Der unerwartete Besuch
Verschlungen und unergründbar sind sie, die Wege, die wir nehmen, solange wir Gast auf dieser Erde sind. Verschlungen und unergründbar sind also auch die Kreuzungspunkte unserer Lebenswege mit denen der anderen Erdenbürger.
Und so wußte die Bäuerin und Gastwirtin Theresia Kirchgasser am Morgen dieses 12. April 1944 noch nichts davon, daß sie wenige Stunden später einem gewissen Roger W. Tackler die Hand schütteln würde. Seid bald fünf Jahren war nun Krieg. Dennoch war das Dorf bisher davon verschont geblieben. Keine
zwanzig Kilometer von einer wichtigen Industriestadt entfernt und selbst mit einem für kriegerische Zwecke vermutlich nicht unwichtigem Bergwerk ausgestattet, lag es so versteckt, daß sich glücklicherweise niemand dafür interessieren zu schien.
Spazierte man aber durch den Ort, so fiel auf, daß es ein Dorf der Frauen war. Gerade mal, daß ein paar Alte auf den Bänken vor den Häusern saßen und sich die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen ließen. Und Schuljungen auf dem Weg zum Unterricht trödelten und ihre Streiche spielten. Männer im wehrfähigen Alter waren nur sehr wenige
zu erblicken.
Und so war auch der Josef Kirchgasser, Gatte der Theresia und Vater ihrer beiden Töchter Johanna und Elisabeth lang schon zum Wehrdienst eingezogen. Ein glückliches Schicksal wollte es, daß er am Rande einer 70km entfernten Millionenstadt damit beschäftigt war, Nachrichten, die für den Balkan bestimmt waren, zu verschlüsseln und über den Äther zu jagen. Daß die Alliierten diese Nachrichten ebenso schnell entschlüsselt hatten, wie er sie verschlüsselte, das wußte man damals noch nicht. Aber das ist eine andere
Geschichte.
Theresia Kirchgasser wußte ihren Mann also in relativer Sicherheit und obendrein durfte er, wenn es der Dienstplan erlaubte, einmal im Monat für ein Wochenende nach Hause. Die andere Zeit war Theresia eine Personalunion von Managerin eines Bauernhofes, Wirtin eines Gasthauses, Mutter zweier halbwüchsiger Töchter und Pflegerin des schönsten Küchengartens im Ort.
Wie jeden Tag hatte Theresia auch an diesem 12. April alle Hände voll zu tun um das Getriebe von Wirtschaft und
Schank in Bewegung zu halten. Erst am Nachmittag, nachdem sie noch einen Zwetschgenkuchen aus dem Rohr geholt und zum Auskühlen auf die Fensterbank gestellt hatte, kam sie dazu, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, dem Küchengarten.
Das Unkraut sollte gejätet werden, und da sie diese undankbare Aufgabe nicht alleine bewältigen wollte rief sie nach Johanna und Elisabeth, den siebzehn und fünfzehn jährigen Töchtern. Zu dritt trat man in den strahlenden Sonnenschein vors Haus und machte sich ans gebeugte Werk. Mag sein, daß einer der drei das Brummen von Flugzeugmotoren auffiel,
das berührte sie hier in ihrer Abgeschiedenheit allerdings nicht und galt vielmehr den Fabriken und Bahngeleisen unten in der Ebene.
Umso überraschter waren sie also, als ein merkwürdiges Pfeifen die Luft erfüllte, das rasch lauter wurde und näher zu kommen schien. Theresia richtete sich auf, und suchte den Himmel nach einer möglichen Erklärung für das Geräusch ab. Da schoß über den Giebel des Hofes, keine 20 Meter hoch, ein Flugzeug, verdunkelte kurz die Sonne, wobei zu erkennen war, daß es dichte Rauchwolken hinter sich herschleppte, verlor rasch an Höhe, überflog die
Straße, streifte einige der Birnbäume im dortigen Obstgarten und krachte schließlich keine zweihundert Meter entfernt in die Wiese. Eine Tragfläche war bereits bei den Obstbäumen abgerissen und lag etwas entfernt und gegen einen Stamm gelehnt, sodaß man deutlich einen weißen Stern auf blauem Grund erkennen konnte.
Einige Sekunden lang qualmten die Trümmer vor sich hin, so daß Theresia schon darüber nachdachte, sich das Unglück aus der Nähe zu betrachten. Dann explodierte das Wrack mit dumpfen, gar nicht lauten Knall aber dafür einer Druck und Hitzewelle, die
ihnen in zweihundert Meter Entfernung noch die Luft zum Atmen nahm. Es dauerte weitere Sekunden, bis sich Mutter und Töchter aus der Starre des Erschreckens befreiten und das taten, was man in dieser Gegend und zu dieser Zeit beim Anblick eines großen Unglücks – und ein solches war das hier zweifellos, denn niemand konnte da überlebt haben – macht: Man bekreuzigt sich und spricht ein kurzes Gebet.
