ZWEI Am nächsten Morgen erwachte ich mit bohrenden Kopfschmerzen, dem Gefühl, dass die sieben Zwerge mit schlammigen Stiefeln über meine Zunge gelatscht waren - und dem Lauf meiner eigenen Kanone an der Schläfe. „Eine falsche Bewegung, Mistkerl, und ich puste dir das Gehirn aus dem Schädel“, sagte eine Stimme, die ich unter anderen Umständen wohl als sympathisch empfunden hätte. „Ihnen auch einen guten Morgen“, versuchte ich die Situation zu entschärfen. „Und seien
Sie mit der Knarre vorsichtig, ich bin nämlich Bluter.“ Jean Harlow, nun offensichtlich wieder Herr (oder besser: Frau) ihrer Sinne, schnaubte verächtlich und zog den Hahn der Stupsnase nach hinten, was ihrem Auftritt eine gewisse negative Dynamik verlieh. „Wo bin ich hier, und wer zum Teufel sind Sie?“ „Ich heiße Chick Overath, also eigentlich Karl, aber alle nennen mich Chick, und das hier ist meine Wohnung.“ „Overath?“ „Ja, wie der Fußballspieler.“ „Nie gehört.“ „Weltmeisterschaft 1974?“ „Gab es da schon fließend
Strom?“ „Sogar Bälle und Eckfahnen. – Wollen Sie die Knarre nicht lieber irgendwo hinlegen, wo sie keinen Schaden anrichten kann? Dann werde ich in aller Ruhe erklären, was passiert ist.“ „Ich kann mir schon vorstellen, was passiert ist. Haben Sie mich abgeschleppt?“ „Ja. Allerdings, das habe ich. Aber nicht so, wie Sie denken.“ Sie holte aus und wischte mir mit dem Lauf über die Stirn, nicht wirklich hart, aber doch so, dass mein Kopf zur Seite flog und eine Risswunde abbekam. Ich schüttelte mich, zog ein nicht sehr reinliches Taschentuch aus meiner Pyjamahose und drückte es auf die blutende Stelle. „Das war verdammt nochmal nicht sehr
freundlich, angesichts dessen, was ich alles für Sie getan habe!“ „Sie leiden wohl an Größenwahn, oder? Das, was Sie getan haben, nennt ein Jurist Vergewaltigung. Oder ist es nur ein dummer Zufall, dass ich mein Kleid nicht mehr trage?“ „Verdammt!“ Ich rappelte mich hoch, scheiß auf die Kanone. „Den Fummel haben Sie heute Nacht selbst noch abgestreift.“ „Natürlich. Und Harvey Epstein wird Mutter Oberin im Kloster der Heiligen Sharon Stone. Das können Sie doch selbst nicht ernsthaft glauben.“ Ich nahm ihr Kleid aus Ziegenmilch und hielt es so, dass sie dessen Morphologie eingehend betrachten konnte. „Das Ding ist ein verdammter gordischer
Knoten. Ich hätte eine Gebrauchsanleitung aus dem Internet herunterladen müssen, um all die Haken, Ösen, Knöpfe, Schlaufen und Schleifen aufzubekommen.“ Zum ersten Mal bemerkte ich so etwas wie Unsicherheit auf ihrem Gesicht. „Wird ja gelegentlich vorkommen, dass Sie ‘ne Dame entblättern.“ „Kann schon sein. Das geht Sie aber einen feuchten Kehricht an. Und in meiner Generation haben die Mädels noch ihre Büstenhalter auf dem Altar der Emanzipation verbrannt, und nicht diese Push-Up-Dinger getragen!“ „Hey, mal ganz vorsichtig, Opa. Das ist alles Natur, verstehste?“ „Wenn Sie das sagen. Aber Sie schulden mir
