Titel
Bislang verlief mein Leben im Blachfeld ja eher langweilig für meine Schwester und mich. Denn in unserer Straße und unmittelbarer Umgebung wohnten nur kinderlose Ehepaare. Und die meisten befanden sich gefühlt für uns Kinder kurz vor dem Greisenalter. So kam es mir jedenfalls damals vor.
Hinzu kam, dass ich mit meiner Schwester nicht viel anfangen konnte. Sie war zwar nur 1 Jahr und 4 Monate älter als ich, aber grundverschieden, in allen Dingen. Sie war immer das brave Mädchen, ich brachte hingegen ständig
Chaos ins Haus. Nicht selten gab es daher Streit zwischen meinen Eltern.
Kein Wunder also, dass ich es mir zur Gewohnheit gemacht hatte, alleine durch die Gegend zu stromern. Über die weiten Felder rund um Kleinmachnow zu wandern, am Teltowkanal zu angeln oder mich unter beziehungsweise auf den Bäumen auszutoben. Doch das sollte sich nun ändern.
Denn im Sommer 1972 fuhr ein mit Möbeln vollgepackter LKW in unsere Straße und steuerte das Einfamilienhaus an, welches unserem genau gegenüberstand. Meine Schwester und
ich liefen an das Fenster in Flur und schauten neugierig hinaus. Wir hofften inständig, dass ein Kind in unserem Alter mit in das Haus einzog.
Am Anfang sah es gar nicht gut aus und enttäuscht dachten wir, dass die drei Jugendlichen, die da drüben tatkräftig mit anpackten, alles sei, was da komme. Und die waren ja viel zu alt zum Spielen. Bestimmt schon 16 oder so. Also fast doppelt so alt wie wir.
Doch dann sollten wir doch noch Glück haben. Der LKW musste mehrmals fahren, um das gesamte Mobiliar zu transportieren. (In der DDR wurde ja
alles in Eigenregie mit Freunden durchgeführt. Und so auch die Umzüge).
Und je öfter der LKW verschwand und mit Möbeln und Kartons wieder auftauchte, desto mehr Kinder erschienen auch auf der Bildfläche. Bei jeder Fuhre saßen zwei oder drei von ihnen einfach hinten auf der Ladefläche zwischen den Gepäckstücken. Anfangs freuten wir uns über jedes neue Gesicht. Irgendwann wurde es uns aber irgendwie unheimlich und wir überlegten, ob die wirklich alle mit zum Haushalt gehörten und hier einziehen würden. Oder ob sie einfach nur beim Umzug halfen.
Schließlich fuhr der LKW leer wieder davon und wir warteten gespannt am Fenster auf seine Rückkehr. Aber er kam nicht - und die Kinder blieben alle. Welch eine Freude!
Und so zog eine kinderreiche Familie ins Haus gegenüber. Nebst Mutter und ihrem Freund, der wohl nicht der Vater der Kinder war und auch nach wenigen Monaten wieder verschwand, gab es da noch Karl Heinz, der Älteste, der von allen nur „Sohnie“ genannt wurde, Andrea, Cornelia „Conny“, Karsten, Kerstin, Silvio „Bobby“ und Marion.
Ich freundete mich, wie bei Kindern so üblich, schnell mit ihnen an. Besonders mit Karsten und Kerstin, die in etwa meinem Alter entsprachen. Aber der ungefähr 2 Jahre jüngere Bobby erweckte mein besonderes Interesse. Denn als ich ihn das erste Mal sah, hatte er einen großen weißen Verband um den Kopf gewickelt. Beim Spielen war er vom Dach gefallen und hatte sich ein Loch im Kopf zugezogen. Faszinierend.
Es versprach doch noch ein toller Sommer zu werden. Meine Schwester war da etwas distanzierter. Sie war der
Meinung, dass die ganze Familie ganz schön verlottert aussahen und die Kinder unerzogen und „nicht zivilisiert“ waren. Etwas, das mich überhaupt nicht störte. Im Gegenteil. Ich fand das toll, mit ihnen abzuhängen Wie gesagt, besonders mit Bobby. Ich kann es nicht erklären, aber Bobby schien es genauso zu gehen. Da hatten sich die Richtigen gesucht und gefunden, wie meine Mutter später gerne kopfschüttelnd und leicht vorwurfsvoll meinte.
Bobby war wild und ungestüm und zog sich daher ständig kleinere und größere Verletzungen zu. Und das Loch im Kopf sollte auch nicht das letzte in seiner
Kindheit gewesen sein. Nur gut, dass seine Mutter gelernte Krankenschwester war und im Notfall immer schnell wusste, was zu tun war. Auch hatte sie sich eine routinierte Gelassenheit zugelegt und verfiel nicht jedes Mal gleich in Panik, wenn ihr Sohn mit gebrochenen Knochen oder ausgerenkten Gliedmaßen nach Hause kam.