Dabei schaute sie kurz in den Himmel, die Theresia Kirchgasser, und bemerkte den Fallschirm und den darunter hängenden Piloten, der gerade zur Landung in ihrem Obstgarten ansetzte.
Und an diesem Punkt hatte der Spaß für Theresia ein Ende. Wenn junge Männer am Fallschirm hängend in ihren Obstgarten eindringen und das keine zweihundert Meter von ihren bildhübschen Töchtern entfernt, dann mußte gehandelt werden: 'Schauts, daß ins Haus kommts!' war das erste, was die Mädchen zu hören bekamen.
Sobald sie aber ihre Töchter in Sicherheit wußte gewann der Hausverstand wieder Oberhand. Hier war jemand in einer mißlichen Lage und dem mußte geholfen werden. Sie schnappte sich also den Krug Most, der bei Arbeiten im Freien immer bereit stand,
überquerte die Straße und ging in den Obstgarten.
Dort war Eingangs erwähnter Roger W. Tackler, Pilot der US Air Force, gerade dabei, sich von seinem Fallschirm zu trennen und fluchte herzzerreissend, was die Theresia Kirchgasser allerdings nicht verstand, da sie kein Wort Englisch konnte. Genausowenig, wie der Roger W. Tackler Deutsch sprach.
Allerdings mußte jemand, der da gerade vom Himmel gefallen war, mit Sicherheit durstig sein. Also streckte sie ihm die Hand entgegen und sagte 'Grüß Gott. Ich bin die Theresia Kirchgasser.
Habens einen Durst?' Roger W. Tackler schüttelte die ihm dargebotene Hand zur Begrüßung und kam gerne auf das Angebot zurück, nahm den Krug und tat einen vorsichtigen Schluck von dem ihm völlig unbekannten Getränk.
'Ja von wo kommen denn sie her? Sie müssen ja sicher auch Hunger haben. Kommen sie mit rüber, ich hab gerade einen Kuchen aus dem Rohr geholt.' Roger W. Tackler verstand kein Wort. Dennoch wußte er, daß ihm hier keine Gefahr drohte und folgte dankbar der Einladung in den Gastgarten, setzte sich, genoß sichtlich den Zwetschgenkuchen und winkte den Mädchen zu, die
kichernd aus dem Küchenfenster lugten.
Natürlich nahmen die Dinge ihren Lauf. Aus dem Dorf hetzten zwei Gendarmen im Dauerlauf heran, von der ungewohnten Anstrengung völlig außer Atem. Roger W. Tackler erhob sich, wissend, daß nun wohl sein Weg in die Gefangenschaft beginnen werde. Die Theresia Kirchgasser streckte ihm nochmals die Hand zum Gruß hin, welche er ergriff und schüttelte und wobei einer der Gendarmen erkannte, daß der Pilot noch immer eine Pistole im Halfter hatte, was ihn dazu veranlasste sein Gewehr in Anschlag zu bringen und hysterisch herumzuschreien.
Roger W. Tackler verschwand also in Begleitung zweier Gendarmen in Richtung Dorf und ungewisser Zukunft. Zurück bliebt das Wrack seines Flugzeuges und Theresia Kirchgasser, welche am selben Abend nochmals Besuch von der Polizei bekam und sich für den Handschlag mit dem Feind rechtfertigen mußte.
Das Wrack wurde Wochen danach von Soldaten abgeholt, nicht ohne daß sich die gesamte Nachbarschaft davor Souveniers abgezweigt hätte. Der Krieg ging zu Ende. Die Menschen waren damit beschäftigt, wieder aufzubauen,
was zerstört war und das Leben nachzuholen, das man ihnen da versagt hatte. Der Vorfall geriet in Vergessenheit. Bis da eines Tages im Jahr 2001 dieses E-Mail von einem gewissen Roger W. Tackler am Gemeindeamt des Dorfes eintraf und er sich erkundigte, ob es noch jemand gab, der sich an die Geschichte erinnerte. Natürlich waren noch einige Alte am Leben, die wußten, wovon dieser merkwürdige Amerikaner da sprach. Es entwickelte sich eine ausgiebige E-Mail Korrespondenz und zwei Jahre danach kam es auch zu einem Besuch des Piloten am Ort seines Absturzes.
Nun ist er also gestorben, der Roger W. Tackler, so wie die meisten der Anderen, die bei diesem Vorfall noch dabei waren. Geblieben aber sind Freundschaften zwischen einem Dorf in den Kalkalpen und einer Kleinstadt, irgendwo in Massachusetts, USA.