Alfred 2016 (Großvater 2.0)
Alfred. Er hätte dieser Tage Geburtstag, seinen hundertsechzehnten, wenn er denn noch leben würde. Dann wäre er damit auch längst der älteste Mann Deutschlands, habe ich im Internet ermittelt, denn mehr als Hundertelf Jahre hat wohl noch keiner geschafft. Aber der Großvater lebt nun schon über sechsundzwanzig Jahre nicht mehr.
Alfred ist ordentlich alt geworden, neunundachtzig Jahre immerhin, wenige Wochen nach seinem Geburtstag starb er. Plötzlich. Unerwartet. Und wenn sich einer jetzt die Mühe der Rechnerei gemacht hat, wird er ohne Zweifel
feststellen, dass der Mann genau in dem Jahr starb, als wir den als »Wende« bezeichneten Umbruch des Landes DDR erlebten. Alfred war Jahrgang 1900. Er starb im Frühherbst.
Wir, seine Kinder, seine Enkel, die Urenkel auch, jene, die ihn noch kannten, alle waren und sind sich einig in der Feststellung: Nur gut, dass er, der Großvater, diese Wende nicht mehr miterleben musste – er hätte es nicht verstanden!
Hätte er nicht?
Woher wissen wir das?
Seine Todesanzeige erschien damals im ND, der Zeitung »Neues Deutschland«, Organ des Zentralkomitees der SED, die
republikweit erschien. In der Anzeige hieß es »… der Arbeiterveteran Alfred K. …«
Arbeiterveteran – das hätte ihm gefallen, wissen wir. So sah er sich gern, einer, der die Zukunft mithalf aufzubauen und die Arbeiter-und-Bauern-Macht. Was des Volkes Hände schaffen, sollte des Volkes Eigen sein. Einer derer, die nach Krieg und Gefangenschaft die Ärmel aufkrempelten, um mitzutun an der großen Sache, die sich Sozialismus nannte und genau das Gegenteil von dem sein sollte, was die Menschen bis dahin erlebt hatten, nämlich Unterdrückung, Faschismus und Krieg. Die gute Sache schlechthin, die vermeintlich gerechteste
aller Gesellschaftsformen, die später diktatorischer Unrechtsstaat genannt werden wird.
Ich bin jetzt so alt wie der Großvater damals, als ich ihn mehr oder weniger bewusst kennenlernte. Da war ich vier. Er war sehr groß (Kam daher sein Name?), eindrucksvoll und immer voller Verständnis. Er trug eine Brille, die gefälligst nicht durch meine Tobereien kaputtgehen durfte und eines Tages natürlich trotzdem auf dem Küchenfußboden landete und bei der - knetsch – ein Glas zersprang, und ich
war schuld. Eine Brille, wie seine Frau, die Großmutter, sie auch trug, aber die Großmutter war weniger fürs Spielen, sondern rauchte nur und redete und dass sie auch gern trank, erfuhr ich erst später als Erwachsener. Ich staunte als Kindlein, dass der Großvater sich manchmal gleich zwei Zigaretten anzündete. Na ja, eine für die Großmutter eben. Mehr weiß ich eigentlich nicht von ihr, sie starb bald darauf. Ausgerechnet an einem Weihnachtsabend, aber ich war noch zu klein, das in seiner Gewichtigkeit zu begreifen. Der Großvater nahm sich nachher nie wieder eine Frau, sondern blieb solo. Selten, dass er mal auf den
Friedhof ging, wenn ich ihn besuchte, selten auch, dass er mich mitnahm. Der Friedhof lag ein gutes Stück außerhalb der Stadt, weit zu laufen; das Grab der Großmutter war schlicht, sehr schlicht. Nur ein bepflanztes Hügelchen, weiter nichts. Kein Stein, kein Kreuz. Ich würde es nicht wiedergefunden haben, denke ich. Heute wird es längst nicht mehr existieren. Der Großvater selbst, der ja nun viele Jahre später starb, hat gar kein Grab. Anonymes Urnenfeld. Keine Grabpflege, aber auch kein ordentlicher Gedenkort. Meine Eltern wollten es so und sind inzwischen selbst derart verbracht; auch das wollten sie so.
