Heute ist Samstag und somit Zeit für ein neues Kapitel über meine lieben Nachbarn. Eigentlich wollte ich euch heute von Andre erzählen, meinem unmittelbaren Wohnungsnachbar. Aber aus gegebenen Anlass verschiebe ich diesen Bericht und berichte euch lieber von Christa, meiner „Lieblingsoma“ aus unserem Haus.
Christa ist im letzten Jahr 90 Jahre alt geworden und hatte es die letzte Zeit nicht leicht. Im Sommer war sie mit der Familie für ein paar Tage an der Ostsee. Einmal frische Seeluft schnappen. Doch
schon am zweiten Tag stürzte sie in ihrem Hotelzimmer so schwer, dass sie sich die linke Schulter brach und sich auch sonst viele schmerzhafte Prellungen zuzog. Damit war der Urlaub gelaufen. Und wegen ihrem Alter musste sie die nächsten Wochen in der Klinik verbringen. Wieder einmal.
Doch auch, nachdem sie endlich entlassen worden und wieder zu Hause angekommen war, benötigte sie ständig Hilfe von anderen. Denn selbst ganz banale Dinge wie den Rollstuhl schieben, einen Pullover anziehen oder auch nur mit Messer und Gabel essen fielen ihr sehr schwer oder waren gar ganz
unmöglich. Denn nachdem der linke Arm mehrere Wochen in einer Schlaufe gelegen hatte, hatten sich fast alle Muskeln stark abgebaut. Der Arm war nicht mehr zu gebrauchen. Und selbst heute noch, nach 30 Anwendungen einer Physiotherapeutin kann Christa ihren linken Arm überhaupt nicht bewegen. Wenn er einmal im Weg ist, so greift sie mit der rechten Hand an ihr linkes Handgelenk und legt dann den nutzlosen Arm in die gewünschte Position oder an eine günstigere Stelle.
Verständlich, dass Christa da im Laufe des Tages etwas mehr Hilfe benötigt. Jeden Morgen kommt ja schon seit Jahren
eine Pflegerin, die der betagten Dame beim Aufstehen sowie der Morgenwäsche und dem Anziehen helfen soll. Dies wurde bisher mehr schlecht als recht erledigt. Christa war nie wirklich zufrieden. Das ständig wechselnde Personal war gestresst und nach 10 min bereits wieder verschwunden. Schon des Öfteren habe ich beobachtet, dass die jeweilige Pflegerin dann vor dem Haus gestanden hat und erst einmal in Ruhe eine Zigarette geraucht hat. Zeit, die sie wohl besser bei den Patienten verbringen sollte! Denn auf Christas Bedürfnisse oder Wünsche wurde bei den sehr kurzen täglichen Besuchen nicht eingegangen.
Ich weiß, jetzt kommt gleich ein „Aber die armen Pfleger und Pflegerinnen sind so überlastet und müssen für so wenig Geld so viel machen...“ und so weiter. Das mag stimmen.
Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn eine alte und wirklich gebrechliche Omi bittet, dass man ihr die Flasche Wasser aufmacht und etwas in ihre Schnabeltasse nachkippt und die Pflegerin dann sagt: „Tut mir leid, das bekomme ich nicht bezahlt. Dann müssen Sie das Paket 'Essen vorbereiten' dazu buchen.“ Und zur Tür hinausmarschiert,
um draußen eine zu rauchen. Ehe sie zum nächsten Termin fährt.
Das ist kein Einzelfall. Christa bekommt ständig zu hören, dass das nicht zu den gebuchten Leistungen gehört. Mit ihrem kaputten Arm ist sie nun mal weder in der Lage, eine Wasserflasche anzuheben oder sie zu öffnen, geschweige denn, sich etwas Wasser einzuschenken. Der ganze Vorgang würde ja nicht mal eine Minute für einen gesunden Menschen dauern. Trotzdem wird ihr diese Hilfe verweigert! Und da fast alle Senioren sowieso zu wenig trinken, da sie kein Durstgefühl mehr haben, sollte es eine Selbstverständlichkeit für das
Pflegepersonal sein, diese zwei Handgriffe auszuführen, bevor sie sich verabschieden.
So was nennt man Menschlichkeit!
Aber wenn ihr denkt, so etwas passiert nur in den eigenen vier Wänden, wo es keine Zeugen gibt, weit gefehlt. Christa hat mir erzählt, dass ihr im Arcona, dem Krankenhaus speziell für altersbedingte Erkrankungen, das Essen ans Bett gestellt wurde und als sie bat, dass ihr jemand beim Essen helfe, sich keiner die Zeit nahm. Daher versuchte Christa so gut wie es ging, sich irgendwie zu behelfen. Nach kurzer Zeit kam dann die
Schwester wieder ins Zimmer und wollte den Teller wieder mitnehmen. Da hatte Christa es gerade einmal geschafft, sich die ersten 2 Bissen in den Mund zu schieben.
