Donnerstag, 1. Dezember – Jurek P
Unberührter Neuschnee, soweit das Auge reicht. Die winzigen Eiskristalle werden von einer strahlend aufgehenden Morgensonne festlich beleuchtet und ein Rentier tritt stolz erhobenen Hauptes zwischen den spärlichen Hirnwindungen des Schriftstellers Jurek P hervor, während – ja, äh, während …
„Man beginnt keine Nebensätze mit dem Wort ,während‘, verdammt, wie oft denn noch?“ Die Schreibblockade sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf der Kante des Regalbrettes über Jureks Schreibtisch. Sie grinst frech und schnipst Papierkügelchen in das
Tintenfass, die dort drin aufquellen und seine Schreibarbeiten behindern sollen. Jurek scheucht die Schreibblockade mit der Hand vom Regal und sie flattert zum Schrank, so muss er sie wenigstens nicht von Angesicht zu Angesicht sehen, das elende Biest. Er taucht den Federkiel ins Tintenfass, streicht ihn vorsichtig am Rande ab und lässt das Rentier auf dem glatten Papier und zwischen den beiden Kastanien am Anfang der Kirchenstraße erscheinen. Das Tier scharrt mit dem Vorderhuf den frischen Schnee beiseite, aber es wird auf dem winterlichen Hafenvorplatz nichts Fressbares auf dem Kopfsteinpflaster finden. Es sieht seinen Schöpfer traurig an und dessen
weihnachtliche Geschichte, die er sich hier ausmalen möchte, versiegt schon wieder im Ansatz. Jurek dreht sich kurz zu der Schreibblockade um, aber die zuckt nur die schmalen Schultern.
Von wegen: „An mir liegt‘s nicht!“ Da kannst du noch so unschuldig vor dich hin lächeln und dir dabei die Fingernägel feilen. Jurek wirft mit der Schreibfeder nach ihr, aber da die Feder genau wie das Tintenfass reine Einbildung sind, nur da, um seine Phantasie ein wenig anzufeuern, bleibt der Wurf natürlich ohne Wirkung. Keine Feder, keine Tinte, nur die Tastatur des alten Rechners, den der Mann jetzt ausschaltet. So wird das ja doch nichts mehr an diesem Vormittag.
Geh spazieren, sagt er sich. Zieh dich an und geh raus!
Geh raus in deine winterliche Schneelandschaft.
Von wegen! Der Schnee rieselt, an diesem ersten Dezember, wie er das um diese Jahreszeit bei plus sechs Grad zu tun pflegt: er nieselt lediglich. Der Dichter Jurek schlägt den Mantelkragen seines grauen, wettererprobten Trenchcoats hoch und zieht seinen Hut tief ins Gesicht, so stellt er sich das vor. In die Wirklichkeit übersetzt heißt das: er zieht sich die Kapuze seines verschlissenen Parkas über den Kopf. Und geht, die Hände tief in den Taschen, in Richtung Kirchenstraße. Da ist kein
Rentier, natürlich nicht, aber ein Tabakladen an der Ecke. Und da will er hin, wie an jedem Tag. Und nahezu zur selben Zeit.
„Guten Morgen, Frau Köster.“
„Guten Morgen, Herr Dichter“, sagt die und lächelt. Frau Köster lächelt immer, was auch immer besonders auffällt, weil ihre Oberlippe von einer feuerroten Hasenschartennarbe verunziert wird und ihre Aussprache ziemlich vernuschelt. Aber ausnahmslos freundlich, die Frau. „Die Pfeitung, wie immer?“, fragt sie.
„Wie immer, Frau Köster, und heute bitte auch ein Päckchen Kaugummi“, sagt er.
„Ich hätte heute auch eine wehr gute
Wumatra im Angebot“, lifpelt fie freundlich und hält ihm eine pfiemlich dicke, teure Pfigarre hin. Irgendwas zu Rauchen sollte man in einem Tabakladen sicher kaufen wollen. Aber sie weiß natürlich, auch schon seit Jahren, dass der Herr Jurek nicht raucht. Es ist nur ein Spiel zwischen den beiden. Jeden Tag das Gleiche.
