Erinnert Ihr euch noch? Vierzig Jahre sind nun schon vergangen bisher. Mindestens.
Die Braut, ganz in weiß und silber, auf dem weißen Pferd, im Schnee; dem Prinzen vorauseilend ins ganz große Glück. Unser Aschenbrödel heiratet, hurraaa! Ein herrliches Schlussbild. Und die Musik so schön, dass sie uns bis heute in den Ohren klingt, vornehmlich zur Weihnachtszeit. Ja, ja, lang ist’s her. Wer ich bin? Na, wenn ihr euch an die Braut erinnert, dann sicherlich auch an mich, denn ich bin, nein, ich war der freche Küchenjunge (der mit der Stimme von Carmen Maja Antony). Und ich bin natürlich längst kein Küchenjunge mehr, sondern seit Jahren schon Chefkoch am
königlichen Hofe. Denn dort, im Schloss, konnte ich nach Aschenbrödels Hochzeit und durch ihren Zuspruch meine Ausbildung machen und habe dadurch auch ihr weiteres Leben aus nächster Nähe beobachten können. Die ganze Geschichte ging also folgendermaßen weiter: Nachdem sich der Königssohn seine Braut nun ausgewählt hatte, wurde sogleich die pompöseste Hochzeit seit Menschengedenken gefeiert. Alle waren sie eingeladen, alle … Selbstverständlich auch die Stiefmutter und ihre Tochter Dorchen, die bei dieser Gelegenheit einen jungen Grafen kennen lernte, mit dem sie sich kurz darauf vermählte und
in sein Schloss übersiedelte. Die Stiefmutter dagegen blieb auf ihrem Hof und mehrte ihren Reichtum, was ihr als enger Anverwandter der jungen Königin und damit im Zusammenhang einiger trefflicher Beziehungen nicht schwer fallen sollte. Nach ihrem Tod vor beinahe zwanzig Jahren hat ihr Schwiegersohn, der Graf, den Hof und die Reichtümer mit übernommen und die Privilegien dazu und allen geht es prächtig – na ja, der Herrschaft jedenfalls. Dem Gesinde geht es wie eh und je – bescheiden. Aber ich schweife ab, ich wollte ja von Aschenbrödel erzählen. Natürlich, der junge Prinz, die große
Liebe. Die Hochzeit. Der König und die Königin hatten geplant, nach der Hochzeit die gesamten Regierungsgeschäfte Schritt für Schritt ihrem Sohn zu übergeben und sich einen gutbehüteten Ruhestand einzurichten. Was sich aber dann doch nicht als so einfach erwies. Was waren denn die Vergnügungen des Prinzen bis dahin? Natürlich, wir erinnern uns. Es waren die Jagd und der Frohsinn und die Herumalbereien mit seinen Freunden. Das alles sehr zum Leidwesen des Herrn Präzeptors, wie wir wissen, der den jungen Herren bis zum Abschluss ihrer Studien auch weiterhin stets hinterher rannte. Der Prinz und seine Lust zum
Müßiggang. An der auch die frisch entbrannte Liebe zu Aschenbrödel nicht eben fundamental etwas zu ändern vermochte. Drücken wir’s mal so aus: einmal Luftikus – immer Luftikus. Unser Aschenbrödel sah sich schon bald moralisch auf der Seite des alten Königspaares und fiel in die Vorhaltungen und Ermahnungen zum »Ernst des Lebens« mit ein. Umso mehr, als sich bald schon herausstellte, dass sich da Zuwachs unter Aschenbrödels rosarotem Schürzenbandel ankündigte. Das hatte den jungen König wie auch den ganzen Hofstaat zwar über alle Maßen entzückt, veranlasste ihn aber nicht wesentlich, seinen gewohnten
Schlendrian aufzugeben. Und weiter seinen Mummenschanz zu treiben und seinen Gelüsten nachzugehen. Das Leben sollte sich also nicht nur rosig entwickeln und für unser Aschenbrödel noch so manche zu knackende Nuss bereithalten. Die erste war da ganz sicher schon das wunderbare Baby, das Aschenbrödel ein gutes Dreivierteljahr nach der Hochzeit gebar: ein acht Pfund schweres, rosiges, herzallerliebstes Mädelchen, das den Namen Alrunde erhalten sollte. Eine goldige Prinzessin. Aber eben nicht der ersehnte Stammhalter. Den ganzen Hof hat das bezaubernde klitzekleine Fräulein aufs
Äußerste entzückt. Dem jungen König indes ein wenig Missmut ins Gesicht gemalt. Aber was soll’s, man würde es einfach noch mal versuchen. Sobald sich der Leib der geliebten Gattin wieder einigermaßen grazil darbieten würde, denn die körperliche Entwicklung seiner Frau in den letzten Monate war irgendwie wenig dazu angetan, den Liebesrausch des jungen Monarchen adäquat zu entfachen. Der sah sich stärker noch zu Jagd und Gelagen hingezogen und ließ die Schelte des Vaters und der Gattin am königlichen Arsch vorbei ziehen. Aschenbrödel nun erblühte als junge Mutter aufs Neue. Sie war so schön wie
eh und je, schöner noch, fraulicher noch, sie war ja nun beileibe kein kleines Hühnchen mehr. Das junge Paar liebte sich. Und stritt sich auch gelegentlich, so was bleibt ja nicht restlos aus, nicht wahr? Als ich zum Koch ernannt wurde und mich in der Lage sah, ein Mädchen zu freien, war nach der ersten großen Verliebtheit auch reichlich Anlass für Differenzen und kleine Zwistigkeiten, wie das Leben eben so spielt. Aber ich merke gerade, ich schweife schon wieder ab. Nun ist man bei Hofe keineswegs überlastet mit Familie und Kind, denke ich mir, denn da gibt es stets die emsigen Bediensteten, die um die junge
Herrschaft herumwuseln und die Arbeit verrichten, die getan werden muss von der Amme und dem Kinderfräulein. Das ist eben doch anders als bei unsereinem, wo meine Gretel alles allein machen musste mit dem Haushalt und den Kindern, allen sieben, aber ich will gar nicht klagen, es ging und geht uns doch gut all die Jahre hier im königlichen Schloss. Aschenbrödel freilich fand wohl, dass sich ihre Träume nicht so ganz erfüllten und dachte gern an ihre Zeit auf dem elterlichen Hof zurück, an die Ausritte mit dem treuen Pferd Nikolaus und dem Hund Kasperle. Ihr Vater hatte ihr das Reiten beigebracht und das Schießen mit
der Armbrust, hatte ihr die Schönheit der Natur gezeigt und die Freude im Leben nahegebracht. Nun gut, nach seinem Tode, als sie für die Stiefmutter und das dicke Dorchen schuften musste, blieb wenig Zeit, unbekümmert durch die Wälder zu streifen. Aber jetzt? Im Schloss? Verheiratet mit dem Prinzen und nun selbst Mutter? War das nun der Inbegriff des Lebensglücks? Aschenbrödel, die ja nun gar kein Aschenbrödel mehr war, sondern eine königliche Herrin, hätte sich gewünscht, zusammen mit ihrem Angetrauten weitschweifende Ausritte zu unternehmen, auf die Jagd zu ziehen, durch die Wälder. Ein, zwei Mal taten sie
das auch, jungverliebt. Die Schwangerschaft allerdings verwies sie nur allzu zeitig auf den ihr nun zustehenden Platz: bei den Frauen im Schloss. Konversation mit der Frau Königin und ihren Hofdamen. Sticken und musizieren statt reiten und jagen. Und der Gatte, der hochwohlgeborene Prinz und junge König vertrieb sich derweil mit seinen Gefährten die Zeit, mit Saus und Braus, mit Jagd und Tollerei und sicher von Zeit zu Zeit auch mit einigen der drallen Mägde des Gesindes. Dafür gab es zwar keinen konkreten Anhalt, aber die junge Königin war ja nicht blöd. Kannte ja ihren Prinzen inzwischen schon und seine
