Es war eine merkwürdige Stimmung in jener Zeit, das würde wohl jeder schreiben, der dies leibhaftig erlebt hatte. Die Stimmen, die gegen die Juden waren, sie waren vielzählig, prominent und laut. Die Theologen verwiesen oft, wenn sie Protestanten waren, auf Luther, der in seinen letzten Jahren sehr deutlich sogar die Auslöschung der jüdischen Kultur gefordert hatte. Die Juden hatten Jesus getötet und verspotteten ihn, indem sie ihn nicht als ihren Messias anerkannten. Andere meinten, die Juden hätten einen Charakter, der es ihnen verbiete in unseren Ländern gedeihlich mit anderen zusammenzuleben, da diese Nichtjuden zutiefst hassen würden und geradezu nicht fähig seien, einer ehrlichen Arbeit nachzugehen. Dagegen gab es ein paar, die keinesfalls negativ eingestellt waren. So schrieb ein nicht unbedeutender Staatsminister, dass man die
Juden selbstverständlich mit richtiger staatlicher Erziehung dahin bringen könnte, dass die Gleichberechtigung möglich sei. Natürlich war auch dieser Entwurf weiterhin bevormundend. Nur ganz Mutige gingen sogar so weit, dass es einer solchen Erziehung gar nicht bedürfe. In der Stadt, in der ich nunmehr lebte, gab es beeindruckende private Synagogen und gutbetuchte jüdische Familien, die offene Häuser führten und die erste Garde großer Menschen um sich zu versammeln wussten. Davon hörte ich zum ersten Mal bei meiner Gastfamilie. Der Herr des Hauses ging einmal die Woche in ein solches Haus und hörte den philosophischen und naturwissenschaftlichen Vorträgen des dortigen Hausherrn zu. Die Damen unterdessen versammelten sich im Nebenzimmer um dessen Ehefrau und besprachen die neueste Literatur und was gerade
auf den Theatern der Stadt Mode war. Meine Gastmutter hielt sich von diesen Abenden fern, da sie eine strenge Person war, die den übermäßigen Genuss sämtlicher Dinge verachtete. Zu viel Lesen, zu viel Theatergenuss, zu viel Essen und Trinken, nichts duldete sie. Ihrem Gatten (ein Mitarbeiter irgendeines Ministers) ließ sie dies mit einem verkniffenen Gesicht durchgehen, doch ihre Tochter, die in meinem Alter war, die scholt sie immerfort. Ich will von ebendieser Tochter jetzt mehr berichten. Da ich die Tage viel in meinem Zimmer verbrachte oder in der Universität weilte, sahen wir uns zunächst nur beim gemeinsamen Essen am Abend und an den Wochenenden, da die Familie kleine Ausflüge ins Umland unternahm oder auch selten gemeinsam das Theater oder andere öffentliche Veranstaltungen besuchte. Mit der Zeit lernte
ich sie besser kennen und wohl billigte ihre Mutter, dass sie manchen Abend zu mir hinauf kommen durfte, wo wir uns dann unterhielten. Meist berichtete sie mir von der aktuellen Literatur. Sophie, hieß meine Gesprächspartnerin und war froh mich als Gesellschaft zu haben. Das durch die Mutter streng erzogene Mädchen litt unter der sogenannten Lesewut. In der Stadt gab es Leihbüchereien. Hier konnte man sich für sehr wenig Geld, wenn man denn Geld hatte, Bücher ausleihen. Manche Dame jener Zeit hatte so manche Leihbücherei komplett leergelesen. Wohl auf Geheiß der Mutter hatte Sophie das Klavierspiel und auch Französisch gelernt, die Sprache, die der in aller Welt wohlbekannte Herrscher dieses Landes besser beherrschte als das Deutsche. Die Tochter sollte für die gehobenen gesellschaftlichen Kreise vorzeigbar sein, damit sie eine ebenso gute, wenn nicht noch bessere Partie machen könnte, wie
seinerzeit die Mutter, die ihrerseits die Tochter eines wohlbekannten Adelsgeschlechts war, das seine besten Zeiten aber ebenso bereits hinter sich hatte, wie das Meine. Da wir in einer Stadt gelebt hatten, in der einige Händler aus dem Osten ihre Tätigkeiten ausgeübt hatten, beherrschte ich ein wenig die russische Sprache und Schrift. Damit machte man in keiner Hauptstadt der, wie man zu sagen pflegt, zivilisierten Welt Eindruck. Selbst am Zarenhof würde man wohl mit Französisch mehr Gehör finden. Da sie aus diesem Grunde einige Bücher in ihrer Originalsprache gelesen hatte, wusste sie mir auch Einiges von den französischen Autoren zu berichten. Voltaire empfand sie als einen hochnäsigen Spötter, der keine wahren Dinge über die Religionen zu sagen wusste. Dagegen war es die Gewalt der Worte von Jean Jaques Rousseau, die sie in ihren Bann zogen. Vor allem seinen Emile und
