Liesmichkurz
Es war einmal ein armes, kleines Büchlein, das lebte einfach und bescheiden in einer alten, verstaubten Bibliothek, irgendwo am Rande des Analphabetenkontinentes.
Das Büchlein war gerade sechs Jahre alt, und ziemlich dünn, denn seine Eltern waren bettelarm, da sie so gut wie nie gelesen wurden, und wenn, dann nur ein paar Sätze, und schon standen sie wieder im Regal. Das kam daher, dass der Vater von Liesmichkurz ein bereits vergilbtes Lexikon war, Teil einer
Enzyklopädie, Band x-z. Die Mutter war etwas besser dran: Sie war ein Kochbuch für polynesische Küche - sie konnte wenigstens kochen, wenn denn mal was zu Essen da gewesen wäre.
Mehr schlecht als recht, konnten die Beiden ihr gemeinsames Kind durchbringen, welches sie über alles in der Welt liebten. Um ihm den Start ins Leben zu erleichtern hatten sie ihm den vielversprechenden Namen: 'Liesmichkurz' gegeben, der sollte die Neugier der Leser wecken, die ja meist in Eile waren, und wenig Zeit hatten um sich längeren
Geschichten zu widmen.
Liesmichkurz's Seiten waren noch rein, weiß und leer. Sie war ja noch ein Buchkind (nicht zu verwechseln mit einem Kinderbuch!)
Ihre Aufgabe war es, (LMK ist ein Mädchen) sich ihren Buch- und Lebensinhalt zu erträumen. Hatte sie dies getan, und ein Leser griff nach ihr (sehr unwahrscheinlich: Sie stand im hintersten Regal, ganz in der letzten Ecke, so weit oben, dass man eine Leiter brauchte um sie zu erreichen) dann würden durch die geheime Buchmagie, welche allen Büchern innewohnt,
die erträumten Buchstaben, Wörter, Sätze, Kapitel usw. so flink auf dem Papier erscheinen, dass der Leser gar nicht merken würde, dass diese zuvor gar nicht dagewesen waren.
Die Reise
Liesmichkurz war ein anständiges und fleissiges Buchmädchen und sie wollte es ihren geplagten Eltern unbedingt recht machen, damit sie sehr stolz auf sie sein würden. Zudem sollten sie auf ihre alten Tage nicht mehr arm und hungrig, verstaubt und unbeachtet sein müssen, denn sie, Liesmichkurz, würde ein Bestseller werden, mit so vielen Lesern, dass sie davon für ihre Eltern eine eigene Vitrine in einem berühmten Buchmuseum kaufen konnte, wo sie tagtäglich bewundert würden.
So träumte es sich Liesmichkurz zurecht. Aber das nützte nichts. Denn einfach nur zu träumen, man wäre ein Bestseller lässt für den Leser höchtens das Wort 'Bestseller' auf der ersten Seite erscheinen, und sonst nichts. Das wäre ziemlich langweilig.
Nein - der kleinen Liesmichkurz musste etwas Besseres einfallen, etwas vieeeeeeeel megaviel Besseres. Eine richtige spannende, lustige, kurzweilige und emotional mitreissende Geschichte - am Besten... Hmmmm...
Liesmichkurz überlegte und überlegte, aber ihr wollte nicht einmal die Kategorie einfallen: Sollte es ein Krimi werden, oder vielleicht eine Geistergeschichte (die mochte Liesmichkurz selber ziemlich gerne, auch wenn sie danach meist lange nicht einschlafen konnte), oder möglicherweise zu Ehren ihrer lieben Mutti ein Kochbuch? Diesen Gedanken verwarf sie schnell, Kochbücher waren meist dick und mollig wie ihre Mutti und sie war ja recht schmal und hatte zudem diesen eindeutigen Namen.
Außerdem, brachte (so ungern sie
auch daran dachte, aber bei aller Träumerei war sie doch zur Hälfte Realistin) dieser Beruf ganz offensichtlich nicht viel ein. Es wurde immer nur ein Rezept gelesen, und dann stand man wieder Jahre lang auf dem Regalbrett eingeklemmt und wartete geduldig auf den nächsten Leser.
Nein, nein - das war nichts für Liesmichkurz, so gerne sie auch ihrer Mutti nachgefolgt wäre, aber dazu war sie viel zu temperamentvoll und ungeduldig und überhaupt, sie wollte ja nun mal mehr erreichen, als ihre Eltern,
so sehr sie diese auch liebte und vereehrte.
