Geschrieben hatte ich ja bereits, dass ich es durchaus befremdlich fand, wie viele meiner Zeitgenossen einen regelrechten Hass auf die Juden hatten. Oft fragte ich mich, ob diese jemals einen solchen zu Gesicht bekommen hatten. Manchmal hörte ich die Forderung, dass die Juden sich gefälligst markieren sollten, wie es zu früheren Zeiten Sitte gewesen war. Man würde sie ja gar nicht mehr erkennen, die Spitzbuben, gerade dann, wenn sie nicht mehr jiddisch sprachen, wie es bei Mendelsohn der Fall gewesen war. Kurz vor dem 2. Staatsexamen, welches meine Zeit an der Universität beschloss, trat ein Kommilitone an mich heran. Ich kannte ihn flüchtig aber oft bemerkte ich, dass er sich von denen separierte, die gegen Juden laut wetterten. Und wahrscheinlich hatte er meine
mehr und mehr ablehnende Haltung gegen solche Äußerungen bemerkt. Während sich viele zukünftige Staatsbeamte in ihrem Denken bestätigt fühlten, hatte er hierfür nichts übrig. Er sprach mich an, als ich mich gerade auf den Weg in meine Unterkunft machen wollte. Am kommenden Mittwoch wolle er mich in ein offenes Haus einer berühmten Frau mitnehmen. Das verwirrte mich, wie sich jeder Leser vorstellen mag. Denn was sollte ich in dem Haus einer berühmten Frau? Was qualifizierte mich hierzu? Doch alle Bedenken zerstreute er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Ich sollte mich auf dem großen Markt im Zentrum einfinden, an dem Kirche und Theater standen. Ganz erregt von dieser Einladung lief ich nach Hause. Ja, wenn ich an diese Stunden zurückdenke, dann kommen die Erinnerungen wieder hoch. Vieles, was in unserer Vergangenheit geschah, das vergessen wir. Aber
diese Tage, die in fiebriger Erwartung nicht vorüberziehen wollten, die werde ich nie vergessen. Mit Sophie sprach ich im Vertrauen und erkundigte mich, wer die Frau wohl sein mag, die mein Kommilitone mir in mystischen Worten nannte. Und natürlich wusste Sophie von dieser Frau zu berichten, die sich mit einem illustren Kreis von Freundinnen häufig in den Theatern der Stadt einfand. Gesehen hatte sie die Frau schon manchmal flüchtig bei den seltenen Besuchen des Theaters, die ihre Familie unternahm. Und auch der Vater wusste davon, da er ja selbst eine Gesellschaft besuchte, wobei ein paar der Damen im Nebenzimmer auch das offene Haus der Gastgeberin besuchten, in die ich eingeführt werden sollte. Viel war es nicht, was Sophie zu berichten wusste, aber es war genug, um mir gehörig Angst zu machen. Viele junge und sehr streitbare Geister waren Gäste. Ein paar kannte ihr Vater namentlich und war wenig angetan von
deren allzu liberalen Gedanken. Natürlich konnte ich mir mit solchen unklaren Auskünften kein genaues Bild machen, aber jede Stunde zweifelte ich mehr daran, dass ich im Kreis solch hochgebildeter und talentierter Menschen bestehen könnte. Einen Tag vor dem großen Ereignis traf ich den Gefährten und schilderte meine Bedrängnis. Ich hatte sogar den Entschluss gefasst der Einladung nicht nachzukommen. Doch er redete geraume Zeit auf mich ein, wobei er mir offenbarte, wer er denn war. Wie bereits ausgeführt hatte ich ihn die Jahre hindurch gesehen und auch zuweilen beobachtet und doch keine Konversation gemacht. Er war Liepmann Cohn, Sohn eines jüdischen Seidenhändlers. Die Familie trug nun den Namen Tornow und seinen Vornamen hatte man bei der Taufe vor wenigen Jahren in den christlichen Ludwig geändert. Sein Vater war mit ihm schon ein paarmal in
den verschiedenen offenen Häusern gewesen und die Familie hatte selbst einst so eine kleine Gesellschaft beherbergt. Und Ludwig fand, dass ich mit meinen Idealen, wie er das nannte, hervorragend dort aufgehoben wäre. Zuletzt gab er mir noch den Rat, meine besten Ausgehsachen anzuziehen, ich dürfe mich nicht vor dem Neffen des Landesvaters blamieren. Geradezu erschlagen von der Fülle der Informationen muss ich wohl in meine Dachstube gegangen sein und was dann geschah kann ich nicht mehr aus der Erinnerung benennen. Es ist mir suspekt, wie die Tage zuvor mir so vor dem inneren Auge stehen, als wäre es die letzte Woche aber die Stunden vor diesem Großereignis, so empfand ich es, mir nicht mehr erinnerlich sind. Ich glaube ich lieh mir den Zylinder von meinem Gastvater und trug in der Tat meine beste Ausgehkleidung als ich mich in die Stadt begab.