Ja, ich weiß, das Personal ist überlastet, aber dann stopfe ich eben nicht alle Betten voll, damit die Kasse klingelt.
Und ich weiß auch, dass es sich hierbei bestimmt nur um einige schwarze Schafe handelt. Das hoffe ich zumindest. Es gibt bestimmt zahllose Pfleger und Pflegerinnen, die in ihrem Beruf aufgehen, freundlich zu den Bedürftigen sind und auch mal diese zwei Handgriffe
machen, die sie nicht bezahlt bekommen. Da es jedoch bei dem Pflegedienst, den Christas Kinder beauftragt haben, häufig zu Unregelmäßigkeiten, Schlampereien und einem unfreundlichen Verhalten seitens der Pflegekräfte kommt, hat ihr Sohn jetzt die Notbremse gezogen. Und den Frühdienst ab der kommenden Woche gekündigt. Einzig am Donnerstag, dem Duschtag, soll weiterhin jemand Qualifiziertes kommen. Bereits am nächsten Tag erschien morgens niemand mehr. Ob aus Versehen oder Trotz, konnte bei einem Anruf bisher nicht geklärt werden. Um die paar Tage bis zur nächsten Woche zu überbrücken, bin ich nun eingesprungen und stehe auf
telefonischen Abruf bereit, um Christa unter die Arme zu greifen. Ich habe einen Schlüssel, da sie kaum in der Lage ist, zur Tür zu kommen und eile nun mehrmals täglich in den zweiten Stock. Auch den morgendlichen Waschdienst und das zu Bett bringen am Abend habe ich erst einmal übernommen. Zum Glück unterstützt mich ihr Enkel Sascha etwas, der auch hier wohnt. Ab nächste Woche greift dann hoffentlich der neue Pflegedienst. Und ich wünsche es Christa, dass diese dann menschlicher mit ihr umgeht.
Natürlich nehme ich für die paar Tage kein Geld von Christa. Ich gehöre ja zur
„ehrenamtlichen“ Nachbarschaftshilfe. Ehrenamtlich in Gänsefüßchen, da wir uns hier selbst organisiert haben, also von keiner Hilfsorganisation oder ähnliches betreut werden. Wir regeln das hier alles selbst. Die Senioren und ihre Angehörigen wissen, an wen sie sich hier im Haus wenden müssen, wenn sie Hilfe bei den täglichen Arbeiten, bei Behördengängen, dem Einkauf oder dem Ausfüllen von Anträgen wenden können. Wir haben sogar zwei Jungs hier im Haus, die Reparaturen aller Art durchführen können, egal ob im Haus oder am Auto beziehungsweise dem Fahrrad. Wie gesagt unentgeltlich. Das ist sehr praktisch und hat mir auch schon
häufig in der Not weitergeholfen.
Ich bin normalerweise für alles Schriftliche und für die Behördengänge zuständig, helfe aber wie jetzt im Fall von Christa auch gerne einmal so aus. Und ich hoffe, ich sammle dadurch ein paar Punkte auf meinem positiven Karma-Konto. Wer weiß, wie es mir später einmal geht. Und ich hoffe, dass auch ich dann einen netten Menschen finde, der mir hilft, ohne nur auf meinen Geldbeutel zu schielen.
Und nun wisst ihr auch, warum ich am Mittwoch keinen Beitrag hier in meinem Blog veröffentlicht habe. Ich hatte
einfach zu viel zu tun. Auch jetzt warte ich wieder darauf, dass das Handy klingelt und Christa anruft, damit ich ihr das Abendessen mache und sie anschließend ins Bett bringe. Aber das mache ich ja gerne, da ich sowieso nicht viele Verpflichtungen habe. So bin ich den Tag über wenigstens beschäftigt. Und kann nette Gespräche führen.
Schauen wir mal, wie es morgen wird und ob ich die Zeit finde, wieder hier auf diesem Blog tätig zu werden. Denn in mir stecken noch so viele Erinnerungen, die ich niederschreiben und mit euch teilen möchte. Wenn ihr wollt. Doch sollte ich die Zeit nicht finden, dann
verzeiht mir bitte. Es kommen auch wieder andere Zeiten.
Und nun wünsche ich euch einen schönen Abend.
Euer vagabundinchen