In Deutschland haben jedes Jahr mehr als 50.000 Menschen eine Gehirnblutung. Vor einigen Jahren war ich einer davon. Mit ihren lausigen Fingern hatte die Gehirnblutung mein bisheriges Leben zerstört. Nur meinen Humor, den hatte sie nicht gekriegt. Das war auch gut so; denn um dieses Grauen durchzustehen zu können, brauchte ich ihn dringend.
Luftröhrenschnitt, Beatmung, künstliche Ernährung: Mein Kehlkopf hatte verwirrt den Dienst eingestellt. Meine Stimme klang, wie die von Darth Vader.
Doch die Stimme war noch nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war das
Essen; beziehungsweise das Nicht-Essen. Oh, wie sehnte ich mich nach einem knusprigen, nach einem duftenden, nach einem gold-braunen Marmeladen-Brötchen; mit Butter und roter Marmelade. Meine Zähne wollte ich wieder in etwas Festes schlagen, ich wollte kauen, ich wollte malmen, ich wollte schmecken. Lange genughatte ich mich von diesem widerlichen, grauen Brei ernährt.
Für Fälle wie mich, gab es Frau Neheb; sie war die Sprach- und Schlucktherapeutin der Neurologischen Klinik, in der ich war.
Mein Termin bei ihr bestand aus drei Teilen:
1. Essen
2. Sprech-Übungen
3. Reden.
Für den ersten Programmpunkt stellte Frau Neheb ein Tablett vor mich hin. Das Essen auf diesem Tablett hatte sie in der Mittagspause aus der Kantine geholt. Unser Termin war am Nachmittag. Entsprechend war das Essen kalt.
Dann sollte ich essen; und zwar l-a-n-g-s-a-m und s-c-h-w-e-i-g-e-n-d. Bei diesem Teil unseres täglichen Termins hatte ich sehr zwiespältige Gefühle: Zum
einen war ich entzückt, das ich meine Zähne wieder benutzen und etwas anderes schmecken durfte, als matschigen Brei. Auf der anderen Seite spürte ich einen heftigen Widerwillen, eben weil dieses „Andere“ kalt und völlig zerkocht war.
Sobald Frau Neheb zufrieden mit mir war, räumte sie das Tablett weg und begann mit Tagesordnungspunkt 2: Den Sprech-Übungen. Wir saßen uns am Tisch gegenüber. Frau Neheb sprach vor, ich sprach nach:
„Sssssatz! Sssssauber! Ssssssalz“,
„Krrr! Krrr! Krrr!“,
„Plöpp! Plöpp! Plöpp!“
„Mmmmmond. Mmmmmmutter. Mmmmmaus!“
„Schifffffff! Fffffahne! Ffffffflasche!“
Dann sollte ich mit der Zunge um meine Lippen fahren; erst rechts herum, dann links herum und schließlich „hhmmm“ summen.
Unglaublich, wie anstrengend so was sein kann. Unnnnnd Zzzzum Glückkkkkk schschschaute kkkkkkeiner zzzzzu.
Den Abschluss der Therapiestunde bildete das Reden. Das Thema war beliebig; Small-Talk. Fünf Sätze genügten und ich war erledigt.Ich wollte
mehr reden, bin ja schließlich eine Frau, aber es ging einfach nicht. DochWoche für Woche wurden es mehr Sätze. Und bald konnte ich eine kleine Unterhaltung führen.
Wenn Frau Neheb auch damit zufrieden war, gab sie mir einen gelben Zettel. Auf diesem Zettel hatte sie für das Pflegepersonal meiner Station aufgeschrieben, was ich wieder essen durfte.
Dass das mit dem l-a-n-g-s-a-m und s-c-h-w-e-i-g-e-n-d Essen gar nicht so blöde war, musste ich ein paar Tage später erfahren. Während des
Abendessens besuchte mich eine gute Freundin. In Darth-Vader-Manier röchelte ich, was ich alles wieder konnte: Treppensteigen, an einem Stehpult Solitär spielen, einen Ball fangen und werfen…. Natürlich erzählte ich beim Essen. Ich aß also weder l-a-n-g-s-a-m noch s-c-h-w-e-i-g-e-n-d.
