Ich habe die Sommer in meiner Kindheit geliebt. Wenn endlich Ferien waren, bin ich den ganzen Tag draußen herumgestromert. Alleine oder in Begleitung von Bobby, einem Nachbarjungen, der genau gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte. An diesem Tag im Sommer des Jahres 1974 war ich jedoch alleine unterwegs. Zu dem kleinen Tümpel neben unserer Schule, der sommers wie winters eine magische Anziehungskraft nicht nur auf mich ausübte.
Wasser fand ich ja schon immer enorm
faszinierend, zum Leidwesen meiner Mutter, die mich von klein auf regelmäßig nach jedem Kontakt mit Pfützen umziehen musste. Da ich nur so vor Dreck starrte.
Inzwischen, mit 12 Jahren, war ich in der Lage, mich selbst umzuziehen, aber die Anzahl der verschmutzen Kleidung hatte sich nicht merklich verändert. Aber ich glaube, meine Mutter hatte sich inzwischen daran gewöhnt.
An diesem schönen Sommer-Nachmittag also war ich mit einem leeren Schraubglas und einem kleinen Kescher, den wir normalerweise für unser Aquarium verwendeten, auf dem Weg zur
Schule. Ich hatte vor, ein paar Tage vor den Ferien noch schnell ein paar Kaulquappen oder junge Molche zu fangen. Wer fleißig meine Geschichten liest, hat ja inzwischen mitbekommen, dass ich alles, was da kreuchte und fleuchte faszinierend fand und gerne auch mit nach Hause nahm. Kaulquappen hatte ich schon mehrmals in meinem Kinderzimmer beheimatet und einmal sogar als Schulprojekt „wissenschaftlich“ beobachtet und ihre Entwicklung dokumentiert.
Ein weiteres, aber sehr viel längeres Projekt war die Erforschung der Entwicklungsstationen von Maikäfern,
nachdem ich beobachtete, wie einer dieser interessanten Käfer in meinem Schuhkarton Eier abgelegt hatte. Es dauerte jahrelang, bis aus den Eiern die anfangs kleinen und später total fetten Engerlinge krabbelten, aus denen sich schließlich neue Maikäfer entwickelten. Und die ganze Zeit über beobachtete und pflegte ich sie. Denn dank dem „großen Brockhaus“ wusste ich immer genau, was die Tiere in ihren einzelnen Entwicklungsstadien benötigten. Internet gab es ja da noch nicht. Für meine Dokumentation inklusive Fotos bekam ich dann auch in Biologie eine dicke fette Eins.
Aber zurück zu dem Nachmittag, von dem ich euch eigentlich berichten wollte. In ein paar Tagen wollten mein Papa und ich zu unserem jährlichen 14-tägigen Erlebnis-Urlaub aufbrechen. Diese Zeit war nur für uns zwei reserviert. Denn meine Schwester fand Campen doof und verzog sich in dieser Zeit lieber zu Schulfreunden nach Hause, bei denen sie dann auch übernachten durfte. Und meine Mutter war froh, wenn alle aus dem Haus waren und sie nicht kochen oder den Haushalt schmeißen musste. Und auch ich fand die Zeit alleine mit meinem Papschi toll so.
Dieses Mal sollte es zu einem Campingplatz in Karlovarsky kraj gehen. Das liegt in der damaligen Tschechoslowakai. Nicht wundern, liebe jüngere Leser. Das Land hieß damals wirklich so, bevor sich am 31. 12. 1992 die Slowakische Republik vom Tschechischen Teil des Landes abspaltete und einen eigenen Staat bildete.
Die meisten Sachen waren schon gepackt, die Zugtickets gekauft. Und um die Wartezeit zu verkürzen, war ich an diesem Nachmittag unterwegs.