Laster sowieso. »Man muss«, so die Frau Königin dazu auf Aschenbrödels scheue Anfrage, »den Männern ihre Unsitten lassen!« Alles andere hätte wenig Sinn. »Mann« sei eben einfach am längeren Hebel, hätte die Macht und die Möglichkeiten und so sei es allemal besser, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich abzufinden, als irgendwann verstoßen zu werden, in ein Kloster oder so. Das nämlich wäre die andere mögliche Seite der Medaille. Und Aschenbrödel fügte sich. Bekam nach wenigen Jahren nochmals ein Baby, die kleine Martha. Kein einfaches Kind, denn das kleine Mädchen schien recht
widerspenstig und schrie lauthals seinen Unwillen in die Welt hinaus. Sehr zum Unwillen auch des jungen Königs. Zum Einen, weil es nun schon wieder ein Mädchen war, zum Anderen, weil es ihm den Aufenthalt im trauten Heim vermieste, wie er offenbar meinte. Und so trat er mit seinen Freunden zunächst eine ausgiebige, mehrmonatige Reise durch seine Ländereien an und überließ die Familie sich selbst. Die waren ja auch wohlversorgt in ihrem Schloss. Aschenbrödel war zu dieser Zeit recht häufig bei uns in der Küche und suchte ein wenig Trost. Sie unterhielt sich oft mit mir, schwelgte in Erinnerungen und auch im Naschwerk, das in der
Schlossküche so anzufinden war, und wurde mit der Zeit üppiger und rundlicher. Ich gebe unumwunden zu, mir gefiel sie so hervorragend. Aber dem jungen König, als er dann nach langer Zeit wieder heim kam, missfiel das doch sehr und er ließ das seine Frau auch deutlich spüren. Da war wohl von der einstmals großen Liebe nicht mehr allzu viel übrig. Die Regierungsgeschäfte indes führte nach wie vor der alte König, der seinem Spross anscheinend nicht das rechte Geschick dafür zutraute. Nun begab es sich zu dieser Zeit aber, dass das an sich friedliche Land an seinen Grenzen von feindlichen Reiterscharen unsicher
gemacht wurde, gegen die der König militärisch vorzugehen gedachte. Der Sohn wurde als Heerführer an die Spitze der flugs einberufenen Truppe beordert, seine Freunde zu Stabsoffizieren ernannt, und so zogen sie zum Kampfe aus, den die kleine Armee zwar siegreich beenden konnte, der dem Königssohn im Gefecht aber leider auch eine heftige Verwundung eintrug. Eine, die zwar sein Leben nicht wirklich bedrohte, aber seiner Mannbarkeit doch empfindliche Einschnitte beibrachte. Womit sich der Traum von einem eigenen Thronfolger erledigt hatte. Der Königssohn kehrte also siegreich, aber behindert zu seinem Aschenbrödel
zurück, ließ seinen Frust an seiner Familie aus, drangsalierte Frau und Töchter. Nebenbei beschäftigte er ein kleines Heer an Heilern und Quacksalbern, die ihm seine Fähigkeiten wiederherzustellen versuchen sollten und dabei keine noch so abstrusen Therapien scheuten. Diese recht zweifelhaften Methoden und vermutlich auch die Unmengen von Alkohol mit denen sich der Königssohn versorgte, führten bei ihm innerhalb weniger Jahre zum Verfall und zu völliger Verblödung. Der junge König lebt seitdem und bis heute in einer abgelegenen Burg in den Bergen, gut versorgt und unter strenger
Aufsicht Unser Aschenbrödel nun sah sich diese Entwicklung ein Weilchen ziemlich hilflos an, ebenso hilflos wie der übrige Hofstaat und das alte Königspaar, beschloss dann aber doch, ihr Leben von Grund auf zu ändern. Und vor allem, es selbst in die Hand zu nehmen. Der Auslöser dafür war, so hatte Aschenbrödel es mir selbst erzählt, die Eule Rosalie, die nun nach gut siebzehn Jahren der Abwesenheit wieder auftauchte und die junge Herrin gelegentlich in einem Turmzimmer des Schlosses aufsuchte. Töchterchen Alrunde war indes zu einem jungen Fräulein, einer bildhübschen
