Heute erzähle ich euch von Andre, meinem unmittelbaren Wohnungsnachbarn zur Zeit meines Einzugs. Andre saß im Rollstuhl und hatte mächtig motorische Schwierigkeiten. Ist ne vererbte Nervenkrankheit. So was ähnliches wie Huntington. Schlimme Sache.
Da Andre manchmal auf Hilfe angewiesen war, hatte er meine Telefonnummer. Und ich seinen Wohnungsschlüssel. So konnte er mich zur Hilfe rufen, wenn was ist und ich kam auch in seine Wohnung, ohne dass
Andre sie mir öffnen musste. Ganz wohl war mir anfangs auch nicht bei dem Gedanken, zu einem doch fremden Mann in die Wohnung zu gehen, aber mit seinen starken Bewegungseinschränkungen war Andre nun wirklich keine Gefahr für mich. Und ich bin noch so erzogen worden, dass man anderen Menschen uneigennützig hilft, wenn sie diese benötigen.
Und manchmal brauchte Andre auch nur jemanden zum Quatschen. Ja, so ein Tag kann lang werden, wenn man alleine in einem Rollstuhl in seiner Bude sitzt und nicht mal etwas machen kann. Außer in den Fernseher zu glotzen und zu rauchen.
Selbst am PC chatten oder spielen ging irgendwann nicht mehr, weil seine Hände so zitterten und er die Maus nicht mehr halten, geschweige denn bedienen konnte.
Anfangs hatte ich ziemliche Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Denn auch das Sprachzentrum war von seiner Krankheit betroffen. Er lallte ziemlich stark und Personen, die ihn nicht kannten, waren meist der Meinung, er wäre stark betrunken. Ja, ok, inzwischen trank er wirklich regelmäßig, aber er war ein sogenannter Spiegeltrinker. Solange er sein täglich gewohntes Pensum an Alkohol zu sich nahm, funktionierte er,
soweit es seine Krankheit zuließ, ganz normal.
Natürlich hatte er einen Behindertenausweis mit damals Pflegestufe 2 und dementsprechend auch eine Reinigungsservice, der zweimal in der Woche zum Saubermachen kam. Aber Andre war kein einfacher Mensch. Manchmal war er launisch und wollte nicht, dass ihn jemand sah, oder gar um ihn herum putzte. Wenn er dann in seinem tiefen aber unverständlichen Ton los schimpfte, dann verschreckte das viele Pflegekräfte. Einzig eine recht resolute Pflegerin hielt es auf Dauer mit ihm aus. Wenn er wieder einmal
losdonnerte, dass sie wieder gehen solle, weil heute nicht sauber gemacht werden muss, dann schon sie ihn einfach in seinem Rollstuhl zur Seite. Zum Beispiel mit den Worten: „Das dauert nicht lange. Ich bin gleich wieder weg. Und das tut auch gar nicht weh!“ Und ließ ihn einfach weiter schimpfen, während sie das Bad putzte oder Staub von den Möbeln beziehungsweise feucht den Fußboden wischte. Irgendwann resignierte Andre dann und ließ sie gewähren. Ließ es sozusagen über sich ergehen. Das war besser für beide Parteien.
Ich bin ja damals mit meinem
griechischen Straßenhund, dem Fox, nach nebenan gezogen. Andre liebte den Hund und Fox war auch jedes Mal total begeistert, wenn wir zusammen zu Andre gingen. Aber ich glaube, nicht unbedingt, weil Fox auch Andre so toll fand, sondern eher, weil unser Nachbar beim Essen immer so zitterte und somit immer irgendwelches Essen großflächig auf dem Boden verteilt hatte. Fox fungierte dann als Staubsauger beziehungsweise Müllschlucker und putzte den Fußboden wieder blitzeblank sauber. Ich war davon zwar nicht so sehr begeistert, insbesondere, wenn wieder die halbe Portion salzige Pommes verstreut worden waren. Aber die waren so schnell weg,
dass ich meist noch gar nicht richtig in der Wohnung war und reagieren konnte. Und Fox hatte echt einen unerschütterlichen Magen. Wer weiß, was der in seiner alten Heimat alles hatte fressen müssen.
