Dass ich in meiner Freizeit als Kind viel durch die Natur gestromert bin, hab ich euch ja schon erzählt. Heute berichte ich euch von einem Nachmittag im Sommer 1974, also im zarten Alter von 12 Jahren.
An jenem Tag war ich wieder einmal unterwegs, dieses Mal nicht, wie so oft mit Bobby, sondern seinem älteren Bruder Karsten. Der war ja in meiner Klasse und an diesem Tag waren die letzten beiden Stunden ausgefallen. Da wir keine Lust hatten, nach Hause zu gehen und uns vielleicht gleich an die
langweiligen Hausaufgaben setzen zu müssen, beschlossen wir, noch eine Weile auf den Kiebitzberg zu gehen. Also in diesem Zusammenhang von einem Berg zu sprechen, ist zwar etwas anmaßend, denn bei dem Kiebitzberg handelte es sich streng genommen nur um einen einst aufgeschütteten Sandhügel, der inzwischen von vielen Birken bewachsen war. Die kahle Hügelkuppe lag in etwa in Höhe der umliegend stehenden Baumkronen. Nur dass ihr eine ungefähre Vorstellung von der Größe des Kiebitzberges habt.
Aber egal, für uns war der Kiebitzberg immer ein lohnender Platz zum Spielen.
Im Sommer tollten wir ihn hoch und runter, buddelten Löcher in den Sand und ließen uns den Hügel herunterkullern. Wir spielten Fange und Verstecke oder Cowboy und Indianer mit selbstgebauten Pfeil und Bogen und Gewehren aus abgebrochenen Ästen. Und im Winter sausten wir mit unseren Schlitten den Abhang hinunter und wurden viel zu oft von einem Baumstamm abrupt gestoppt, so dass wir kopfüber mit der Nase im Schnee landeten.
Am Fuße des Kiebitzberges lag das damals neu gebaute Sportzentrum. Mit einer geräumigen Sporthalle und ebenso großer Freianlage daneben. An diesem
Tag war Tag der offenen Tür, eine Veranstaltung, bei der die einzelnen Sportvereine für die jeweilige Sportart und somit um neue Mitglieder warb. Neugierig schauten wir dort vorbei.
Von der Tribüne aus verfolgen wir gespannt, wie der Judoverein sein Können vorzeigte. Karsten und ich fanden das total faszinierend, wie die sich gegenseitig auf die Matte warfen. So für das Herum-Bolzen waren wir in diesem Alter ja sowieso zu haben und meist war ich diejenige, die die Jungs aus meiner Klasse auf die Bretter schickte und/oder in den Schwitzkasten nahm. Denn was die Jungs mir an Größe
und Kraft voraus hatten, machte ich mit Kopf, Mut und Geschwindigkeit wett.
Nachdem Karsten und ich genug von den Würfen gesehen hatten, krabbelten wir wieder auf den Kiebitzberg und alberten herum. Auf alle Fälle wollten wir uns im Judoverein anmelden. Die Papiere dazu hatten wir uns zuvor unten im Sportzentrum bei dem Verantwortlichen geholt. Nun mussten wir nur noch unsere Eltern davon überzeugen. Für mich wäre das nicht schwierig, denn meinem Papa war es wichtig, dass wir alles, was uns interessierte, auch ausprobieren durften. Erst einmal auf Probe und wenn wir weiterhin begeistert waren, auch
längerfristig. Und schließlich kostete der Beitrag in den einzelnen Vereinen ja nicht viel. Ich war also zuversichtlich.
Übermütig probierten wir gleich einmal ein paar der Übungen aus, die wir eben erst gesehen hatten. Darunter auch den Schulterwurf, bei dem man den Gegner am Arm griff und den Rücken zudrehte, um ihn dann gekonnt über die eigene Schulter zu werfen. Dieser landete dann vor einem auf der Matte und musste sich geschlagen geben. So zumindest in der Theorie.
Als Karsten mich jedoch, wie gesehen, mit Schwung über sich werfen wollte,
stolperte er und fiel. Was nicht schlimm war, weil ja der Boden aus losem Kies bestand. Ich jedoch, halb in der Drehung, landete genau mit der Schulter auf dem Hacken von seinem Schuh. Es gab einen kurzen Knacks und ein mächtiger Schmerz durchfuhr meinen ganzen Körper. Ich spürte sofort: Irgendwas war kaputt gegangen.
Nun war uns die Lust zum Toben vergangen und wir machten uns auf den Heimweg. Genug für heute. Der Schmerz war inzwischen erträglich und konzentrierte sich auf meinen linken Schulterbereich. Er war jedoch so stark, dass Karsten meinen Ranzen trug.