Prinzessin herangewachsen, die sich mit Eifer ihren höfischen Angelegenheiten widmete und für die beim Großvater, dem immer noch amtierenden alten König, diverse Freiersleute anstanden, von denen ein gutbetuchter Monarch eines der Nachbarreiche offenbar die besten Aussichten hatte, wie es schien. Sowohl politisch, der angestrebten Bündnisse wegen, als auch menschlich, denn der Prinzessin Alrunde gefiel dieser König ausgesprochen gut. Martha dagegen war ganz anders. Beileibe nicht so hübsch wie ihre große Schwester, eher kämpferisch und verwegen gab sie sich mit ihren nun dreizehn Jahren. Hatte – man bedenke,
als Mädchen! - Interesse am Reiten und Jagen, am Schießen und Fechten. Ganz wie der Herr Papa. Sie würde mit Bestimmtheit einen guten Thronfolger abgeben – wenn sie denn ein Junge gewesen wäre. Das ist die Krux mit manchen Erbmonarchien: König durfte nur ein männlicher Nachkomme werden. Und unser Aschenbrödel hatte keine Idee, was aus der Sache werden sollte. Bis Rosalie zurückkam, eine Haselnuss im Schnabel. Ganz wie damals. Die Zaubernuss enthielt ein gutes Ausrittkleid für die Herrin und Jagdkleidung für Tochter Martha. Ein Jägerkostüm, ganz ähnlich dem, wie sie es selbst vor Jahren trug, ihrer ersten
Haselnuss entnommen, nebst Armbrust und Pfeilen. Und Rosalie gurrte dazu und schien unserem Aschenbrödel mitteilen zu wollen, dass nun endlich etwas zu geschehen hätte – nämlich Martha all die Dinge beizubringen, wie es ihr Vater einst bei ihr getan hatte. Das war also die Aufgabe, der sie sich in den kommenden Jahren widmen sollte. In meiner Küche im Schloss sah ich unser Aschenbrödel fortan nur noch sehr selten. Schade, wenn ihr mich fragt. Aber auch sehr zu ihrem Vorteil, um mal ehrlich zu sein. Sie war in den letzten Jahren ja nun doch ein wenig – ich will nicht sagen dick – aber eben doch deutlich rundlich und auch ein wenig
behäbig geworden. Das sollte sich sehr ändern. Sie war nun mit Martha ständig unterwegs im Lande und in den Wäldern, brachte dem Mädchen alles bei, was sie für nötig und vernünftig hielt und gewann dadurch selbst zu alter Form und Frische zurück. Und als Martha schließlich erwachsen wurde, hatte man in ihr eine ausgezeichnete Kämpferin und Diplomatin, eine kluge und gewiefte Prinzessin, die durchaus bereit und in der Lage gewesen wäre, den Thron des nun schon greisen Königs zu übernehmen. Wenn das denn in den Gesetzen dieses Königreiches so möglich gewesen wäre. Eule Rosalie brachte auch hier eine
Zaubernuss ins Spiel: ein Brautkleid für Martha, denn die war schließlich von königlichem Geblüt. Martha würde heiraten müssen – auch wenn sich dies so gar nicht mit ihren wirklichen Neigungen kreuzte. Und wenn sie dann einen Sohn gebären sollte, würde dieser schließlich die Thronfolge sichern und Martha könnte als offizielle Regentin, begleitet und beraten von ihrer Mutter, unserem Aschenbrödel, die Staatsgeschäfte bestimmen. Und so geschah es und alle waren zufrieden: Martha heiratete einen verspielten ausländischen Fürstensohn, der als Prinzgemahl im Schlosse sein Auskommen hatte (und auch gar nicht
mehr wollte) und widmete ihre wahre Liebe dem Söhnchen und seiner Amme. Der greise König konnte nun mit seiner Gattin endlich den verdienten Ruhestand genießen und den Urenkel schaukeln. Und unser Aschenbrödel? Nun, Eule Rosalie hatte ihr wohl – vor Jahren schon, ich weiß nicht genau wie – einen Kontakt zu einem stattlichen Gardeleutnant vermittelt, der fortan für sie zu Diensten war. Und so fiel für sie selbst, wenn auch spät, noch ein gutes Stück vom ganz großen Glück ab.
Und wenn sie nicht gestorben sind …
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