Ich schließe die Augen und bitte jeden Leser dies auch zu tun, wenn er gelesen hat, was nun folgen wird. Der Abend, an dem ich durch die Straßen lief, war noch ein recht frischer Februarabend. Zwischen den Häusern wehte ein kalter Wind, den ich aber genüsslich in meine Nase einsog. Unerklärlicherweise beruhigte es mich, wenn ich tief Luft holte. Auf dem belebten Platz, auf dem ich sodann stand strömte eine Vielzahl von Personen in eine der angrenzenden Straßen und aus einem der Häuser schien das Licht besonders hell auf die Straße. Einige Droschken hielten in unmittelbarer Nähe und es entstiegen Herren und Damen, die ich allesamt nicht erkannte. Aber ich konnte erhaschen, wie sie gekleidet waren. Die Herren trugen, ebenso wie die Frauen, feinste Kleider. Zylinder bei den Herren und breitkrempige Hüte bei den Damen sowie Schals und Tücher, wobei
diese wohl nicht gegen die Kälte halfen, sondern mehr schmückendes Beiwerk der eleganten Gestalten waren. Ich kann beschwören, dass es die Hand von Ludwig auf meiner rechten Schulter war, die mich aus dem verträumten Beobachten der Szenerie herausriss. Ja, ich fühle seine Hand so deutlich, dass ich bei der Erinnerung daran erschrecke und hinter mich blicke, nur um dann niemanden zu erblicken. Er führte mich, das muss man so sagen, direkt zu dem hell leuchtenden Fenstern. Dem Magneten, der die illustren Gestalten anzog. Er war wahnsinnig geworden, da war ich mir sicher. Niemals, niemals würde er mich hier hinein bringen können. Und doch folgte ich, wie in Trance. Eine Treppe stiegen wir hinauf und traten in ein Zimmer ein, in dem sich schon einige Menschen eingefunden hatten. Es war angenehm warm und es roch dezent nach dem
Tee, den man hier den Gästen darbot. Viele der Anwesenden waren in Gespräche in kleinen Grüppchen miteinander vertieft. Von unserem Eintreten nahm man scheinbar keine Notiz. Ich ließ meinen Blick über die Gäste schweifen. Ein paar Herren trugen ganz offensichtlich Kleidung, die sie als Angehörige des Militärs zu erkennen gab. Die Damen waren alle fein herausgeputzt, sodass man sich nicht sattsehen konnte. Eine hochgewachsene Schönheit, gleich einem griechischen Ideal, saß in einem Sessel, während ein junger Mann eifrig auf sie einredete. War dies die berühmte Frau, die hier das Regiment inne hatte? Sie schien dem Mann nicht recht zuzuhören, glaubte ich zu erkennen. Doch lange konnte ich nicht unbeweglich stehen, da ein Mann an Ludwig herantrat und ihn beiläufig ansprach. Ob er auch glaube, dass Religion Sinn und Geschmack für das Unendlich sei, wie es der gelehrte Theologe meinte. Dabei nickte er in Richtung der von mir als so
herausragend schön empfundenen Dame. So recht sei er noch nicht zu Ende der durchaus nicht einfachen Gedanken des Herren Theologen gelangt, erwiderte Ludwig und lachte leicht. Er stellte mich, der ich kaum einen Ton herausbrachte, dem Mann vor, der sich zu uns gesellt hatte. Es handelte sich dabei um einen bekannten Dichter, dessen letztes Werk von dem Theologen verteidigt worden war. Ich hatte entfernt davon gehört und war nun umso erstaunter diesen Genius direkt neben mir stehen zu sehen. Ja, nicht nur er war eine Bekanntheit. Ludwig verwies auf die hochgewachsene Schönheit und meinte, dass diese ebenfalls ein offenes Haus führt und sehr gut mit dem Theologen befreundet sei. Alle priesen ihre Schönheit, aber die wahre Herrin dieses Zirkels sei eine andere Dame. Was nun folgte war, dass Ludwig nicht auf die Dame zeigen musste, weil sie wie aus dem