Zuerst stellte ich meine Sandalen am Ufer des Tümpels ab Eine weise Entscheidung, wie ich fand. Denn schließlich hatte ich schon so manch ein Paar bei ähnlichen Aktionen verloren, wenn ich im knöchelhohen Schlamm herumwatete und die Riemen zerrissen. Anschließend lief ich vorsichtig parallel zum Ufer entlang, immer darauf bedacht, nicht so viel Schlamm aufzuwirbeln. Vor mir her schwenkte ich den Kescher durch das seichte Wasser und kontrollierte hin und wieder den darin eingefangenen Inhalt. Doch noch bevor ich etwas Interessanteres als Stöckchen oder Teile
von Wasserpflanzen eingefangen hatte, durchzuckte mich plötzlich ein echt fieser Schmerz an dem kleinen Zeh von meinem linken Fuß. Sofort humpelte ich aus dem Wasser und spülte notdürftig den blutenden Fuß im noch nicht wieder ganz klarem Wasser ab. Mist. Ich hatte mich an irgend einem Gegenstand böse geschnitten. Und es blutete ganz schön doll. Mir war die Lust an meiner Exkursion vergangen. Ich band mein Taschentuch (damals noch aus Stoff und groß genug, um als Notfall-Verband zu dienen) um die Wunde, zog vorsichtig meine Sandale darüber und humpelte die zwei Straßen weiter nach Hause.
Zu Hause verzog ich mich gleich in mein Zimmer und begutachtete meine Wunde. Um den kleinen Zeh herum zogen sich drei hässlich aussehenden Schnitte. Nur die Oberseite war noch unverletzt. Am meisten blutete der seitliche Riss. Darin schien sich auch etwas zu befinden und ich fummelte und pulte eine Weile daran herum. Schließlich zog ich einen grünen Glassplitter heraus, der angesichts der Stelle eine beachtliche Größe aufwies. Anscheinend war ich in den abgebrochenen Hals von einer Weinflasche
getreten.
Da ich bei den „jungen Sanitätern“ war, wusste ich, dass „Bluten“ gut ja eigentlich war, weil somit eventuelle Krankheitskeime aus der Wunde gespült wurden. Und da ich nun das Corpus Delicti entfernt hatte, war ja alles wieder in Ordnung.
Insgeheim hatte ich natürlich auch Angst, dass ich durch diesen Unfall unseren Urlaubstrip gefährden könne. Dass mir ein Arzt verbieten würde, zu fahren. Meinen Eltern konnte ich jedoch das alles hier nicht verheimlichen, denn die Wunde schmerzte wirklich sehr und ich
konnte kaum auftreten. Sie würden also etwas merken. Und so entschloss ich mich zu einer Notlüge.
Ich verband den Fuß so, wie ich es als Sanitäter gelernt hatte und wartete auf die Rückkehr meiner Eltern, die ja beide arbeiten waren. Denen erzählte ich dann von der Schnittwunde und dass ich bereits beim Arzt gewesen wäre. Der hätte gemeint, dass alles so weit in Ordnung sei und unserem Urlaub nichts im Wege stände. Solange ich den Fuß nicht zu sehr belastete. Und meine Eltern kauften es mir ab.
In den nächsten Tagen ließen die
Schmerzen auch wirklich nach und so machten mein Papa und ich uns mit unserem umfangreichen Campinggepäck auf den Weg zum Bahnhof. Viele Stunden später kamen wir am Campingplatz an und suchten uns einen schönen Stellplatz am Rande des Platzes und inmitten des Waldes. Ich weiß noch, dass ein Bach ganz in der Nähe war und wir die ganze Nacht das Plätschern des Wassers hörten. Also ich fand das schön. Hatte ich ja auch zu Hause in meinem Zimmer ein großes Aquarium mit einer blubbernden Sauerstoffpumpe zu stehen.
