Schreibparty Nr. 97
Thema:
"Die Kunst der Missverständnisse"
Vorgabewörter:
Bratklops
Garten
Brille
Hausputz
Fußpilz
Haubentaucher
Irrtum
Mehrfach hat sie den Pavillon umrundet. Dabei die Schritte gezählt, es bei hundert aufgegeben. Warum nur verspätet er sich? Sie malt sich Gründe aus, wieso er noch nicht da ist. Er hat den weiteren Weg, sein Auto könnte eine Panne haben, er steht im Stau, jemand hat ihn aufgehalten ... Er hätte anrufen können. Gestern Abend hat sie ihm die Nummer in einer Privatnachricht geschrieben.
Wie er wohl aussieht? Eigentlich findet sie es gut, dass sie beide keine Fotos von sich als Profilbild ins Forum gestellt haben. Sein Profil ziert das Bild einer alten Eiche und sie hat natürlich ein Katzenbild eingestellt. Sie mag Katzen, nur ist es ihr bisher nicht vergönnt gewesen, eine zu besitzen. Jasper, ihr Exmann, wäre auf die Barrikaden gegangen, wenn sie mit einem Tier angekommen wäre. Das kann sich ändern, nachdem sie sich vor zwölf Wochen von
ihm getrennt hat. Sie hatten sich auseinanderentwickelt. Er lebte nur für seinen GARTEN, verbrachte die Freizeit in der Natur, wo er HAUBENTAUCHER und Enten beobachtete. Sie konnte sich mit dem HAUSPUTZ befassen, allenfalls mit der Zubereitung seiner geliebten BRATKLOPSe. Seine Begeisterung für Theaterbesuche und Konzerte, die sie so liebte, hielt sich in Grenzen, die am Ende unüberwindlich wurden.
Sie fröstelt. Doch das innere Zittern kommt nicht nur von der herbstlichen Kälte. Sie ist aufgeregt, angespannt. Dieses Flattern im Bauch, das Herzklopfen ... jahrelang hat sie es nicht mehr gespürt.
Da ist sofort ein Funke übergesprungen, als sie sich im Forum begegnet sind. Seine Art zu schreiben, gefiel ihr gut und in den meisten Dingen lagen sie auf gleicher Wellenlänge. Er hatte ihr eine Nachricht geschickt: »Spürst du, wie wir uns gegenseitig befruchten mit unseren
Ideen?« Ab da chatteten sie regelmäßig.
Sie öffnete sich ihm mit ihren Empfindungen und Gedanken und er verstand es, auf diese einzugehen. