Nachdem meine Familie wieder zurück nach Kleinmachnow gezogen war, wollte meine Mutter so schnell es ging, wieder arbeiten gehen. Oder zumindest ihre sozialen Kontakte pflegen. Das ging aber nur, wenn sie einen Babysitter für mich fand. Ich stand zwar kurz vor der Einschulung, benötigte aber dennoch eine rundum Betreuung. Und da ich auch immer noch Kindergarten-unfähig geschrieben war, wurde eine Tagesmutter für mich organisiert. Auch wenn es eine private ganztägige Betreuung damals im Grunde genommen in diesem Maße noch nicht gab. Oder jedenfalls recht selten
praktiziert wurde. Aber unsere Familie war schon immer in vielen Dingen der Zeit weit voraus.
Meine Eltern fanden eine nette Familie, die im benachbarten Stahnsdorf wohnte. Tante Thea war eine mütterlicher Typ, total lieb zu Kindern und arbeitete, soweit ich mich erinnern konnte, damals in der Nachtschicht in einem Kinderheim. Und verdiente sich etwas Geld dazu, indem sie tags über auf mich aufpasste. Ich gehörte bald mit zur Familie und fühlte mich dort auch sehr wohl. Ihr Sohn Karsten hatte einen leichten Sprachfehler. Aber ich sah ihn selten, da er schon studierte und nicht
mehr zu Hause wohnte. Er kam nur hin und wieder zu Besuch. Ich empfand ihn irgendwie immer als Störfaktor. Wahrscheinlich war ich auch ein wenig eifersüchtig, weil ich bei seinen Besuchen nicht die volle Aufmerksamkeit von meiner Tante Thea bekam. Und Onkel Hans, Tante Theas Mann, war bereits Rentner. Er verbrachte seine Zeit im kleinen Garten, der ihre kleine Holzhütte, die ihnen als Zuhause diente, umrahmte. Und in dem viel Gemüse in kerzengraden Reihen angebaut wurde.
Letztendlich gab es noch einen kleinen Papagei, so einen grünen mit rosa Wangen, die eigentlich nur zu als Paar
gehalten werden dürfen und die „Unzertrennlichen“ heißen. Obwohl, der hier hieß Coco. Der hier war jedoch alleine, aber genauso laut wie ein ganzer Schwarm. Immer saß er oben auf der Gardinenstange und kam nur heruntergeflogen, wenn Onkel Hans seine Hand ausstreckte. Vor mir schien er Angst zu haben. Was ich total blöd fand. Denn ich wollte ihn auch einmal halten! Aber war nicht. Schade.
Ich liebte es, bei Tante Thea zu sein. Ich lümmelte auf der Hollywoodschaukel herum, pflückte Unkraut oder saß bei Onkel Hans auf dem Schoß und hörte den Gesprächen der Erwachsenen zu. Oder
ich half Tante Thea bei der Hausarbeit beziehungsweise sah beim Kochen zu. Eigentlich hatte ich viele Freiheiten und wahrscheinlich gefiel es mir dort deshalb so gut.
Ich weiß noch, dass ich einmal neben dem Herd auf der Kohlenkiste saß und Tante Thea beim Mittagessen zubereiten zusah. Als sie ein Stück Fleisch in die Pfanne legte, spritze das Fett und ich bekam einen Tropfen davon auf meinen linken Oberarm. Natürlich brüllte ich gleich los, denn es war ja heißes Fett. Tante Thea wusste aber sofort, was zu tun war und bald darauf war alles wieder gut. Aber sie entschuldigte sich noch
Jahre später dafür und war untröstlich, dass ich Schmerzen gehabt hatte. Und auch heute noch ist auf meinem Oberarm ein winzig kleiner weißer Punkt zu sehen. Besonders im Sommer, wenn sich die Arme, außer an dieser Mini Stelle, durch die Sonne braun einfärben. Meine ganz persönliche Erinnerung an Tante Thea.
Selbst am Tag meiner Einschulung war ich bei ihr und Onkel Hans. Bevor es losging. Da ich so aufgeregt war und kaum stillhalten konnte, setzte man mich ausnahmsweise vor den Fernseher. Damals für mich ein recht seltenes Vergnügen. Ich weiß noch, dass ich
„Skippy das Buschkänguruh“ und „Flipper, der kluge Delfin, ...Freund aller Kinder...“ schauen durfte.