trotzdem die Hälfte vom Taxigeld, und außerdem ist die Knarre, mit der Sie da so großspurig rumwedeln, nicht mal geladen.“ „Was?“ Ich zog eine Schublade aus meinem Schreibtisch und zeigte ihr die Zigarrenschachtel mit der Munition. „Nun geben Sie das Ding schon her, bevor es Ihnen noch auf den Fuß fällt.“ Sie tat, wie ihr geheißen, ich nahm die Knarre, ließ die Trommel rausspringen und zuppelte die Kugeln raus. „Sie war ja doch geladen!“ „Na klar. Wozu hat man einen Schießprügel im Haus, wenn man im Notfall nicht damit schießen kann?“ „Sie verdammter
…“ „Überlassen Sie das Fluchen mir, davon verstehe ich deutlich mehr. Und ziehen Sie bitte ihr Kleid wieder an. Ich mag ja nach Ihren Maßstäben alt wie Methusalem sein, aber ich bin weder blind noch tot!“ Zehn Minuten später waren wir beide einigermaßen schicklich angezogen, sie etwas weniger als ich, und vor ihr auf dem Schreibtisch dampfte ein Pott mit Kaffee, auf dem stand: LET’S HAVE SOME MUSIC IN HERE, BOILER, was ein Zitat aus dem Film Dark Star von John Carpenter war. Aber woher sollte sie das wissen, zu der Zeit konnte sie noch nicht mal ein verwegenes Glimmen im Auge ihres Erzeugers gewesen sein. Der
Pott war übrigens ein Sammlerstück, das ich im Internet gut und gern für den Gegenwert wollener Pulswärmer oder eines nordkoreanischen Kleinwagens hätte verkaufen können. „Haben Sie keinen Latte Macchiato“, murrte sie und stülpte die Lippen nach vorn, eine vermutlich halbbewusste Angewohnheit, die ihre Wirkung auf fortpflanzungswillige Männer selten verfehlte. „Hätte ich, Lady, aber meine Assistentin, die dumme Nuss, hat wieder vergessen, Nashornmilch zu besorgen. Ich fürchte, ich werde sie doch feuern müssen.“ „Sie haben einen Humor, der war schon angestaubt als Helmut Kohl noch Kanzler gewesen ist“, entgegnete sie, probierte
zimperlich den Kaffee und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ja, mag schon sein. Wollen Sie jetzt hören, wo und wann Sie mir heute Nacht zugelaufen sind?“ „Bin ganz Ohr, Bro.“ „Bro?“ „Egal.“ „Ich saß gestern noch sehr spät, oder, wenn Sie so wollen, ziemlich früh, bei meinem Freund Dimitrios in dessen Lokal Damokles‘ Schwert, als ein Taxi vor der Tür hielt und Sie Minuten später hereingeschneit kamen, dicht wie hundert Krabbenfischer und außerstande etwas anderes zu tun, als sich hinzulegen und zu schlafen. Da Sie nichts bei sich hatten, keinen Ausweis, keinen Führerschein oder
etwas anderes, womit wir Ihre Identität überprüfen konnten, und wir außerdem der Meinung waren, dass ein so junges Ding nicht in eine Ausnüchterungszelle gehört, haben wir Streichhölzer gezogen. Ich habe verloren.“ Sie schlug die Beine übereinander, legte die ansonsten kindlich-glatte Stirn in Falten und murmelte: „Das ergibt alles keinen Sinn …“ „Tja, das hat schon manch‘ junges Mädchen am nächsten Morgen gesagt, aber genau so war es.“ „Ich meine nicht ihre Geschichte. Ich meine, dass ich vollgewesen sein soll. An dem Abend sind wir in Harry’s Bar gewesen und haben den Junggesellenabschied meiner besten Freundin Kathy gefeiert …“ „Dann ergibt das für mich durchaus einen
Sinn!“ „Nein, hören Sie mir zu. Ich habe, wenn’s hochkommt, zwei, vielleicht drei Gläser Schampus getrunken. Ich mag keinen Alkohol. Außerdem bekommt man davon Heißhunger, schlingt alles Mögliche in sich rein und wird tierisch fett. Ich glaube …“ „Ja?“ „Ich glaube, mir hat jemand was ins Glas getan!“ „Mit tödlicher Sicherheit. Einen Drink vermutlich.“ „Nein, k.-o.-Tropfen oder sowas. Das würde auch erklären, warum ich hinterher vollständig weggetreten war und mich an nichts mehr erinnern kann.“ „Und aus welchem Grund haben sich Ihre