Jurek tritt, nun schon besser gelaunt, aus dem Tabakladen. Der Nieselregen hat wohl sein Tun vorläufig aufgegeben. Die Sonne freilich verbirgt sich auch weiter hinter der endlos wirkenden grauen Himmelslandschaft. Also setzt der Mann seinen Weg Richtung Kirche fort, er wird sich beim Bäcker einen guten Kaffee
gönnen und seine Zeitung durchblättern, so wie jeden Tag.
Und wie er so die schmale Straße entlanggeht, kommt ihm, wie ganz selbstverständlich an diesem ersten Dezember, der Weihnachtsmann entgegen. Groß, dick, roter Mantel, rote Mütze mit weißem Pelzrand, weißer Rauschebart und eine schmale Lesebrille vor den verschmitzt lächelnden Augen. „Guten Tag Jurek“, sagt der Weihnachtsmann, dreht das Gesicht dem Schriftsteller zu und nickt kurz – dann ist er auch schon vorbei und Jurek sieht ihm kurz nach. „Ja, Guten Tag auch … Weihnachtsmann …“ Nicht erkannt, den Kerl. Wer war das? Gut verkleidet jedenfalls.
Wenn einer eine Weihnachtsgeschichte schreiben will, weil ja nun mal Dezember ist und so – dann ist diese Begegnung doch im Grunde kein übler Auftakt, denkt er sich. Und als er den Bäckerladen betritt, wie jeden Tag um die selbe Zeit, fragt er die Verkäuferin nach seiner Begrüßung: „Hast du den Weihnachtsmann hier eben auch vorbei gehen sehen?“ Sie hat und bestätigt das. „Hast du erkannt, wer das war?“ Das hat sie nicht. Aber sie hat seinen Kaffee fertig und wartet nun auf seine Entscheidung, welches der Brötchen er nun wohl wählen würde. „Das mit dem Camembert, ja, und hier, das mit Mett, bitte.“
Simone, die Bäckersfrau, wie er sie nennt, obwohl sie ja nicht wirklich Bäckersfrau ist sondern lediglich Angestellte der Bäckereikette, lächelt ihm zu. „Und du? Hast du ihn erkennen können?“
„Nee, das nicht, aber er mich offenbar, er hat mich gegrüßt und mich Jurek genannt.“
„Obwohl du ja eigentlich Karl heißt?“
„Was außer dir nicht jeder weiß, wie du weißt.“
Simone und der Schriftsteller sind früher mal zusammen zur Schule gegangen. Das war in einer anderen Stadt und vor vielen Jahren. Hier, in dieser
Stadt haben sie sich wiedergefunden. Sie mag ihn. Sehr sogar. Aber sie ist, Ewigkeiten schon, verheiratet. Mit Richard. Auch jemand aus seiner alten Schule. Glücksvogel, der. Naja, wenn es Pechvögel gab (Klammer auf, wie ihn selbst, Klammer zu), dann hatte es gefälligst auch Glücksvögel zu geben. Oder Schweinevögel? Wegen: „Schwein gehabt“?
Kundschaft kommt, Simone muss bedienen. Er lässt ihre Hand wieder los. Macht man ja auch nicht, so Hand in Hand anschmachten, mitten im Laden.
Jurek begibt sich an eins der kleinen Tischchen, stellt Kaffee und Brötchen hin, rührt Zucker und Milch ein, faltet
seine Zeitung auseinander, macht es sich bequem. Freilich, die Zeitung hätte er natürlich auch hier, beim Bäcker, kaufen können – aber dann gäbe es schließlich keinen Grund mehr, Frau Köster im Zigarrenladen aufzusuchen, nicht wahr? Alles schon gut und eingespielt so.
Und nun, gesättigt und beglückt, aufgeweckt vom Kaffee – „Na, Karl, noch einen?“ – „Äh, was? Ach ja, doch, bitte.“ – ist Zeit, sich Gedanken um die geplante Weihnachtsgeschichte zu machen. Vielleicht eine aus der Sicht des Rentiers?
„Es gibt keine Rentiere hier“, mosert die Schreibblockade. „Es gibt auch keinen Weihnachtsmann“, brummt Jurek –
offenbar ein bisschen zu hörbar, denn der Kunde am Ladentisch hält dagegen: „Und ob es den gibt, ich habe ihn ja selber eben gesehen!“
Jurek blickt auf. Der Kunde, den Simone eben bedient, ist Otto Bruhns, der Fischer. Den kennt Jurek, natürlich.
„Hallo Otto“, sagt er, „Hast du erkannt, wer das war, der da als Weihnachtsmann verkleidet war?“
„Nee“, sagt Otto, „aber er hat mich gegrüßt und Otto genannt.“
„Jeder kennt dich, Otto“, sagt Simone.
Otto erhebt wichtig den rechten Zeigefinger und sagt bedeutsam und legt dabei sein ordentlich abgezähltes Geld auf den Ladentisch: „Der
Weihnachtsmann, ja? Der kennt jeden. JEDEN!“
„Alles klar, hau rein, Otto.“ Simone und Jurek lachen.
Was soll man wohl dazu sagen?
Wenn Jurek keine Weihnachtsgeschichte aus der Sicht des Rentiers schreiben würde, sondern aus der Sicht des Weihnachtsmannes? Eines Weihnachtsmannes, der jeden Tag im Dezember irgendwo in der Stadt auftaucht und alle Leute kennt und grüßt? Ein Episodenbuch mit 24 Geschichten mit immer einer anderen Hauptfigur? Könnte man machen. Jurek erhebt sich und schaut sich nach seiner Schreibblockade um, aber die scheint
verschwunden fürs Erste. Gut so. Er grüßt noch mal zu Simone hinüber und macht sich wieder auf den Weg. Er sollte noch was einkaufen, denkt er sich so. Hält Ausschau, ob er den Weihnachtsmann noch mal zu sehen bekommt, aber der ist auch weg. Wird sicher Anderes zu tun haben in diesen Tagen, als nur rumzulaufen. Jurek sieht in den Himmel und stellt in Richtung Süden sogar ein winziges Leuchten fest, so, als ob die Sonne womöglich heute doch noch vorkommen wollte.
An der Kaufhalle, wie er den kleinen Supermarkt an der Ecke zur Poststraße immer noch nennt, sieht er die üblichen Biertrinker stehen, wie jeden Tag. Jurek
grüßt sie, sie winken zurück, die meisten kennt man. Hoffnungslose Gestalten an einem hoffnungslosen Tag, denkt er, aber letzteres stimmt ja so gar nicht mehr. Er schnappt sich einen Korb, wird Gemüse und Nudeln einkaufen. Und Spinat und Eier. Brot auch. Und weil er wiedermal seinen Einkaufsbeutel zu Hause hat liegenlassen, wird er wieder mal einen neuen dazu kaufen, aus Stoff natürlich, wegen der Umwelt. Man müsste sich die Dinger ausleihen und zurückgeben dürfen, das wäre dann noch umweltfreundlicher. Oder Körbe.
Auf dem Rückweg schließt sich ihm einer der drei Biertrinker an. Er will in die Kneipe am Hafen, die „Fischbüchse“,
das weiß Jurek. Die Kneipe macht erst um 17 Uhr auf, solange wird sich der Mann am Hafen aufhalten. Wenn schönes Wetter ist, setzt sich der Mann mit seinem Akkordeon, das er immer bei sich hat, auf eine der Bänke und spielt seine Seemannslieder. Viele freut das, manche nervt es. Im Sommer werfen ihm die Urlauber Geld in seinen Hut, den er vor sich hin stellt. Er braucht das Geld nicht, ist Frührentner, heißt es.
Jurek und der Akkordeonspieler unterhalten sich auf ihrem Weg ein bisschen. Der Akkordeonspieler sagt, auch ihn hätte der Weihnachtsmann gegrüßt. Sogar seinen Namen gewusst, den doch sonst in der Stadt eigentlich
niemand kennt.
„Und? , fragt Jurek. Wie heißt du?“
Der Akkordeonspieler zögert. Dann sagt er: „Reginald. Kein schöner Name, finde ich, behalt es für dich.“
Reginald. Na schön. Den, der da als Weihnachtsmann durch die Gegend läuft, hätte er aber auch nicht erkannt, sagt der Akkordeonspieler.
Am Hafen verabschieden sie sich, Jurek begibt sich auf den Weg nach Hause. Erst kochen, dann Schläfchen, dann schreiben. Jetzt weiß er ja, wo die Geschichte langgeht.