanquespiel einging. Wenn mein Pseudonym aufgedeckt werden würde durfte ich damit rechnen, dass meine Karriere in diesen Landen vorbei war, bevor sie auch nur begonnen hatte. Beamte wie Sophies Vater gab es in so großer Zahl, dass man mich wohl kleinhalten würde, soweit dies möglich war. Aber alles bisher Erlebte waren mir Ansporn genug das Wagnis einzugehen. Was dann folgte? Kaum war die Ausgabe im
Herbst veröffentlicht, war nicht nur das Wetter ungemütlich, welches über die Hauptstadt hereinbrach. Entgegen der üblichen Praxis ließ ich mir kein Exemplar der Ausgabe zukommen lassen. Dies stellte sich durchaus als weise Entscheidung heraus, wenn ich auf die anschließenden Wochen zurückblicke, denn der Aufsatz löste ein Echo aus, welches ich in dieser Form nicht erwartet hatte. Zustimmung erhielt der Aufsatz von wenigen Seiten. Selbst diejenigen, die lobende Worte fanden, waren doch nicht damit einverstanden, dass eine radikale Forderung nach Gleichberechtigung ohne Entgegenkommen von jüdischer Seite postuliert wurde. Und Gegenwind erhielt ich in einem Maße, dass ich geradezu frohlockend die Entscheidung beglückwünschte, Zuflucht hinter einem falschen Namen gesucht zu haben. Vielmals wurde mir vorgeworfen, das Christentum nicht
verstanden zu haben oder die Juden in ihrem Wesen nicht zu kennen, oder beides. Mancher Rezensent stellte wilde Spekulationen über mich an, dass ich selbst ein Jude sein müsse oder gar ein Atheist oder Spinozist, was selbst in diesen Jahren noch als eine kluge Form der Denunziation galt. Auch der französische Name meines Pseudonyms war oft ein Grund für schriftliche Attacken. Dass man von einem schäbigen Franzmann nichts anderes erwarten könne, war zwar die deutlichste Form des Ausdrucks des eigenen Nationalismus, aber in subtilerer Form bezeichneten sich nicht wenige Rezensenten als teutsche Patrioten. Entgegengehalten wurde mir inhaltlich, dass Juden einer umfassenden Erziehung bedürften, wenn sie Deutsche werden wollten und die Taufe ein notwendiges Erfordernis sei, welches ich ja geleugnet hatte. Auch das Pauluszitat, welches Sophie mir benannt hatte, konnte man oft lesen. Auch Reimann wurde angefeindet, er
sei selbst ein Jude, wenn er solche Schriften verbreite. Er solle anständige Dinge abdrucken. Manch Übermütiger sprach ihm gar ab, wahren teutschen Volksgeist im Leibe zu haben. Mein Verleger nahm dies gefasst zur Kenntnis, denn die Kontroverse steigerte die Zahl der verkauften Exemplare erheblich.