Boden gefahren plötzlich neben uns stand. Sie war fast schon klein und zierlich mit schönen braunen Locken, die ihr Gesicht umspielten. Die dunklen Augen blickten einen neugierig an und zugleich auf eine Art und Weise, dass man sich vorkam, als hätte sie einen bereits bis auf den Grund der Seele geblickt. Die folgenden Worte, die wir wechselten, werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. „Ludwig Tornow. Euer Herr Vater ist nicht zugegen, wie ich sehe?“ „Nein, Madame.“ Sie musterte mich mit ihren klugen Augen. „An seiner statt bringt Ihr mir wen mit?“ Sie lächelte mich aufmunternd an. Aber ich weiß, dass nicht ich mich vorstellte, sondern dass es Ludwig war, da ich nicht im Stande war, auch nur einen Ton aus meinem Mund zu entlocken. „Das ist mein Studienkollege Markus von
Bühlow. Ich bin überzeugt, dass er ein paar sehr fortschrittliche Ansichten in sich trägt, die lediglich des Patronats der richtigen Personen bedürfen, um vollends zur Geltung zu kommen.“ „Und da dachtet ihr an mich, Tornow? Ich fühle mich geschmeichelt. Aber Herr von Bühlow, wollt Ihr mich denn als Eure Schutzpatronin haben?“, fragte sie mich herausfordernd. „Madame, verzeiht mir, ich bin von den berühmten Menschen und der ebenso berühmten Frau vor mir recht schweigsam. Verzeiht mir das. Ich bin solch illustren Umgang nicht gewohnt. Ich wage nicht euch so frech zu fragen, wie es mein Freund getan hat, was ein Patronat angeht.“ „Oh, lassen Sie ihn ruhig frech sein, solange er nicht unverschämt wird, ist es gut. Verbreitet Eure Ideen, bestimmt findet sich ein interessiertes Ohr zum Zuhören in dieser Runde. Seid gewiss, dass ich es höre. Nur sprecht euch aus, amüsiert euch! Und jetzt entschuldigt
mich…“ Sie wandte sich dem eintretenden Gast zu, der wie ein Gardeoffizier auftrat und auf den sich alle Blicke richteten. Ludwig raunte mir zu, dass dies der Neffe des Königs sei und ich war wie vom Donner gerührt. Der restliche Abend verging in kleinen Gesprächen mit einigen hochgebildeten Köpfen aus Kunst und Wissenschaft. Immer wieder war Goethe das Thema, auch hörte ich immer wieder, wie die Herrin des Hauses diesen gegen ein paar bissige Angriffe eines Gastes verteidigte. Ich kannte die Werke von Goethe durch Sophie und fand die Verteidigungen im höchsten Maße intelligent, sogar weit besser als alles, was ich bisher zu diesem Thema gehört hatte. Die kleine Dame war wirklich eine hochgebildete Frau. Nachdem die Zeit so mit verschiedenen Gesprächen verflogen war, in denen ich meist der hochinteressierte Zuhörer
war, folgte eine halbstündige musikalische Einlage des hochadeligen Herrn am Klavier. Wahrlich, ich hatte noch nie einen Menschen so gut spielen gehört. Dann zerstreute sich die Gesellschaft und auch wir gingen.
Es war nicht der letzte Besuch in diesem Haus, in dem mir besonders das sehr fruchtbare geistige Klima gefiel. Und meinen späteren Verleger Reimann, der in der Hauptstadt eine erfolgreiche Zeitschrift über Kultur und Politik herausgab, lernte ich hier auch kennen. Ludwig wollte unbedingt, dass ich für seine Zeitung einen Artikel schreiben, was ich auch später tat, doch davon soll eine spätere Episode aus meinem Leben handeln.