Im Gegenzug fing Fox an, Andre zu unterstützen, sofern er helfen konnte. Wenn etwas auf den Boden fiel und nicht fressbar war, hob der Hund es auf und brachte es zu mir oder zu Andre. Und ließ es sich aus der Schnauze nehmen. Wenn es genießbar war, gab er es aber nicht wieder her. Dann verschwand es binnen Bruchteile von Sekunden in seinem nimmersatten Schlund. Fox
begriff auch schnell, was zum Beispiel eine Fernbedienung oder ein Schlüssel war und konnte es auf Verlangen bringen. Nur mit der Verständigung haperte es manchmal. Doch wenn man in die Richtung des gewünschten Gegenstandes zeigte, brachte Fox es freudig, da es hinterher meist eine kleine Belohnung gab. Ach ja, und Hausschuhe brachte der Hund, sobald ich zu Hause zur Tür hereinkam. Ich befürchtete, dass mein Vierbeiner das auch bei jedem anderen Menschen machen würde. Stellt euch mal vor, das kommt ein Einbrecher und der Hund des Hauses kommt freudestrahlend und schwanzwedelnd mit den Hausschuhen an und legt sie vor dem
Typen ab...
Aber zurück zu Andre. Mit der Zeit verschlechterte sich sein Zustand merklich. Immer in Schüben. Er blieb zwar weiter klar im Kopf, aber der Körper versagte mehr und mehr den Dienst. Also das ist ja ne Krankheit, die ich später mal nicht haben will. Dann doch lieber Matsch im Kopf und nichts mehr mitkriegen. Aber so?
Telefonieren ging ja für Andre schon lange nicht mehr, da er ja am anderen Ende der Strippe nicht verstanden wurde. Also übernahm ich das und fungierte sozusagen als Dolmetscher. Da Andre
sich auch schwertat, zur Bank oder zu Behörden zu gehen, begleitete ich ihn anfangs und übernahm später mithilfe einer Vollmacht auch diese Aufgaben. Sofern die Behörden nicht zu ihm nach Hause kamen, was manchmal der Fall war. Damals begann meine ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe. Bald schlossen sich auch andere Nachbarn an und unterstützten sich gegenseitig, gemäß ihrer Fähigkeiten. Inzwischen sind jedoch zu viele Ausländer beziehungsweise junge Leute in unser Haus gezogen. Die älteren Helfer starben oder zogen in Pflegeheime um und so verschwindet das Zusammenhalts-Gefühl nach und nach. Leider. Aber ein harter
Kern ist noch vorhanden und kümmert sich um die Hilfsbedürftigen.
Andre saß also den ganzen Tag auf dem Sofa oder in seinem Rollstuhl, rauchte, trank und sah fern. Und ich machte die Botengänge für ihn. Holte Geld von der Volksbank oder ging einkaufen. Und im Gegenzug passte Andre auf meinen Hund auf, wenn ich mal unterwegs war. Denn Fox konnte nicht gut alleine bleiben und jammerte herum, sobald ich ohne ihn die Wohnung verließ. Nun konnten sich die beiden miteinander beschäftigen und das war gut so.
Doch irgendwann verschlechterte sich
der Gesundheitszustand von Andre immer weiter. Schleichend, aber unaufhörlich. Immer öfter fiel er aus seinem Rollstuhl und lag dann stundenlang auf dem Boden, weil er niemanden benachrichtigen wollte... oder konnte. Es wurde Zeit, dass er in das betreute Wohnen kam. Nachdem wir zusammen den Antrag gestellt und ein Gutachter vom Gericht vorbei gekommen war, ging alles ganz schnell. Binnen kurzer Zeit wurde der Umzug organisiert und die Wohnung neben mir frei.
Fox war die erste Zeit etwas irritiert, dass ich ihn nicht mehr nach nebenan brachte. So entgingen ihm ja eine Menge
Leckerli und Streicheleinheiten. Auch wenn diese etwas unkoordiniert waren. Jedes Mal, wenn wir vom Gassi gehen kamen und er vorneweg durch den Hausflur rannte, dann blieb er vor meiner Nachbarwohnung stehen und sog tief die Luft ein, die durch die Ritze der Wohnungstür drang. Aber irgendwann roch es nicht mehr nach Andre und Fox verlor das Interesse. Fand sich damit ab oder vergaß, dass er dort gewesen war. Wer weiß das schon.
Da das Pflegeheim weiter entfernt war und ich nicht die genaue Adresse kannte, habe ich Andre nie wieder gesehen. Schade. Obwohl, die letzte Zeit war es
doch schon ganz schön anstrengend mit ihm gewesen. Da er mich so häufig in Beschlag genommen hatte. Nun konnte ich mich wieder meiner Interessen und den anderen Senioren zuwenden. Hat auch was Positives. In einer Woche berichte ich euch dann von Renate, Andre seiner Mutter, die im Nebenaufgang wohnte. Also, bis dann.