Im Dunkeln
Das Mädchen verengte seine Augen, als die Umgebung finsterer wurde und es kaum noch die eigene Hand sehen konnte. Mit einem ungesund klingenden Rattern und begleitet von einem langgezogenen Quietschen unter ihr fuhr der kleine Wagen hinein in den »Schlund der Hölle«, wie die Betreiber die lustig-schaurige Geisterbahn für Kinder nannten.
Sie war heute eine der Letzten, die sie nutzte, und somit allein. Nein, nicht ganz: Zwei Plätze hinter ihr, in der finalen Lore, saß ein Mann im schwarzen Hoodie. Er hatte sich die Kapuze tief ins
Gesicht gezogen, sodass sie jenes nicht erkennen konnte. Der Arm des Fremden hing lässig über der Rückenlehne neben ihm. Er regte sich kein Stück, als gehöre er selbst zum Kabinett aus Gruselfiguren, welches die wackelnde Bahn nun passierte. Er wurde sogleich von der Dunkelheit verschluckt. Der Eingang entfernte sich stetig, bis er nur noch ein kleines rundes Licht in weiter Ferne war.
Ab da war alles schwarz bis auf die blau und grün beleuchteten Gestalten aus Plastik, Draht und Kabeln.
Erst begegnete ihnen ein rauchspeiender Teufel, danach eine semi-schockierende Hexe, gefolgt von einem langweiligen Skelett, das seine Knochen schlackern
ließ und eher zum Lachen als zum Schreien aussah.
Das Mädchen war gelangweilt und fragte sich erneut, weshalb es überhaupt eingestiegen war. Mit ihren sechzehn Jahren war sie schließlich viel zu alt für so einen Kinderkram, fing nun sogar an, den Figuren die Zunge herauszustrecken oder ihnen den Mittelfinger zu zeigen. Anschließend ließ sie das Display ihres Handys aufleuchten und tippte eine Nachricht an ihre beste Freundin ein, die ausgerechnet heute das verabredete Treffen abgesagt hatte. Eigentlich hatten sie den Rummel zusammen unsicher machen, Zuckerwatte mampfen, mit der Achterbahn fahren und irgendeinen der
hässlichen Clowns verärgern wollen. Nach der kurzfristigen Absage hatte sie alles davon alleine getan. Aus Trotz und Frust war sie sogar noch einen Schritt weitergegangen und hatte gleich mehrere angemalte Männer gepiesackt, ihre Luftballons zerstört, Kinder drumherum absichtlich zum Weinen gebracht und sie allesamt aus- statt angelacht. Ja, manchmal konnte sie selbst eben auch ein speiender Teufel sein.
Die Fahrt dauerte länger als erwartet, und das Mädchen wurde zunehmend nervös. Nicht aus Angst, sondern weil sie ihre wertvolle Zeit verschwendete.
Auf einmal rumpelte es irgendwo in den Tiefen des Schlunds. Die Bahn hielt mit
einem letzten kläglichen Ächzen der Räder an. Ein kurzer Ruck ließ die Mitfahrende nach vorne fallen, weshalb sie sich mit beiden Händen am Rahmen abstützen musste und ihr Telefon in den Fußraum fiel. Sie fluchte leise und suchte das durch den Aufprall dunkel gewordene Smartphone, indem sie blind über den Boden tastete. Erleichtert wurde sie fündig und stellte die Taschenlampenfunktion an, um sich umzusehen.
Sie hielten bereits eine Weile. Zu lange für ihren Geschmack. Gehörte das etwa zum Programm?
Das Mädchen schwenkte den Lichtkegel in Richtung des hintersten Wagens, weil
sie beobachten wollte, wie sich ihr Beifahrer verhielt. Vielleicht kannte er das Prozedere bereits und war die Lässigkeit in Person. Doch der Sitz war leer. In keiner Lore entdeckte sie ihn.
Sie schluckte und spürte nun doch einen Schauer über ihren Rücken wandern. Danach schreckte sie herum, als ein Klappern ertönte, auf das ein langes Echo folgte. Anschließend ein Schleifen, als ziehe jemand seinen Fuß hinter sich her. Sie leuchtete in jede Ecke des künstlichen Stollens. Bis auf schmutzige Schienen und Wagen mit verwaisten Sitzen konnte sie nichts erkennen.