Freundinnen bei dem Junggesellinnenabschied dann nicht um Sie gekümmert? Wäre das nicht die naheliegende Vorgehensweise gewesen? Oder ist das in Ihren Kreisen nicht üblich?“ Sie pfefferte den Pott auf den Schreibtisch, dass meine Sammlung historischer Strafzettel mit Kaffee besprenkelt wurde. „Ich weiß, Sie halten mich für eine höhere Tochter oder sowas, aber alles, was ich bin, habe ich mir selbst hart erarbeitet, also verkneifen Sie sich Ihre dummen Sprüche.“ „Was sind Sie denn von Beruf?“ „Ich bin Model. Und außerdem Influencerin. Was machen Sie?“ „Ich war mal Bulle.“ „Und
heute?“ „Habe ich im Zirkus eine Nummer mit tanzenden Krokodilen.“ Sie verdrehte die Augen. „Okay, schon gut. Aber die Wirklichkeit ist genauso schwer zu ertragen. Ich habe eine kleine Detektei. Entlaufene Hunde und Ehefrauen, in der Reihenfolge, außerdem Kerle, die mal eben Zigaretten holen wollten, sowas in der Preislage.“ „Ach deshalb. Ihre Wohnung sieht – will mal sagen, sehr männlich aus.“ „Ungelogen? Ich finde, sie ist ein Saustall.“ „Jetzt, da Sie es erwähnen, stimmt. Ein echter Saustall.“ „Wollen Sie für den Cognac auf dem Kanapee Platz nehmen,
Gräfin?“ „Wenn Sie etwas haben, um die Polster abzuwischen, gern. – Aber mal im Ernst. Etwas ist gestern vorgefallen, ich weiß nur nicht mehr, was. Um welche Zeit, bin ich in dieses, in dieses …“ „Damokles‘ Schwert.“ „Ja genau, in dieses Damokles‘ Schwert gekommen?“ „Das muss so gegen drei gewesen sein.“ Sie schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Und meine Erinnerung fehlt ungefähr seit halb acht bis zu dem Zeitpunkt, da ich auf Ihrer selten unbequemen Luftmatratze erwacht bin. Was also ist in der Zwischenzeit
geschehen?“ „Vielleicht möchten Sie das gar nicht wissen.“ „Nein, nein, nein, ich muss das wissen. Unbedingt. Ich glaube nämlich, dass es außerordentlich wichtig ist.“ „Für wen?“ „Für mich, für jemand anderes, keine Ahnung.“ „Dann rufen Sie doch Ihre Freundinnen an, die können vermutlich helfen.“ „Ja, richtig.“ Sie stockte. „Wo sind denn meine ganzen Sachen? Mein Mantel, meine Handtasche, mein Handy?“ „Das haben Dimitrios und ich uns heute Nacht auch gefragt. Sie sind nämlich nur mit dem reingekommen, was Sie jetzt noch am Leibe tragen.“ „Das gibt’s doch
nicht!“ „Wollen Sie meine Wohnung durchsuchen?“ „Nein, natürlich nicht. Was sollten Sie schon mit einem Mantel von Amelie Poupée anfangen.“ „Ihn tragen“, schlug ich vor. „Mein Therapeut hat mir empfohlen, meiner weiblichen Seite mehr Raum zu geben.“ „Ach, Sie sind ein Idiot. Haben Sie wenigstens ein Mobile, oder doch noch ein Bakelit-Telefon mit Wählscheibe?“ Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche und reichte es ihr. Sie stieß einen Pfiff aus. „Sieh an. Die Suche nach entlaufenen Kleintieren und Ehefrauen scheint deutlich mehr einzubringen, als ich vermutet hätte.“
HarryAltona Ach je, es sind ja immer die Frauen die Maääner in Schwierigkeiten bringen. Hätte ich fast vergessen. lg... harryaltona |