Da passierte es: Ich verschluckte mich, … hustete, … keuchte, … schnappte nach Luft, … Panik wirbelte durch meinen Kopf … Luft! ... Ich brauchte Luft! ... Aufstehen! ... Ich musste aufstehen! ... Vergebens! Kraftlos fiel ich in den Rollstuhl zurück ... Aus meinem Hals kamen röchelnde, würgende Geräusche.
… schließlich übergab ich mich … auf meinen Schoß …. auf das Tablett …. Aber das Würgen wollte nicht aufhören. …ich keuchte, … schnappte nach Luft … immer wieder… es war grässlich.
Dann endlich …
war es vorbei.
Mein Körper kam zur Ruhe.
Stille.
Niemand sagte etwas.
Ich schämte mich so sehr.
Da stand meine Freundin wortlos auf, nahm das Tablett weg, half mir mich umzuziehen, brachte michin mein Bett und machte sauber. Ich weinte still vor
mich hin; vor Scham und vor Glück, fühlte mich reich beschenkt, solche Freunde zu haben.
Selbstverständlich erzählte ich Frau Neheb nichts davon. Das wäre mir zu peinlich gewesen. Außerdem wollte ich meine Abschlussprüfung nicht gefährden. Wenn ich die in der nächsten Woche schaffen würde, wäre meine Therapie bei Frau Neheb beendet. Und ich wäre wieder ein Stück gesündergeworden und würde mein altes Leben zurück bekommen; so glaubte ich jedenfalls.
Als der Tag der Abschlussprüfung kam, stellte Frau Neheb ein Tablett vor mich
hin. Diesmal war es kein kaltes Gemüse. Diesmal war es EIN BRÖTCHEN! Daneben Butter und ein Schälchen quietsch-roter Erdbeermarmelade. Ich sollte, nein, ich durfte ein Marmeladen-Brötchen essen! Juchhu, ich war im Glück.
Einen Moment später zögerte ich: Doch nicht etwa jetzt oder? Ohne zu husten? Ich schüttelte den Kopf. Nee, das schaffe ich niemals! Allein beim Anblick des Brötchens fühlte ich kratzende Krümel in meinem Hals. Ich räusperte mich. Oje, wenn das mal gut geht!
Konzentriert schmierte ich das Brötchen,
nahm es in die Hand und
biss vorsichtig ab.
Oooooh,…..wie himmlisch….es knackte, … es knusperte, … es fühlte sich einfach wunderbar an.
Was für ein Genuss!
Diesmal kaute ich sehr brav l-a-n-g-s-a-m und s-c-h-w-e-i-g-e-n-d.
Mit der Zunge leerte ich sorgfältig meinen Mund.
Trank ein Schluck Wasser.
Und erst als der Mund richtig leer war, biss ich erneut ab.
Frau Neheb nickte aufmunternd.
In Zeitlupentempo wurde das Brötchen kleiner.
Juchhu, ich schaffte es!
Da!
Ein Kratzen!
Nein! Bitte, jetzt bloß nicht husten!
Bitte nicht, nein!
Ich räusperte mich.
Das Kratzen ging weg.
Puh, Glück gehabt.
Ich nahm einen letzten Bissen
und hatte es geschafft!
Ich hatte ein ganzes Brötchen gegessen! Und ich hatte nicht husten müssen! Frau Neheb gratulierte mir und gab mir den
ultimativen gelben Zettel. Dieser Zettel war besser als alle Prüfungsurkunden, die ich je erhalten hatte. Auf diesem Zettel stand, dass ich wieder ALLES, wirklich alles essen durfte.
Doch dann bemerkte ich: ….
Das Kratzen; …
es war wieder da.
Diesmal war es hartnäckiger.
Ich konnte es nicht wegräuspern.
Jetzt bloß schnell raus hier.
Frau Neheb durfte nichts merken.
Mein gelber Zettel war in Gefahr.
Das Kratzen wurde stärker.
Schnell verabschiedete ich mich und fuhr mit dem Rollstuhl auf den Gang hinaus.
Ahnungslos lächelnd schloss Frau Neheb die Tür.
Vorsichtig sah ich mich um.
Ich war allein!
Niemand da!
Endlich!
Ich
konnte
endlich
husten!!!
Und zwar ausgiebig!!!
Als ich mich wieder beruhigt hatte, grinste ich erschöpft und sah auf den traumhaft gelben Zettel in meiner Hand. Ja, ich würde wieder gesund werden. Mein Leben wird nicht mehr so sein, wie vorher. Doch Vergessen …
….konnte man mich noch lange nicht.