Die drei Tauben der Weihnacht
Passend zum Weihnachts-Countdown ein kleiner Ausflug in die ungarische Version von Charles Dickens "Weihnachtsgeschichte", neu interpretiert.
Möge manchem in der Welt ebenso ein Licht aufgehen.
Weitere Geschichten aus meiner Wahlheimat sind in "Der falsche Rinderhirte in der wilden Puszta" verewigt.
Wer sich beeilt kann es noch unter den Baum legen oder auch auf dem Reader lesen.
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Die drei Tauben der Weihnacht
»Feierabend!« Mit einem Teller Suppe und einem Glas Rotwein saß Viktor am Tisch in der kleinen Küche. So viel Arbeit der Hof und die Schafe machten, sein Leben taugte ihm. Er hatte nichts und niemanden nötig, er war sich selbst genug. »Mein kleines Paradies«, murmelte er, zufrieden an den Lehmofen gelehnt, dessen Wärme ihn schläfrig werden ließ. Im nächsten Augenblick fielen ihm die Augen zu.
Er blickte in das dunkle Augenpaar einer Taube mit gleißend weißem Gefieder. Sie saß geradewegs vor ihm, gurrte und wiegte den Kopf hin und her. »Da bist du ja, Viktor!« »Wie kommst du hier herein? Was willst du von mir?« Er setzte belustigt hinzu: »So einen
Besuch habe ich gerne!«
»Das werden wir noch sehen! Ich möchte dir was zeigen, Viktor. Komm mit.«
Mit diesen Worten befand er sich in einer anderen Welt. Er sah ein kleines Bauernhaus mitten im Winter. »Schau, Viktor. Erkennst du es?« Die Taube wies mit der Flügelspitze auf den winzigen mit liebevoll in bunte, glitzernde Papierchen gewickelten Bonbons geschmückten Weihnachtsbaum, unter dem ein Junge mit einem Holztraktor spielte. Auf dem verschlissenen Sofa saß sein Vater und schaute ihm beim Spielen zu, während die Mutter den Tisch abräumte. »Danke, Vater. Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk. Der alte Trecker sieht richtig schön aus, jetzt wo er neu angemalt und repariert ist.« Der
Vater räusperte sich. »Zu mehr hat es dieses Mal nicht gereicht. Wenn ich wieder Arbeit habe, bekommst du den Anhänger. Versprochen.« Da kam seine Mutter aus der engen Küche und setzte sich zu ihnen auf das Sofa, nahm die Stricknadeln zur Hand und sah ihren Mann bekümmert an. Er hatte ihr ein paar Knäuel Wolle für eine neue Strickjacke versprochen. Nichts! Sie seufzte. »Die alte Jacke muss noch eine Weile halten.«
Das Bild verschwand. »Was soll das, du blöde …?« Die Taube war weg.
»Hallo Viktor. Ich bin hier oben!«, hörte er plötzlich rufen. Sein Blick blieb an einem über und über mit Glitzer und Glitter geschmückten Weihnachtsbaum hängen. Auf der Spitze saß eine graue Taube mit roten Schwanzspitzen.
Sie sah mit eisgrauen Augen auf ihn herab. «Weißt du, wo wir hier sind?«
»Was sollen wir hier?«, fragte er verwirrt. Es war das Gebäude, in dem er noch vor einem Jahr gerne ein und aus gegangen war, als er noch an der Spitze der Gesellschaft stand und Hof hielt wie ein König. Es wurde ausgelassen getanzt und gelacht. Da drehten sich alle wie auf ein Zeichen um: Er schritt gemessen in seiner Festtagsuniform die weite Treppe hinunter. Dieser Auftritt war sein Ding! Er hatte alles erreicht, was er wollte! Für ihn zählten die Freuden, die sein Leben angenehm machten. Vor einem meterhohen, über und über mit leuchtend goldenen Kugeln sowie Unmengen brennender Kerzen geschmückten Tannenbaum kam er zum Stehen. Die
Gesellschaft applaudierte und ließ Hochrufe hören. Viktor quittierte dies mit selbstgefälliger Herablassung – jeder Anwesende erhielt aus seinen Händen ein belangloses Geschenk. »Verlogenes Pack!« Viktor hasste diese Buhlerei um seine Gunst, sie kostete ihn Nerven, andererseits sonnte er sich in seinem Ruhm.
»Na, wie gefällst du dir, Viktor?« Die Taube flog ihm auf die Schulter und flüsterte: »Du bist und bleibst ein Bauernsohn, wenn auch einer mit Diplom!«
»Ach, geh mir nicht auf die Nerven! Das Theater habe ich hinter mir!« Viktor schlug mit der Hand zur Taube, aber er traf sie nicht. »Ich habe es jetzt gut. Ich habe meine Schafe und brauche auf niemanden Rücksicht nehmen –
und keiner leckt mir die Füße für ein paar Vergünstigungen!« Viktor spie in Richtung des Palastbaus. »Sollen sie verrecken, die Hurensöhne! Können wir jetzt gehen? Mir ist kalt.«
Sogleich verschwand das Bild.
»Komm, Viktor. Es ist Zeit.« Er rieb sich verwundert die Augen. Eine schwarze Taube mit bernsteinfarbenen Augen saß auf seinem Bettpfosten. »Na los, Viktor. Steh auf!«
»Was willst du von mir?«
»Wir sind noch nicht fertig. Ich will dir was zeigen.«
Viktor schlüpfte in seine Hosen und stopfte das Hemd hinein. »Was heißt, wir sind noch nicht fertig? Und wohin?«
»Das wirst du noch sehen. Es hat sich viel
verändert«, meinte die Taube beiläufig.
Der Stall hatte bessere Zeiten erlebt und das Haus verfiel zusehends. Dann sah er eine gebeugte Gestalt kommen. Sie schlurfte mit schweren Schritten zum Stall hinüber und öffnete das Gatter. Schafe, die längst hätten geschoren werden müssen, drängten auf die von einem verwitterten Zaun umgrenzte Weide. Der Alte wankte zurück ins Haus, sackte auf seinem Stuhl zusammen und sein Kopf fiel haltlos in den Teller Suppe.
»Was soll das? Wer ist das?«
»Das bist du – tot, einfach weg. Und niemanden interessiert es …«, weiter kam die Taube nicht.
»Wieso?« Viktor war außer sich. Mit einer fahrigen Bewegung versuchte er, das Bild aus
seinen Augen zu reiben. »Du könntest es ändern …«
»Wie? Ist das alles eine Farce? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein, Viktor. Wie könnte ich das, ich bin nur eine Taube.«
Im nächsten Moment war das Bild verschwunden und Viktor erwachte. Es war gerade Mitternacht vorbei, wie er mit einem Blick auf seine Uhr feststellte. Er fühlte sich wie gerädert und ihn fror entsetzlich. Müde erhob er sich. Er ging in die Küche und fachte das Feuer neu an. Da sah er eine schwarze Feder auf dem Tisch liegen. »Dann war das kein Traum, oder wie?«
Er spielte zittrig damit. Der Traum hatte ihn tief getroffen, und er war froh, dass es nur ein
Traum gewesen war. Doch die Bilder ließen ihn nicht los. Von fern hörte er die Festglocken zur Mitternachtsmesse. Weihnachten! Nachdenklich setzte er sich und seine Gedanken kreisten umher. Das Leben in der kleinen Welt seiner Eltern hatte ihn geprägt. Es war nicht seines, er hatte die Bescheidenheit seiner Kindheit gehasst und war in die Stadt geflohen, um zu studieren. Mit Ehrgeiz hatte er es bald nach oben geschafft. Leider hatte er auf dem Höhepunkt seiner Karriere einen kleinen Stolperstein übersehen. Im freien Fall war er über die »Leichen«, die seinen Weg säumten, von dem Podest gestürzt, auf das er sich erhoben hatte. »Du bleibst ein Bauernsohn, wenngleich mit Diplom«, hatte sein Vater ihm nachgerufen,
eher er sein Elternhaus verließ. Dass die Taube ihn gerade daran erinnern musste! Viktor fügte wehmütig hinzu: »Damit kann ich die Wand tapezieren oder es im Ofen verfeuern! Ich sollte es tun und wirklich ein neues Leben beginnen. Ich brauche das alles nicht mehr!« Er griff den Bilderrahmen mit seinem Diplom, nahm es heraus und überließ es den Flammen.
Obwohl es mitten in der Nacht war, holte er eine Flasche Wein hervor, füllte das Glas und prostete sich im Spiegel über der Spüle zu. »Frohe Weihnachten, Viktor!«
Er wollte sein Leben verändern, jetzt da er erkannt hatte, dass es sonst vielleicht wirklich so traurig enden würde, wie die letzte Taube prophezeit hatte. In diesem Moment tönten die
Kirchenglocken hell über die Felder und er meinte, ein Gurren am Fenster zu hören. »Die Sanduhr tickt, Viktor!«