die Neue Heloise hatte sie mehrfach gelesen. Auch von Goethes Werther war sie sehr angetan. Sie sprach jedoch sehr oft von Rousseau und mit einer Leidenschaft, dass ich irgendwann nicht anders konnte, als mir ein Buch aus dem Regal ihres Vaters auszuleihen. Es war die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Die Übersetzung von Moses Mendelsohn musste ich zur Hand nehmen, da ich damals der französischen Sprache nicht mächtig war. Doch was ich da las ließ mich nicht mehr schlafen. Es war in der Tat eine Gewalt in den Sätzen, die Rousseau da zu Papier gebracht hatte, dass sie mich fortrissen und wie einen Betrunkenen benebelt zurückließen. Sie klangen immer wieder in mir wieder, vor allem der Appell an den ersten Menschen, der ein Stück Land als sein Eigentum deklarierte, schwirrte wie verrückt in meinem Kopf herum. Und wenn dies schon in der
Übersetzung so war, wie sollte die Sprachgewalt erst wirken, wenn ich Rousseau in seiner Muttersprache las? Angestachelt von diesem Ziel, ging ich bei Sophie in die Lehre, wenn ich es so nennen will. Ich darf dem Leser verraten, dass sie nicht die Letzte Frau war, die meinen Horizont erweitern sollte. Und ich muss gestehen, dass es mir nicht leicht von der Hand ging. Ich glaubte über meinen Studien hart zu werden und für eine solch empfindsame Sprache wie das Französische nicht recht gebildet zu sein. Sophie hingegen sprach mit solch leichter Zunge, dass man glauben mochte, dass sie eigentlich kein deutsches Kind sein dürfte. Doch nach einer Weile gelangen die ersten Erfolge und Sophie begann mit mir französisch zu parlieren. Es war eine harte und mühsame Schule, durch die sie mich schickte, doch im selben Maße, da meine Fähigkeiten sich
steigerten, umso angeregter und leichter konnten wir des Abends Konversation halten. Eine kleine Szene aus jener Zeit will ich schildern, die zeigt, wie weit dies irgendwann führte. Ich lebte seit gut eineinhalb Jahren in meiner Gastfamilie und unterzog mich auch schon seit gut einem Jahr den Lehrstunden von Sophie. Die Lernerfolge führten bereits zu diesem Zeitpunkt dazu, dass wir über viele Dinge des Alltags auf Französisch parlieren konnten. So saßen wir beim Essen und begannen unbewusst eine kurze Unterhaltung in der fremden Sprache. Ihre Mutter untersagte uns diese Unart, wie sie es nannte, auf das Strengste. Sowieso war sie dagegen, wenn man bei Tisch sprach. Doch ihr Mann war da weniger streng, sodass sie mit meist verkniffenem Gesicht die kurzen Konversationen über den Tag duldete. Hierzu trug sie freilich selten etwas bei.
Ob ich Sophie liebte? Ich verspürte zu der schönen jungen Frau in der Tat zärtliche Neigungen. Doch sie war die Tochter meiner Gastfamilie und ich noch Studiosus. Ich war noch lange nicht am Ende meines Studiums und wusste noch nicht, wohin mich das Leben würde verschlagen. Mit anderen Worten war meine Zukunft noch vollkommen offen. So etwas würde insbesondere die Mutter nicht dulden. Und Sophie mit einer solchen Affäre zu beflecken, das versagte mein Pflichtgefühl und auch meine Liebe zu ihr. Zudem war ein Bekannter ihres Vaters, seines Zeichens Legationssekretär, auf sie aufmerksam geworden, als wir im Theater waren. Es dürfte im Sinne der Familie gewesen sein, dass die Tochter einen gestandenen Mann heiratete und keinen kleinen Studenten, wie ich es seinerzeit
war.
Natürlich hielt uns dies nicht davon ab, weiterhin die französische Sprache zu erkunden und ich wurde einige Zeit später so gut darin, dass ich sogar Rousseau in Ansätzen lesen konnte. Es brauchte noch aber bis zu meinem 2. Staatsexamen, mit dem ich die Universität verließ, bis ich schlussendlich alles ohne Einschränkung zumindest lesen konnte. Ich verdanke der lieben Sophie, dass ich diese Sprache beherrsche und so auch in die Kultur dieses wunderbaren Volkes eintauchen konnte, die ich tatsächlich in ein paar Aspekten lieb gewann. Auch half mir diese Sprache, um in meine Position als Geheimer Rat zu gelangen, da der Landesfürst, dem ich zu diesem Zeitpunkt unterstand, frankophil war.