Manchmal träumt mir, es gebe meine Eltern noch, und den Großvater auch. Die ganze Toterklärung wäre Spinne und sie lebten überaus hohen Alters immer noch munter weiter, stellten immer noch hohe und auch neue Ansprüche und bestimmten weiter sehr vordergründig mein Dasein. Dann ärgere ich mich.
Nur den Großvater, den nehme ich an, der ist mein alter Kumpel. Ich muss ein wenig aufpassen, weil er ja schon hundertsechzehn Jahre alt ist und ganz gewiss nicht mehr so können kann wie einst, aber ich weiß, er macht immer noch »sein Ding«, und er sagt, ich solle
ihm Zigaretten besorgen. »Aber keine bulgarischen!«
»Rauchen? In deinem Alter?«, frage ich.
»Ja«, sagt er dann. »Wer lange raucht, lebt lange.«
Der Großvater, als ich ihn – etwas älter, vernünftiger geworden – besser kennenlernte, war Hausmeister in einem Ferienheim in einem kleinen Ostseebad. Musste Kohlen schippen für die Heizung, musste sich um kleinere Reparaturen kümmern, gelegentlich den Rasen mähen oder den Schnee vor dem Eingang beräumen, hatte immer irgendwas zu tun
und tat das auf eine durch und durch ruhige, gemessene Art. Er schien mir wie ein überaus ausgeglichener und ruhiger Zeitgenosse. Wenn ihm so war, machte er Pause, rauchte seine Zigarette.
»Niemals irgendwas arbeiten mit der Zigarette im Mundwinkel, Junge!«
Das hatte ihm mal einer der »Freunde« gesagt: »Wenn du arbeiten, dann du arbeiten, wenn du rauchen, dann du rauchen.« Die Russen, die nannte er immer »die Freunde« – auch die, von denen er sprach, wenn er von seiner Gefangenschaft im Kaukasus erzählte.
»Da gab es eine Ärztin, die sich um die Gefangenen zu kümmern hatte. Eine schöne Frau, ein ›Weib‹ sagten wir – das
verstehst du erst später. Und diese Frau Doktor hatte immer zwei Hunde mit. Große, schöne Hunde. Eines schönen Tages …« – er eröffnete seine Geschichtenkapitel gerne mit der Formel ›… eines schönen Tages …‹ – »Eines schönen Tages also hatte sie bei uns ihre Untersuchungen gemacht und wollte nun los und suchte ihre Hunde. Die waren weg. Du wirst es nicht glauben, da hatten doch ein paar von den Gefangenen die Hunde geklaut und gefressen!«
Ich war zehn ungefähr – ich fand’s lustig. Ich glaub, ich fand’s noch lange lustig, Kinder sind so dumm.
Als ich älter wurde, erfuhr ich mehr über des Großvaters Arbeitsleben. Er war
Schiffbauer auf der Werft, die nach dem Krieg in der Stadt entstand, bald sogar Meister. Lange Jahre. Eines schönen Tages – ja, ich kann auch in diesem Stil erzählen – Eines schönen Tags also gab es wohl Unstimmigkeiten bei den Stundenabrechnungen. Der Großvater hätte da was manipuliert; nicht um sich selbst zu bereichern, sondern eher, um einen seiner Schweißer, einen rein körperlich nicht ganz so tüchtigen, der dafür aber Frau und vier Kinder zu versorgen hatte, ein wenig zu stützen. Von Betrug war die Rede. Kurz und gut – ›kurz und gut‹, ebenfalls eine von Großvaters Lieblingserzählformen um das Finale einzuleiten – kurz und gut, die