Irgendwie plagte ihn auch das schlechte Gewissen. Später erzählte er mir, dass ich ziemlich blass ausgesehen hatte und er Angst bekam, dass ich erstens umkippen könnte und er zweitens Ärger zu Hause bekam. Obwohl er alleine dafür ja nichts konnte. Doch im Gegensatz zu meiner Familie war es in seiner noch üblich, körperlich gezüchtigt zu werden. Ohne großen Erfolg, wie sich mit den Jahren zeigte, denn einige Familienmitglieder, darunter auch Karsten kamen in den späteren Jahren immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Im Gegensatz zu meiner Schwester und mir. Prügelstrafe ist also nicht immer sinnvoll.
Aber zurück zu dem Tag im Jahr 1974, kurz vor den Sommerferien. Wir kehrten also mit hängenden Köpfen reumütig nach Hause zurück. Da ich meinen Schlüssel wieder einmal verlegt hatte, klingelte ich am Gartentor. Meine Mutter öffnete das Fenster im ersten Stock, schaute kurz und verärgert heraus, wurde blass und schloss das Fenster wieder, bevor sie die Treppe herunterkam und mir das Gartentor öffnete. Sie hatte sich für ihre Verhältnisse fein gemacht, denn sie trug ein Kleid und keine Kittelschürze darüber. Wie wir es gewohnt waren, wenn sie die Hausarbeit
erledigte.
Später erzählte sie mir, dass sie weggehen wollte, als ich vor der Tür stand. Eigentlich wäre sie schon weg gewesen, war aber etwas spät dran. Als sie aber durch das Fenster schaute, wurde ihr schlagartig klar, dass es mit ihrem Termin oder ihrer Verabredung (was es war, hat sie nie verraten...) nichts werden würde. Denn da stand ich auf dem Bürgersteig und mein linker Arm hing nicht wie üblich an der Seite des Körpers, sondern vor meiner linken Brust herunter.
Sie kam also an das Gartentor, nahm meinen Schulranzen in Empfang und sah
Karten mit einem bitterbösen vernichtenden Blick an, bevor sie mich vorsichtig am Schlafittchen packte und ins Haus zog.
Die nächsten Stunden verbrachten wir in der Notaufnahme unseres Krankenhauses am anderen Ende von Kleinmachnow. Nach dem Röntgen stand fest, dass mein Schlüsselbein gebrochen war, eine echt unschöne Sache, kann ich euch sagen. Für die Untersuchung sollte ich den Pullover ausziehen, wozu ich natürlich nicht in der Lage war. Also entschloss sich der Arzt, das gute Stück einfach zu zerschneiden. Doch da hatte er nicht mit meiner Mutter gerechnet. Denn der
Pullover war selbstgestrickt und wenn er zerschnitten werden würde, wäre er unwiderruflich verloren gewesen. Ich meine, ich saß da mit total verschobener Schulter und hatte Schmerzen, die Ärzte wollten mich untersuchen und meine Mutter machte ein Gezeter wegen dem blöden Pullover. Typisch meine Mutter. Letztendlich bekam sie eine kleine Schere, mit deren Hilfe sie die Nähte auftrennen konnte. Eine Zeitverzögerung, auf die wie alle gerne verzichtet hätten.
Ich weiß nicht, wie das heute ist, aber damals verpasste man den Patienten einen sogenannten Rucksackverband. Das war ein etwa Männerarm-dicker
Schlauch, der prall mit Watte gefüllt war und mittig im Genick angelegt wurde. Beide Enden wurden dann unter die Achseln geführt und anschließend auf dem Rücken wieder fest verknotet. Dadurch wurde erreicht, dass die Schultern nach hinten gezogen wurden. Und das Schlüsselbein an seine ursprüngliche Stelle bringen sollte, damit dieses wieder zusammenwachsen konnte.
Die ganze Sache sah nicht nur unbequem aus, die war es auch, denn so musste ich die nächsten zwei Wochen (glaube ich) herumlaufen. Tag und Nacht. In der Schule nannte man mich die Bucklige und lachte mich aus. Aber ich war vom
Sport befreit, was auch mal toll war. Und das noch fast ein halbes Jahr aus. Blöd hingegen war, dass ich meine Schulter in dieser Zeit generell schonen musste. Mit den Jungs herumbalgen oder auf Bäume klettern fiel also auch erst einmal aus.
Bei einer späteren Nachuntersuchung stellte sich heraus, dass der Knochen nicht wieder gerade zusammengewachsen war. Daher bekam ich einen Termin, um mir das Schlüsselbein noch einmal kontrolliert zu brechen und es mit dem Richten des Knochens noch einmal zu versuchen. Aber ich hatte mich geweigert, die Tortur wollte ich nicht noch einmal durchmachen. Mir war es
egal, dass der Knochen schief verheilt war. Er bildete wieder eine stabile und zuverlässige Verbindung zwischen Körper und Schulter und das genügte mir. Bewegen konnte ich den Arm auch ganz normal. Was will man mehr. Einziges Manko: Anstelle eines geraden Knochens sah man an der linken Schulter eine kleine Beule in der Mitte des Schlüsselbeines hervorstehen. Aber nicht doll. Also alles gut.
Aber eines habe ich damals gelernt: Man sollte nicht immer gleich drauf los machen, wenn man etwas nicht gelernt hat.