Die Einsame rief nach den Angestellten des Freizeitparks. Erst zaghaft, dann
kräftiger. Niemand kümmerte sich um sie, aber wenigstens verstummte das unheimliche Schlurfen endlich.
Ein weiterer derber Fluch glitt ihr über die trockenen Lippen, als sie mühsam ausstieg und nun neben der Bahn stand. Das Smartphone hielt sie krampfartig hoch. Durst übermannte sie, wurde aber von der aufsteigenden Furcht verdrängt, als sie ein Knacken direkt hinter sich hörte. Sofort wandte sie ich um, doch da war niemand. Auch nicht der verschwundene Mitfahrer. Womöglich hatte er selbst keine Lust mehr gehabt, war den Schienen bis zum Eingang gefolgt und nach Hause gegangen. Der Park würde bald schließen, also musste
sie sich ebenso beeilen, sonst würde man sie hier noch bis zum nächsten Tag einsperren.
Gerade, als sie sich wieder umdrehen und dem faden Lichtschein nach draußen folgen wollte, fühlte sie einen warmen Luftzug an ihrem Ohr. Geschockt fuhr sie herum und blickte dem Atmenden direkt in die hässliche Fratze. Ihr Handy beleuchtete ihn von unten und ließ die Furchen in seinem Gesicht nur noch tiefer und schattiger erscheinen. Die schwarze Kapuze des Pullovers hatte sich der einst unbewegliche Mann - wenn sie ihn überhaupt so nennen konnte - vom Kopf gerissen und eine grauenhafte Visage zum Vorschein gebracht. Er
bleckte die spitzen Zähne und grinste ihr gefährlich entgegen. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, und seine Augen waren gelb unterlaufen, die rissige Haut weiß und rot bemalt. Die Farbschichten waren so alt, dass sie bereits abblätterten. Er gluckste verrückt und heulte ohrenbetäubend, als sie um ihr Leben schrie.
Das Mädchen befreite sich aus seiner Starre und schmiss dem Horrorclown sein Telefon entgegen, weil es das einzige Mittel war, mit dem es sich verteidigen konnte. Danach rannte sie so schnell wie nie zuvor und wich seinen ekelhaften Griffeln aus, die er nach ihr ausstreckte, um sie damit zu packen. Sie meinte
sogar, die aufblitzende Klinge eines Messers zu erkennen, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Die Gejagte hetzte, ohne einen Blick zurückzuwerfen, Richtung Ausgang. Ihre Schreie klangen fremdartig für sie selbst, und das Echo ihrer eigenen panischen Stimme verstärkte ihre Angst.
Draußen erwartete sie die angebrochene Dämmerung und eine kleine Menschentraube. Sie warf sich in die Arme eines Mannes und zeigte zitternd auf den »Schlund der Hölle«. Ihr Gesicht war klebrig vor Tränenflüssigkeit und ihre Schminke ziemlich sicher verschmiert. Die Farbe brannte in ihren
Augen.
Als sich niemand regte und manche die Szene lieber mit der Handykamera filmten als ihr zu helfen oder etwas zu unternehmen, stutzte sie irritiert und erklärte die anderen kurzerhand für verrückt.
Dann trat der Kerl mit dem Hoodie, das Monster, ins Freie und rannte torkelnd und mit einem schrecklichen spitzen Schrei auf sie zu. Das eine Bein zog er dabei ein Stück nach. Wieder entwich ihr ein Kreischen, und beinahe hätte sie sich doch noch in die Hose gemacht.
Das Lachen und Hüsteln drumherum ließ sie innehalten. Daraufhin sah sie, was so komisch war: Der Clown zog sich die
schaurige Maske vom Kopf und zeigte mit dem geschminkten Finger auf sie. Auch er lachte schallend los. Ein Gejohle brach aus.
Man hatte sie hereingelegt und dafür bezahlen lassen, was sie den Menschen auf dem Jahrmarkt heute angetan hatte.
Ende