Wie alles begann….
„Weshalb hat dein Opa eigentlich das Schachspiel auf die Flucht mitgenommen? Ist ja nicht gerade eins für die Hosentasche.“ Felix zog seinen Läufer auf e3. Darauf hatte ich nur gewartet und zog meinen Turm auf a1: „Schach!“
Letzte Woche hatte ich mit Felix das Schachspiel von meinem Dachboden geholt, abgestaubt und aufgebaut. Dabei hatte ich ihm erzählt, dass mein Opa dieses handgeschnitzte Spiel auf seiner
Flucht aus Oberschlesien mitgenommen hat. Felix` frage nach dem „Warum?“ konnte ich jedoch nicht beantworten.
Vorsichtig hob er das Schachbrett hoch und guckte auf seine Rückseite. „Nichts!“, sagte er enttäuscht. Er zeigte mit dem Kopf auf die Kiste neben mir: „Guck doch mal, ob es auf der Figurenkiste einen Stempel gibt.“. Treffer! Es gab ihn tatsächlich. Im Deckel. „Emil Gerstberger, Holzbildhauer, 1903, Nieder-Hillersdorf“ stand dort.
„Komm, lass uns nachschauen, wo dieses Nieder-Hillersdorf liegt und
spielen später weiter.“ Wir gaben den Namen bei google-maps ein und bekamen einen Ort angezeigt, der nur knapp 130 km von Hindenburg entfernt lag, dem Ort, an dem mein Vater als kleiner Junge wohnte. Auf der Karte sahen wir allerdings noch einen weiteren Namen:Auschwitz! Auschwitz warvon Hindenburg grad mal 60 km entfernt.
„Das hab ich nicht gewusst!“, rief ich erschrocken. Felix fing sich als erstes von dem Schreck: „Sag mal, hättest Du nicht Lust, hinter das Rätsel deines Schachspiels zu kommen? Vielleicht kriegst du ja raus, weshalb es dein Opa mit auf die Flucht nahm. Ich mein, das
ist doch lebendige Geschichte, wie du sie magst.“
Mit dieser Unterhaltung begann eine Reise in die Vergangenheit; immer entlang an dem handgeschnitzten Schachspiel, das ich von meinem Vater geerbt hatte, der es wiederum von seinem Vater geerbt hatte und der von seinem Vater, meinem Uropa.
In den nächsten Tagen verwandelte ich meinen Schreibtisch in den Arbeitsplatz einer Historikerin. Und ich begann Fragen zu stellen, auf die ich recht unliebsame Antworten bekam. Meine Quellen waren meinen
Kindheitserinnerungen, die Schwarz-Weiß-Fotos meiner Großeltern, die Briefe meines verstorbenen Vaters, die Erzählungen seiner zwei Ehefrauen, Geschichtsbücher, Dokumentationen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und natürlich das handgeschnitzte Schachspiel selbst.
Zweimal 16 Figuren, in aufwändiger Handarbeit geschnitzt. Die hellen Figuren natur belassen, die dunklen schwarz gebeizt. Einem weißen Läufer fehlt das rechte Bein. Außerdem gibt es eine Figurenkiste, in der die Figuren passgenau hineingelegt werden. Und es gibt ein Schachbrett, 30 x 30 cm,
bestehend aus 32 hellen und 32 dunklen Feldern, quadratisch angeordnet in acht waagerechten Reihen und acht senkrechten Linien.
1. Sonntag
Als wir uns am nächsten Sonntag wieder trafen, um eine neue Partie zu spielen, berichtete ich Felix, was ich inzwischen herausbekommen hatte.
Während wir das Spiel aufbauten, schmunzelte ich ihn an: „Ich weiß jetzt übrigens, wie mein Vater gezeugt wurde: … Auf dem Rücksitz eines Fords; im Karneval.“ Felix hob grinsend den Kopf.
„Krass!“
„Nach neun Monaten erblickte mein Vater, Oskar Schlehmann, den Kreißsaal eines Berliner Krankenhauses; ungewollt!“
„Wann war`n das?“
„1938. Im Dezember. Einen Monat früher brannten hier die Synagogen und ein halbes Jahr später überfielen deutsche Soldaten Polen.“
„Was für eine Zeit! Hast du noch was rausbekommen?“
„Ja! Hör zu: Die Mutter meines Vaters, übrigens eine Fremdsprachen-Telefonistin, zog als `ledige Mutter`, ohne den Erzeuger, in eine kleine Wohnung in der Berliner Kantstraße.“
„Wow, is` heute ja schon anstrengend für Alleinerziehende. Wie muss das erst damals gewesen sein?“
„Zum Glück fand sie schnell eine
Tagespflegestelle, bei der sie meinen Vater abgab, während sie wieder im Fernmeldeamt arbeitete.“
„Prima!“
„Da aber ledige Mütter im Deutschen Reich nicht sorgeberechtigt waren, bekam mein Vater sofort einen Amtsvormund.“
„Stimmt, das mit dem Amtsvormund hab ich mal gehört. Blond und blauäugige Kinder wurden von ihren Amtsvormündern sofort in die `Fürsorge` des Staates und seiner Heime überführt, um zu guten Ariern erzogen zu werden.“
„Genau! Denn durch den Ersten Weltkrieg gab es so wenig
zeugungsfähige Männer, dass die deutsche Geburtenrate unter das so genannte `Bestandserhaltungsniveau` sank, was schlecht war für Hitlers Pläne. Auch die vielen Abtreibungen störten die Partei.“
„Klar, da ging wichtiger Nachwuchs verloren“, nickte Felix.
„Um Anreize für Austragungen zu schaffen, wurden damals Einrichtungen wie der „Lebensborn“ gegründet. Dort wurden ledige Mütter bei der Entbindung und später dann ihr Nachwuchs „betreut“.“
„…. sofern das Kind für die NSDAP
rassisch und erbbiologisch wertvoll war“, ergänzte Felix.
„Yepp. Mein Vater war blond und blauäugig. Der gesetzliche Vormund drängte also zur Abgabe in die Hände der NSDAP. Dort sollte er entweder bleiben oder aber einem parteitreuen Elternpaar übergeben werden. Mein Vater kam, da er außerdem katholisch war, in das konfessionelle Don-Bosco-Kinderheim in Berlin-Wannsee.“
„Was du alles schon rausbekommen hast“, staunte Felix.
„Es geht noch weiter. Im Heim blieb mein Vater nur für kurze Zeit. Ein streng gläubiger Augenarzt und seine Frau, eine
Hausgewerbelehrerin, adoptierten ihn. Meine Großeltern müssen sehr parteitreu gewesen sein, sonst hätten sie ihn nicht adoptieren dürfen. Ich hätte es lieber gehabt, wenn sie keine braven Nazis gewesen wären. Es müssen ja nicht gerade Widerstandskämpfer gewesen sein. Aber wenigstens nicht so eindeutig NSDAP-gläubig.“
„Sieh das doch mal so“, versuchte Felix mich zu trösten. „Wenn deine Großeltern nicht parteitreu gewesen wären, hätten sie deinen Vater nicht adoptieren können. Und dann hätte er `n völlig anderes Leben gehabt und deine Mutter nicht getroffen. Und dann wärst du heute nicht
hier und würdest mit mir Schach spielen.“
„Da hast du wohl Recht!“ antwortete ich mühsam grinsend. „Genug für heute. Und jetzt lass uns spielen. Du darfst die Farbe wählen.“