Und das passierte relativ oft. Alle paar Monate musste bei Bobby etwas geschient, verbunden, eingegipst oder eingerenkt werden. Genauso cool, wie seine Mutter sich ans Werk machte, schien auch Bobby dabei zu sein. Ich sah ihn in all den Jahren nicht einmal
weinen. Und ich war ständig bei ihm, selbst, wenn er sich wieder einmal verletzte. Ich verbrachte in den nächsten Jahren mehr Zeit in dieser Familie als in meinem eigenen Elternhaus gegenüber. Denn von Stund an unternahmen Bobby und ich alles gemeinsam. Was meine Mutter anfangs wohl freute, da ich nun nicht mehr gelangweilt und maulend ihr auf die Nerven ging. Nun war ich ständig an der frischen Luft und ließ mich nur zu den Mahlzeiten blicken.
Doch irgendwann änderte sie ihre Meinung und sie fand, dass die Familie kein guter Umgang für mich war. Denn obwohl ich die ältere von uns beiden
war, übernahm Bobby meist die Führung und heckte allerlei Blödsinn bis hin zu mitunter auch gefährlichen Dingen aus. Und ich machte begeistert alles mit. Mein Schutzengel musste damals oftmals Überstunden schieben.
Doch ich scherte mich nicht drum, was meine Mutter sagte, denn wenn ich mit Bobby unterwegs war, konnte ich mich endlich so benehmen, wie ich mich fühlte. Konnte wie ein Junge auf Bäume klettern, mich mit anderen Jungs herumbalgen, durch das Dickicht schleichen und mich einsauen. Auch wenn es deshalb später immer Ärger gab. Mit Bobby an meiner Seite konnte ich
endlich so sein, wie ich mich fühlte. Ohne ständig zurechtgewiesen zu werden und hören zu müssen, dass „ich mich doch meines Alters entsprechend verhalten solle“. Oder noch schlimmer: „...wie ein Mädchen benehmen solle!“ Einer der Lieblingssätze meiner Schwester, den sie mir mindestens ein bis zweimal am Tag herabwürdigend an den Kopf knallte.
Mit meiner Mutter bekam ich auch ständig Stress, da ich ja ständig meine Klamotten zerriss oder verschmutzte. Daher gewöhnte ich mir an, in Jogginghosen und T-Shirts aus dem Haus zu gehen. Sachen, in denen ich mich
selbst heute noch am Wohlsten fühle. Selbst heute mit 60 schere ich mich nicht darum, was andere denken und laufe in meinen dunklen Joggingklamotten durch Berlin. Wen es stört, der soll eben woanders hinschauen. Und ein Gutes hat es auch. Ich bin noch nie beklaut oder nach nem Euro angebettelt worden.
:-D
Mein Vater sah die ganze Sache damals auch viel unkomplizierter. Nun gut, er war auch nicht oft zu Hause, da er in der Regel den ganzen Tag in Berlin arbeiten war. Aber er war der Meinung, dass sich jeder seine Freunde selbst aussuchen
sollte. Eltern bekam man vorgesetzt, die konnte man nicht austauschen. Aber bei Freunden war das anders. Eine Meinung, die ich ihm heute noch sehr hoch anrechne. Und nach denen ich mein gesamtes Leben lang gerichtet habe. Bis heute.
Und eigentlich hätte es viel schlimmer kommen können. Schließlich war Bobbys älterer Bruder Karsten, der in meinem Alter war und nach diesem Sommer auch meine Klasse besuchte, der Kriminelle in der Familie. Er schwänzte oft sie Schule und wurde sogar manchmal von einer Streife der Volkspolizei zum Schulbeginn im Klassenraum abgeliefert. Was ihn
aber nicht daran hinderte, sich in der nächsten Pause wieder zu verdrücken. Später fing er an, in Häuser einzubrechen und kam dann irgendwann auch in ein Erziehungsheim. So was wie ein Jugendknast in der DDR.
Und Andrea, die älteste Tochter, trank den ganzen Tag. Häufig hörten wir sie herumbrüllen und mit Türen knallen. Sie hatte einen kleinen Sohn, den sie sehr jung bekommen hatte und der damals vielleicht ein Jahr als gewesen war. Wenn Andrea wieder einen ihrer schlimmen Tage hatte, dann schloss sie sich in ihrem Zimmer unter dem Dach ein und überließ das Kleinkind ihren
Geschwistern. Was wahrscheinlich nicht die schlechteste Entscheidung für den Kleinen war.
Also ich fand, mit Bobby als Freund hatte ich es ganz gut getroffen. Nur schade, dass sich die Freundschaft irgendwann unmerklich aufgelöst hat. Aber erst, als sich unsere Wege trennten. Nachdem ich in die Lehre kam und fortan in einem Lehrlingswohnheim lebte. Doch bis dahin hatte ich mit Bobby die schönste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann. Frei und ungebunden.
Ohne Zeitdruck und die Möglichkeit für die Eltern, uns jederzeit mittels Handy kontaktieren zu können. Paradiesisch.
Ich denke gerne an die Zeit zurück.
Und in einer Woche erzähle ich euch mehr davon.