Noch bevor ich richtig in meine neue Wohnküche mit Klo eingezogen war (viel größer sind die meisten Wohnungen in meinem Haus nicht), lernte ich schon den ersten Nachbarn kennen. Eine, nun sagen wir mal, imposante Erscheinung. Um es vorsichtig zu beschreiben. Ich schätze mal, dass Walter knapp an die 2 Meter Marke heranreicht. Allerdings scheint er fast genauso breit wie hoch zu sein. Und man sieht ihn immer in dem gleichen abgetragenen blauen Pullover inklusive grauer Hose.
Als ich ihn kennenlernte, waren seine Augen stets gerötet, was darauf schließen ließ, dass er entweder ständig weinte oder etwas zu viel trank. Dem Geruch zufolge war es wohl eher die zweite Variante.
Und nun stellt euch Folgendes vor: Ich bin das erste Mal in meiner neuen Wohnung. Meine wenigen Habseligkeiten stehen in einigen Klappboxen an der Fensterwand. Es klingelt. Und als ich dir Tür öffne, steht davor dieser Berg von Mensch, der mich um Einiges überragt und den gesamten Türrahmen
einzunehmen scheint.
Er stellt sich vor und meint, dass er sich freut, dass ich hier bin und dass er gerne einmal mit mir einen Kaffee trinken würde. Er hätte immer Zeit, und könnte, wann auch immer, deswegen zu mir kommen.
Krampfhaft überlege ich, wie ich, ohne dass es zu hart klingt, diese gruselige Einladung ablehnen kann. Auf keinen Fall lasse ich den in meine Wohnung. Also versuche ich mir nichts anmerken zu lassen, sage ihm jedoch klipp und klar, dass es bei mir nicht ginge. Schließlich habe ich noch keine
Sitzgelegenheit. Das ist nicht einmal gelogen. Denn bei meinem Umzug habe ich nur ein altes Sofa mitgebracht, welches mir aufgeklappt vorübergehend als Bett dient. Und ich glaube, ich würde die falschen Zeichen setzen, wenn ich mich mit Walter darauf niederlassen würde. Seinem Blick zufolge bin ich mir da ganz sicher.
Vielleicht schätze ich meinen neuen Nachbarn aber auch nur falsch ein. Und er will nur nett sein und mich im neuen Haus begrüßen? Deshalb füge ich schnell hinzu, dass wir uns ja irgendwo in ein Bistro oder so setzen könnten, um einen Kaffee zu trinken. (Und falls ich mich
nicht irre, fühle ich mich in der öffentlichen Umgebung sicherer als hinter verschlossener Tür.)
:-)
Er meint, dass können wir ja etwas verschieben. Danach nickt er mir zu und verschwindet wieder in seine Wohnung, die im Stock und direkt über mir liegt. Für die nächsten Tage habe ich Ruhe.
Etwa eine Woche später erzählte ich Andre, meinem direkten Wohnungsnachbar von meiner unheimlichen „Begegnung der 3.Art“ mit Walter. Worauf mich Andre ausdrücklich warnte. Anscheinend hatten bereits drei Frauen vor mir in meiner Wohnung
gewohnt. Also, nacheinander natürlich, denn in 32 Quadratmeter passt nicht viel mehr als eine Person. Bei jeder hatte Walter von Anfang an versucht zu landen. Und jedes Mal wurde er abgewiesen. Woraufhin er anfing, die unwillige Mieterin bei der Wohnungsbaugesellschaft schlecht zu machen. Meistens wären sie zu laut. Aber auch Gerüche wären sehr störend, zum Beispiel vom Kochen oder Rauchen aus dem Fenster heraus. Das würde alles bei ihm in das Fenster ziehen und seine Wohnung voll stinken.
Und da Walter hartnäckig genug mobbte und die jeweiligen Mieterinnen auch in
der Nachbarschaft schlecht machte, zogen diese irgendwann genervt wieder aus. Nach durchschnittlich einem Jahr. Und die nächste Mieterin kam. Das Spiel begann von vorne.
Gut, dass ich gewarnt wurde. So schnell würde ich jedenfalls nicht aufgeben. An mir würde er sich die Zähne ausbeißen, versprochen. Ich hatte so lange nach einer bezahlbaren Wohnung gesucht. Und auch, wenn sie nicht viel größer als ein Kaninchenstall war: Es war jetzt meine Wohnung. Und würde es bleiben!
Am gleichen Tag noch fand ich einen Zettel in meinem Briefkasten. Von
Walter.
Er schrieb mir seine Telefonnummer auf, falls ich ihn mal kontaktieren möchte (Ehm... NEIN. Möchte ich nicht!). Dazu schrieb er, dass er sich auf Samstag freue, weil er dann mal zu mir zum Kaffee trinken vorbeikommen würde. Um 15 Uhr wäre er da.