Und auch meine große Schultüte bekam ich dort in die Hand gedrückt und durfte sie anschließend stolz zur Schule tragen. Die war, anders als heute, riesengroß (ok, aber ich war auch echt klein, vielleicht kam sie mir daher umso mächtiger vor) und fast ausschließlich vollgepackt mit leckerem Süßkram. Ach ja, das waren noch schöne Zeiten...
In der Grundschule später hatten wir eine Lehrerin, die nur für unsere Klasse zuständig war. Sie hieß Frau Bleschke.
Sie unterrichtete uns in allen Grundschulfächern, war ein freundliches und älteres Semester und nicht viel größer als wir Grundschüler. Und sie hatte ganz viele Sommersprossen, Sogar auf den Armen und den kleinen knubbeligen Händen. Was mich damals sehr erstaunte. Mit ihrem freundlichen Wesen erinnerte sie mich total an Tante Thea und wir Kinder liebten Frau Bleschke alle sehr.
Frau Bleschke versuchte immer, den Unterricht etwas aufzulockern und uns nicht zu lange still sitzen zu lassen. Denn das fiel nicht nur mir sehr schwer. Wenn es zum Ende der Stunde hinging
und sie merkte, dass wir unruhig wurden, spielte sie gerne mit uns ein Spiel. Dazu stellten sich alle Kinder neben ihren Platz. Es gab 3 Bankreihen und somit 3 „Konkurrenten“, die gegeneinander antraten. Die ersten drei Schüler aus jeweils einer Bankreihe traten nach vorne und Frau Bleschke las ein Wort vor, welches sie dann an die Tafel schreiben sollten. Wenn es richtig geschrieben war, durfte das jeweilige Kind leise raus auf den Schulhof zum Spielen und das nächste Kind aus der Bankreihe trat nach vorne. Bei einem falsch geschriebenen Wort verblieb das Kind an der Tafel und versuchte sein Glück erneut. Das fanden die
nachfolgenden Kinder natürlich nicht so prickelnd, da sie länger warten mussten, ehe sie ran kamen. Und kommentierten das auch entsprechend. Die Bankreihe, deren Kinder zuerst alle auf dem Schulhof waren, hatten gewonnen.
Als ich an der Reihe war, sollten wir das Wort Teer schreiben. Und ich war so stolz, dass ich dieses schwere Wort schreiben konnte und kritzelte den Namen meiner Tagesmutti „Thea“ an die Tafel. Ich dachte, dass die anderen bestimmt den Buchstaben „h“ vergessen würden. Denn den zu merken war auch mir anfangs schwergefallen. Aber Pustekuchen. Links und rechts neben mir
erschienen auf der grünen Tafel in krakeliger Kinderhandschrift jeweils das Wort „Teer“. Meine beiden Mitstreiter durften vor die Tür und ich wurde von der halben übriggebliebenen Klasse ausgelacht. Frau Bleschke glättete zwar schnell die Wogen und erklärte, dass es auch dieses Wort gäbe und dass ich eigentlich keinen Fehler gemacht hatte. Was mich aber nicht gerade fröhlicher stimmte. Weil meine Klassenkameraden mich noch lange hänselten. Welches Wort ich danach schreiben musste, weiß ich gar nicht mehr. Aber da ich in Deutsch immer ganz gut war, durfte auch ich nach dem zweiten Versuch ins Freie zum Spielen.
Tante Thea blieb mir noch lange in guter Erinnerung. Das letzte Mal besucht hatte ich sie nach der Geburt meiner ältesten Tochter. Um sie ihr ganz stolz zu zeigen. Damals wohnte und arbeitete ich schon lange nicht mehr in Kleinmachnow. Aber dazu ein anderes Mal mehr.
Ich finde, jedes Kind sollte eine Tante Thea im Leben haben. Oder eine Frau Bleschke. Diesen beiden Frauen habe ich sehr viel zu verdanken. Wahrscheinlich wäre ich nicht die, die ich heute bin, wenn es Tante Thea und Frau Bleschke nicht gegeben hätte. Die so viel Geduld
mit mir gehabt hatten und so viel Zeit in mich investierten. Und dafür bin ich ihnen heute noch dankbar.