Aber woher sollte sie wissen, wer sie wirklich war und wozu sie taugte, wenn sie von der Welt noch nicht mehr gesehen hatte, als die dunkle Ecke einer verstaubten Bibliothek? Woher sollten Träume und Geschichten kommen, wenn sie selber noch nicht mehr erlebt hatte, als schlurfenden Gestalten zuzusehen, die mit gedämpften Schritten unter den Regalen wandelten und ab und zu ein paar sinnlose Satzfetzen vor sich hin murmelten, wie: "Muss hier
irgendwo sein...", oder "Nein, das kenn' ich schon..."
Natürlich war sich Liesmichkurz durchaus bewusst darüber, dass anständige Buchmädchen brav in ihren Regalen stramm stehen und ihre Buchdeckel zusammenkneifen, und auf gar keinen Fall versuchen, hinaus in die weite Welt zu laufen.
Aber was half es? Sie hatte es sich nunmal in den Kopf gesetzt, berühmt zu werden, und ihre Eltern satt und glücklich zu machen, da war nix zu machen, das ging so nicht, eingeklemmt zwischen spröden Lexika und mit
zusammengekniffenen Buchdeckeln. Anständiges Mädchen hin oder her: Da musste jetzt etwas passieren!
Liesmichkurz lag eine Woche lang sprungbereit auf der Lauer, bis sich eine Gelegenheit ergab: Ein Besucher lief zufällig (er hatte sich verirrt) unter ihrem Regal durch, einen Bücherkorb in der Hand, in dem schon ein paar ausgewählte Romane und Krimis lagen. Das Buchmädchen spannte Karton und Papier zum Äussersten an und sprang von ganz oben direkt in den Bücherkorb hinein. "Pardauz!", da lag sie, und sofort begannen die
unter ihr zu liegen gekommenen renommierten gebundenen Ausgaben das schmächtige Taschenbüchlein auszuschimpfen. Sie hatte ihnen einen ganz schönen Schreck eingejagt, auch wenn (wie sie aber fälschlicherweise behaupteten) niemand von Ihnen dadurch auch nur einen Kratzer auf ihren Hochglanz-Schutzumschlägen davon getragen hatte.
Liesmichkurz versteckte sich rasch ganz ganz unten im Korb, was auch gut war, denn auch der Träger des Korbes hatte das Ruckeln beim Aufprall des Büchleins bemerkt und
hätte es sicher gefunden und wieder zurückgestellt, wenn es sich nicht so geschickt vor ihm verborgen hätte. Aber nun schaukelte es als blinder Passagier mit den anderen Büchern zusammen dem Ausgang entgegen, wo die Bücher mit einem Scanner eingelesen wurden zusammen mit dem Leserausweis des Besuchers.
"Oh Weh!" Spätestens hier würde man die Kleine finden - darüber hatte sie bei ihrem Fluchtplan nicht nachgedacht, konnte sie doch von ganz hinten nicht bis zum Ausgang sehen, und wusste daher nicht, was
mit den Büchern passierte, die die Regale verliessen und mitgenommen wurden. Ihre Eltern waren schweigsam und hatten nie darüber geredet, und Liesmichkurz hatte nicht nachgefragt, weil sie schon immer froh war, wenn sie nach einer Woche wieder zurück kamen, und sie dann immer sehr erschöpft und angestrengt aussahen.
Liesmichkurz weinte leise in sich hinein, denn ihr fiel auf die Schnelle keine Lösung ein. Doch ein gemütlicher, dicker Wälzer - ein gefühlvoller Liebesroman - hatte
Mitleid mit dem armen Mädchen, das noch nicht wusste, wer sie war, und noch nichts von der Welt gesehen hatte: Es klappte seinen Buchdeckel auf, wie einen schützenden Arm und legte ihn um das Mädchen, so dass dieses nun in ihm zu liegen kam. Liesmichkurz war überrascht und hocherfreut, dass ihm nun doch jemand gut war, bedankte sich leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und machte sich noch dünner, als sie jemals gewesen war - wie ein einziges Blatt Papier wollte sie in diesem Augenblick sein, um nur nicht von der gewissenhaften
Bibliothekarin mit der Nickelbrille entdeckt zu werden.
Liesmichkurz hielt den Atem an, der Scanner surrte über ihren Retter hinweg, er wurde weiter geschoben, landete in einem Rucksack, niemand hatte ihre Anwesenheit bemerkt, und sie war auch nicht heraus gefallen.
Nun würde alles gut werden...
Selbstverwirklichung
Nun - Lieber Leser, zunächst möchte ich Dir danken, dass Du bis zu dieser Seite vorgedrungen bist: Du hast damit ein armes, kleines Buchmädchen und seine treusorgenden Eltern sehr sehr glücklich gemacht! Vielen Dank dafür!