Nachdem wir das kleine Zelt aufgebaut und uns so gut es ging eingerichtet
hatten, schlenderten wir zum Kiosk, wo wir uns Bockwürstchen mit Brötchen und Senf bestellten. (Das gab es sehr oft während unserer gemeinsamen Urlaube. Preiswert und sättigend. Mehr braucht es nicht.) Dazu trank ich eine Limo und mein Papa sein Pivo (Bier). Später am Abend lief ich noch einmal dorthin, um mir etwas Süßes zu kaufen und meinem Papa noch einmal eine Flasche Bier. Und siehe da. Aus irgend einem Grund bekam ich das Bier zu einem merkbar günstigerem Preis. Daher beschlossen mein Papa und ich, dass ich in Zukunft immer einkaufen gehen würde. Verständlich,
oder?
:-)
Am nächsten Morgen erwachte ich und bemerkte, dass sich die Schmerzen in meinem Fuß wieder verschlimmert hatten. Nachdem sie die letzten Tage auf ein erträgliches Maß zurückgegangen waren. Ich vermutete, dass ich am Vortag den Fuß etwas zu stark beansprucht hatte. Die stundenlange Anreise und das anschließende Hin und Her auf dem Campingplatz selbst. Meinem Papa verschwieg ich vorläufig meine Schmerzen. Und als er mich fragte, ob wir zusammen etwas wandern gehen und
die Umgebung erkunden wollten, lehnte ich dankend ab. Und meinte, ich würde lieber hier auf dem Campingplatz bleiben. So zog mein Papa alleine los.
Nachdem ich alleine war, untersuchte ich meinen Fuß und das Bein genauer. Schon, um eine Blutvergiftung ausschließen zu können. Schließlich hatte ich mir die Schnitte in einem verdreckten Tümpel zugezogen. Aber irgendwelche komischen strichförmigen Verfärbungen in der Näher der Wunde waren nicht zu sehen. Was mich beruhigte. Also alles nicht so schlimm.
Da ich noch müde war, für mich zu
dieser Zeit eigentlich eher ungewöhnlich, legte ich mich wieder ins Zelt und schlief ein. Später fing ich echt an zu frieren und deckte mich mit allem zu, was ich zwischen die Finger bekam. Doch es half nicht wirklich viel. Ich zitterte immer noch, als mein Papa Stunden später wieder zurückkam. Schnell stellte er fest, dass ich ziemlich hohes Fieber hatte und entschloss, den Urlaub abzubrechen. Selbst gegen meinen eher halbherzigen Protest packte er unser Zeug zusammen und wir machten uns auf den Weg zur Straßenbahn, die uns zum Bahnhof bringen sollte. Doch selbst dieser nur etwa einen Kilometer weiten Fußmarsch
schaffte ich nur, weil mein Papa nicht nur seinen großen Rucksack und das Zelt, sondern auch noch meinen großen Rucksack trug und mich immer wieder mit Worten anspornte. Das Stückchen Straße kam mir elendig lang vor.
Ich weiß gar nicht, wie ich letztendlich nach Hause gekommen war. Nur noch, dass ich anschließend fast eine Woche im Krankenhaus verbringen musste. Wo mir ein weiteres Stück Glas aus dem Zeh operiert wurde. Wäre ich gleich zum Arzt gegangen und hätte die Verletzung sachgemäß behandeln lassen, so hätte ich mir einiges ersparen können. Und wahrscheinlich dennoch in die Ferien
fahren können. Aber so wurde dieser Urlaub mit rund 24 Stunden der wirklich kürzeste Abenteuer-Auslandsaufenthalt in meinem Leben...
Tja, nicht immer ist „DIY“ die beste Möglichkeit!
Abschließend sei noch bemerkt, dass ich bis heute kein Gefühl in meinem linken kleinen Zeh habe. Auch wenn die Narben nicht sehr zu sehen sind, ist alles Gewebe rund um den Zeh taub und ohne Gefühl. Als Kind habe ich gerne meine Schulkameraden oder Freunde damit geschockt, dass ich mir, ohne eine Miene zu verziehen, Nadeln in die betroffene
Stelle gesteckt habe. Die anderen waren echt beeindruckt. Und so hatte dieses Erlebnis dann doch noch etwas Gutes. Denn ich wurde von den anderen Kindern bewundert.