Von Mobbing, Mut und Missverständnissen
oder:
Warum Stärke nicht alles ist
Titel
Heute möchte ich euch von unserem letzten Jahr in Thüringen erzählen. Bevor wir nach 4 Jahren wieder zurück nach Kleinmachnow zogen.
In diesem Herbst wurde meine Schwester eingeschult. Da ich ja nicht in den Kindergarten ging, aber trotzdem auf die Schule vorbereitet werden musste, besuchte ich vormittags 2 Stunden die Vorschule, die sich im gleichen Gebäude befand. Und so bekam ich natürlich in den Pausen mit, dass meine Schwester immer wieder besonders von einem Jungen geärgert wurde. Ja, Mobbing gab es auch damals schon und auch in der
DDR. Auch wenn es nicht so hieß. Damals sprach man von unerzogenen Kindern...
Der Vorfall, von dem ich heute berichten möchte, ereignete sich im folgenden Winter. Der Schnee lag zu dieser Zeit bestimmt einen halben Meter hoch, denn Thüringen war ein schneereiches Gebiet. Und der blieb auch dauerhaft liegen. Wir Kinder spielten daher immer vor dem Haus mit unseren Schlitten. Machten kreischend Schneeballschlachten. Oder bauten Schneemänner.
An jenem Tag schaute ich gerade in dem Augenblick aus dem Wohnzimmerfenster
im 2. Stock auf die spielenden Kinder hinaus, als ich bemerkte, wie meine Schwester wieder von besagten Jungen geärgert wurde. O.k., meine Schwester verhielt sich auch wie das geborene „Opfer“, auch wenn ich dieses Wort in diesem Zusammenhang nicht mag. Aber es war so. Sie legte verhältnismäßig weite Umwege zurück, um den Heimweg von der Schule unbehelligt zurücklegen zu können. Sie heulte ständig, wenn sie in die Enge getrieben wurde und zeigte ihre Angst selbst vor kleineren Kindern.
Ich sah also, wie der Bengel meine Schwester beschimpfte und mit extra harten Schneebällen bewarf. Und sie
stand nur da und heulte. Doch das stachelte ihn nur noch mehr an. Er zog sie an den Haaren und schubste sie hin.
Schnell lief ich zu meiner Mutter, die im Bad gerade die schmutzige Wäsche für die Maschine sortierte und fragte sie, ob man denn den Jungen (...ich nannte ihn beim Namen, weiß aber natürlich heute nicht mehr, wie der war) verhauen darf, wenn er immer nur mit meiner Schwester stänkerte. Meine Mutter, in ihre Arbeit vertieft, meinte beiläufig, dass man das dürfe.
Als ich das o.k. Von meiner Mutter hörte, rauschte ich aus der Wohnung, die
Treppe hinunter und flitzte aus dem Haus. Der Junge stand mit dem Rücken zu mir und bekam daher nicht mit, wie ich da angerannt kam. Mit einem Satz sprang ich ihm auf den Rücken, sodass er das Gleichgewicht verlor und ebenfalls mit dem Gesicht im Schnee landete. Ich war wohl so in Rage, dass ich ihm auch noch seine Bommel von der Strickmütze abriss und ihn ordentlich einseifte, noch bevor er überhaupt wusste, was passiert war. Dabei brüllte ich ihn an, er solle gefälligst meine Schwester in Ruhe lassen. Und stopfte ihm auch noch Schnee in den Kragen.
Inzwischen hatte meine Mutter im
Badezimmer realisiert, was ich gefragt hatte, um welchen Jungen es sich handelte und dass ich aus der Wohnung gerannt war. Da der Nachbarsjunge, um den es sich handelte, bereits in der 3. Klasse war und somit ein ganzes Stück größer und stärker als ich, rannte sie mir schnurstracks hinterher. Als sie unten an der Haustür ankam, hatte ich bereits den Rückweg angetreten und flitzte wieder Richtung Haus, um mich in die Wohnung zu retten. Denn schließlich war mir schon klar, dass ich in einem „fairen“ Kampf keinerlei Chancen hatte.
Meine Mutter blieb also hinter der Haustür und außer Sichtweite von
draußen stehen und ließ mich vorbeirennen. Ich hatte sie in der Ecke neben den Briefkästen auch gar nicht bemerkt. Der Junge hatte sich inzwischen aufgerappelt und gecheckt, was passiert war. Und raste mir wutentbrannt hinterher. Diese Blamage wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Doch sobald er den Hausflur betrat, packte meine Mutter ihn am Kragen und fauchte ihn an, dass sie es seinem Vater sagen werde, wenn er noch ein einziges Mal mich oder meine Schwester anfassen solle.
Dazu sollte man sagen, dass der Vater sehr streng war. Und ihm nicht nur einmal die Hand bei der Erziehung seiner
Sohnes ausrutschte. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, warum der Junge sich schwächeren Kindern gegenüber so fies benahm. Aber wie auch immer. Von diesem Tag an hatten wir nichts mehr zu befürchten. Das Mobbing war vorbei und Ruhe kehrte wieder in die Nachbarschaft ein.