Sache flog auf und der Großvater wurde zur Rede gestellt, Aussprache vor dem Kollektiv und ebenso vor der Parteiversammlung. Dieser Schweißer, genauso wie der Großvater Genosse, wenn auch nicht unbedingt der vorbildlichste, sollte bekennen, dass das alles eben für ihn geschehen sei. Hat er aber nicht. Blieb stur. Man könne ihm nichts nachweisen. Und dann tat der Großvater etwas, was ihm im Ergebnis schwer angekreidet wurde: Er schmiss den Genossen sein Parteibuch hin und ging. Als Meister wurde er sofort abgelöst, degradiert quasi. Er tat noch mehr: Er verließ die Werft ganz und gar und arbeitete fortan – für deutlich
weniger Lohn – als Hausmeister, woanders, in einem kleineren Seebad. Bis zur Rente und noch ein paar Jahre darüber hinaus. Er begnügte sich mit einem sehr schlichten Mitarbeiterzimmer in dem Ferienheim in dem er auch arbeitete und lebte sehr zurückgezogen. Den Feierabend verbrachte er oft mit Bier und Skat im »Kurhaus«. Das war so sein Tun in der letzten Phase seines Arbeitslebens, an dem ich manchmal ein wenig teilhaben durfte, wenn ich ihn in den Sommerferien besuchte für ein oder zwei Wochen. Zeiten, an die ich mich sehr gern erinnere, als er Spaziergänge mit mir unternahm, wir am Salzhaff entlanggingen oder auf den
Schmiedeberg, er mir von den Hühnengräbern erzählte, die es in der Nähe gab. Ich durfte nahezu alles: baden, rumtoben, ein Ruderboot ausleihen und aufs Haff rausfahren (»Aber nicht so weit, hörst du?«), abends zu Besuch bei Freunden des Großvaters, Räucheraale essen, bis mir schlecht wurde.
Manchmal glaube ich, ich müsste meinen Enkeln ein ebensolcher Großvater sein, wie Alfred es für mich war. Aber das geht nicht, ich bin anders gestrickt. Habe zu wenig Gelassenheit. Zu wenig Weisheit sicher auch. Und ich rauche
schon lange nicht mehr. Dann denke ich: Wo genau liegt der Unterschied, an welcher Stelle kann ich mich ändern, um ihm vielleicht ähnlicher zu werden? Und dann ahne ich, dass der Großvater vielleicht irgendwann zu einer Erkenntnis gekommen sein muss, spätestens seit seinem Fortgang von der Werft, die ihm eine Art »innere Zufriedenheit« beschert hat, die ihresgleichen heute vermutlich nicht mehr findet. Ein Gefühl, das einem sagt: »Bis hierhin bin ich gekommen. Gut ist’s. Mehr will ich nicht.«
Ich kann so nicht denken. Noch nicht. Sonst wäre ich kein Schriftsteller. Vielleicht war Alfred schlichteren
Gemüts. Wenn ja, dann ist das gewiss nichts Schlechtes.
Wir als Enkel, es gab durchaus mehrere, haben »Großvater« zu ihm gesagt und wir haben es uns so erklärt, dass es in unserer Familie Tradition sei, den Vater der Mutter – Alfred hatte zwei Töchter – »Großvater« zu nennen. Die Väter der Väter hießen »Opa«. Alfred war mein Lieblingsgroßvater und ich sein Lieblingsenkel. Ich war der »Große«, nämlich der älteste von allen, und somit auch der am klügsten zu Seiende und also derjenige, der, zumindest in den
Augen meiner Eltern, am wenigsten der Förderung Bedürfende, die emotionale Förderung mal eingeschlossen. Die konnte mein Großvater mir wohl geben. Das jedenfalls sind so meine Erkenntnisse, die sich im Altersrückblick zeigen, wenn ich darüber nachdenke, warum ich wohl so geworden bin wie ich bin. Der Großvater, der Hundertsechzehnjährige pflichtet mir da ganz sicher bei, so sehe ich ihn heimlich.