Nun möchtest Du sicher wissen, wie es weiter geht, was die kleine Liesmichkurz draussen in der weiten, weiten Welt erlebt hat, wie sie ihre Träume und ihre Lebensgeschichte, ihren Lebens-buch-inhalt kennengelernt hat, und
natürlich wie sie dann tatsächlich doch noch zur jüngsten Bestsellerin unter den Buchmädchen wurde, zu ihren Eltern heimkehrte und sie aus der verstaubten Ecke befreite...
Das Alles und noch viel mehr, willst Du sicher erfahren und das ist ja auch Dein gutes Recht!
Aber bedenke doch bitte, dass diese mächtige und füllige Geschichte, niemals in das kleine Büchlein 'Liesmichkurz' hinein passen würde. Es würde aus allen Nähten platzen und könnte dennoch nur einen geringen Teil all dessen, was geschehen ist aufzeichnen und wieder geben.
Nein! Es wäre ja auch respektlos gegenüber Dir, lieber Leser, anzunehmen Du hättest nicht genug Fantasie um Dir selbst das in allen Farben auszumalen, vorzustellen, ja mit dem vorwitzigen und wagemutigen Buchmädchen mitzuerleben, als wäre es Dein eigenes Leben. Sicher kannst Du das, sonst wärst Du ja kein Leser geworden, sondern vielleicht ein Buch, wie Liesmichkurz.
Da sie ein Buch ist - vielmehr ein Büchlein - macht sie genau das Umgekehrte: Sie erlebt eine ganz wunderbare, spannende usw. (wurde am Anfang ja schon
erwähnt) Geschichte, nämlich ihre Eigene, und wandelt sie in sich drin in Traumbuchstaben um, Wörter und Sätze, die dann ein Leser wie Du wieder in Erlebtes zurück verwandeln kann. Man nennt das die umgekehrte Fantasie, oder auch Eisatnaf.
Aber ganz alleine lassen wird Liesmichkurz Dich, lieber Leser, dann doch nicht - keine Angst!
Hier ihre komprimierte Eisatnaf:
Es war einmal ein Buch...
es wagte den Versuch,
zu reisen in die Welt
ohne Beine, ohne Geld
Es kam zu einem Mann
und flüchtete sodann
in einer Limousin'
fuhr es dann quer durch Wien
fiel aus dem Auto raus
kam in ein reiches Haus
zu einem Kommissar
der ein Veganer war
Er spielte gerne Karten
mit geläuterten Piraten
so kam es auf ein Schiff,
das zerbarst an einem Riff
Doch macht Euch keine Sorgen:
Das Schiff es wurd' geborgen
zusammen mit 'nem Schatz
und 'ner einäugigen Katz.
Die Katze fuhr zur See
und sang: "Aloha Ee!"
Sie konnte flüssig dichten
kannt' viele See-Geschichten
Das Büchlein hat gelauscht
der Wind hat es gebauscht
und in die Luft gehoben,
so ist es weg geflogen
Es flog bis nach Amerika,
wo es bei den Indianern war
in L.A. und beim Rodeo
in Hollywood auf Video
im Raumschiff flog es bis zum Mond
und damit sich diese Reise lohnnt
gleich noch viel weiter bis zum Mars
doch das wars
Es musste wieder zur Erd' zurück
und das war schließlich auch sein Glück
denn nach so vielen Abenteuern
tat es auf einem Kahn anheuern
denn es wollt in sein Heimatland
nur dass am Bug 'Titanic' stand
Vier Cocktails und ein Eisberg
später
funkte es "S.O.S. -Buch" in den Äther
Nach spektakulärer Rettung
lag es nur wochenlang im Bett 'rum
mit einer schweren Buchleim-Grippe
dem Tod sprang's grad' noch von der Schippe
Vom Präsidenten sehr geehrt
ist es dann schliesslich heimgekehrt
hat seine Eltern reich gemacht
sie hab'n vor Glück nur noch gelacht
Ihr kleines Mädchen war nun groß
sehr selbstbewusst und ganz famos
und auf der ganzen Welt bekannt
gelesen in fast jedem Land
Sie selber wurden auch bekannt,
als Eltern an des Kindes Hand
verliessen sie des Staubes Haus
und nun ist die Geschichte aus.
Wem diese jedoch hat gefallen,
der erzähle sie gleich weiter allen
und wenn sie nicht gestorben sind
gibts irgendwo ein Bücherkind
das für die Leser alles tut,
sich selbst begreift, nicht eher ruht,
bis es sich füllt mit Eisatnaf:
Nun ist's voll Glück, der Leser baff!