Anscheinend wurde ich jetzt nicht einmal mehr gefragt. Aber nicht mit mir.
Nun hatte ich etwas Greifbares in der Hand. Mit dem Zettel ging ich also bereits am nächsten Tag zur Wohnungsbaugesellschaft. Ich wollte nicht nur auf Walters Beschwerden
reagieren, sondern schon einmal aktiv tätig werden, bevor das Klagen über mich beim Wohnungsamt eingingen. Ich zeigte den Zettel der netten Mitarbeiterin am Schreibtisch und fragte, ob ich mich jetzt auf irgendetwas einstellen müsse. Ich hätte kein Interesse an diesem Mieter und wolle auch nicht, dass er zu mir käme. Worauf die Mitarbeiterin mich bestärkte und meinte: „Um Gottes Willen. Lassen sie ihn nicht in die Wohnung!“ Anscheinend kannte man Walter schon hier in der Verwaltung.
Dieses Treffen war ein kluger Zug von mir. Denn als kurze Zeit später die Beschwerden über mich losgingen,
schien man Walter durchschaut zu haben. Nur einmal wurde ich benachrichtigt, dass es Beanstandungen wegen meines Hundes gab. Weil er nachts lange bellen würde. Was überhaupt nicht den Tatsachen entsprach und schnell widerlegt werden konnte. Denn auf Nachfrage konnte dies keiner meiner anderen Nachbarn bestätigen. Einige meinten sogar: „Wie, sie hat einen Hund? Ist uns noch gar nicht aufgefallen!“ Problem gelöst.
Kurz darauf änderte Walter seine Strategie und begann, sich bei mir selbst zu beschweren. Denn anscheinend brachte seine bisherige Methode über die
Wohnungsbaugesellschaft keinen Erfolg mehr. Und diese Beschwerden waren so irrwitzig, dass ich sie euch nicht vorenthalten möchte.
Zu Beginn erzählte er mich nur so beiläufig, dass er nachts wach geworden sei, weil jemand laut Musik angemacht hatte. Oder geklopft hatte. Da er im obersten Stock und an einer Hausecke wohnte und die Wohnung auf der anderen Seite neben ihm zur Zeit unbewohnt sei, könne das ja nur von mir kommen. Vorzugsweise nachts um zwei oder so. Selbst wenn ich ihm sagte, dass ich um die Zeit im Bett liege und schlafe, glaubte er mir nicht. Schließlich sei er ja
davon wach geworden.
Später versuchte er es hartnäckiger. Jedes Mal, wenn wir uns zufällig im Hausflur oder draußen an der Treppe trafen, leierte er den gleichen Text herunter. Und jedes Mal war es in der Nacht zuvor gewesen. Und dabei wurde es jetzt echt skurril. Denn nun fragte er, ob ich ihn denn nicht wenigstens schon am Nachmittag warnen könne. Also am Nachmittag, bevor ich nachts aus dem Bett fallen würde. Es wäre ja nicht schlimm, wenn man mal aus dem Bett fällt, aber es wäre doch schön, wenn ich ihn vorher warnen könne. (Ehm, … ja.)
Meine Argumente wie: „Ich bin nicht aus dem Bett gefallen und selbst wenn... Da ich ja kein Flummi bin, der auf die Erde plumpst, anschließend an die Decke knallt und ihn dabei wach macht, um anschließend wieder auf die Erde zu klatschen und so weiter..., würde er das Fallen ja wohl kaum hören.“ wurden dabei nicht beachtet. Denn dann bat er mich unbeeindruckt noch einmal, ihm einfach vorher Bescheid zu geben.
Um meine Ruhe zu haben und schnell aus dieser absurden Situation zu kommen, versprach ich, es beim nächsten Mal zu tun.
Mit logischen Argumenten zu kommen klappte bei Walter offensichtlich nicht wirklich. Kein Wunder, anscheinend sagte er dem Alkohol immer mehr zu. So versuchte ich, soweit ich konnte, ihm aus den Weg zu gehen und gestaltete unsere gelegentlichen Gespräche so kurz wie möglich.
Irgendwann verlief das eigenartige Mobbing dann auch im Sande. Sei es, weil ich nicht darauf einging oder weil in andere Wohnungen neue Mieterinnen einzogen, auf die er sich konzentrieren konnte. Jedenfalls wohnen wir beide
immer noch, nach nunmehr fast 10 Jahren, inzwischen friedlich untereinander.
Ätsch.
Und ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass ich mit Walter bis heute keinen Kaffee trinken war.
:-)