Mit Anfang Siebzig ging der Großvater dann nun doch in Rente, verließ sein idyllisches Ostseebad und zog zu meinen Eltern, die auch wieder mal einen neuen Lebensabschnitt begonnen hatten, mit beruflichen Veränderungen und
Ortswechsel und einem selbst erbauten kleinen Eigenheim als Dienstwohnung des Vaters für seinen hochgestellten Posten beim Feriendienst des FDGB. Häuschen war da, Platz war da, also nahmen sie den alten Vater meiner Mutter bei sich auf. Ich selbst ging da schon meine eigenen Wege und kam nur noch gelegentlich zu Besuch. Der Großvater, der im neu zu entdeckenden Dorf oft auch von anderen Leuten einfach »der Großvater« genannt wurde, übernahm quasi die Hausmeisterstelle im Eigenheim. Bekannt im Ort mit seinem Hunde, wenn er seine Spazierrunden durchs Dorf drehte, ein Original fast. Einer, der Ruhe ausstrahlte und immer
freundlich war und eben »sein Ding« machte, knapp zehn Jahre lang.
Dann zogen meine Eltern abermals um, in »die große Stadt« nun, wollten sich wieder einmal verändern. Unstetes Völkchen. Den Großvater konnten sie nicht mitnehmen, wollten sie auch nicht. Mutters Schwester wurde überzeugt, überredet, überrumpelt vielleicht auch, den Alten bei sich in Thüringen aufzunehmen, samt dem Hunde, der zwar offiziell meinen Eltern gehörte, aber für den sie nun ebenfalls keine weitere Verwendung hatten. Preis der Aktion - ob
und wie lukrativ weiß ich nicht - meine Mutter verzichtete zugunsten ihrer Schwester auf ihren zu erwartenden Erbteil. Der Großvater hatte ja seiner bescheidenen Lebensansprüche wegen nur einen geringen Teil seiner Rente verbraucht, da war wohl Geld auf dem Sparbuch. Aber ich weiß es nicht, es hatte mich auch nie interessiert.
Den Großvater sah ich später nur selten noch, der war nun ein bisschen ins Abseits geraten für mich. Thüringen ist weit weg von der See. Manchmal habe ich den Familienzweig besucht, wenn mich zum Beispiel eine Dienstreise in diese bergige Gegend führte, habe Tantchen (mein Lieblingstantchen) und
die Cousine und die Cousins besucht, den gerade aktuellen Onkel und natürlich auch meinen Großvater. Und ich hatte den Eindruck, das gefiel ihm damals genau so und er durfte erzählen, was er doch so gern tat und ich hörte wieder gern zu. Auch bei den »ollen Kamellen«, die ich längst kannte. Das war schön so.
Manchmal hat er nun schon mit seinem Alter gehadert. »Ich werde ja bald Neunzig, was will ich da noch groß.« Zu meiner Tante soll er mal gesagt haben, während des jährlich anstehenden Frühjahrsputzes in seinem Zimmer: »Na, das brauchste dann ja wohl nächstes Jahr nicht mehr für mich zu machen.« Und sie: »Ach, das haste mir doch vorchtes
Jahr ooch schon versprochen und vorvorchtes ooch …« Man verstand sich auf seine eigene, ganz familiäre Art.
Als der Großvater starb, kurze Zeit vor dem ›real existierenden Sozialismus‹ in der DDR, hatte das niemand so schnell erwartet.
Als der Großvater starb, ging uns das nahe und wir sagten: ›Ach Gott, so plötzlich‹; und dachten heimlich: ›Na endlich‹.
Als der Großvater starb, war sein treuer Hund schon ein Jahr tot; eingeschläfert, weil über sechzehn Jahre alt und blind
und taub und Rheuma und weil es einfach nicht mehr ging.
Als der Großvater starb, sagten wir: »Ein Glück, dass er die Wende nicht mehr miterleben musste, er hätte es nicht verstanden!«
Der Trauerredner hätte es vielleicht ähnlich formuliert. Aber es gab keinen Trauerredner. »Wozu einen Mann bestellen, der einem dann das erzählen wird, was wir ihm vorher gesagt haben?«, hatte meine Mutter gemeint. Es gab nur eine stille Beisetzung, eine Anzeige im »ND« und ein Essen in einem DDR-typisch heruntergekommenen Hotel mit einem einstmals vornehmen Namen.
Hätte mein Großvater den politischen Umbruch verstanden? Nachts sagt er mir, er hätte nicht nur, er hat. Er verstand sowieso viel mehr, als wir alle je dachten.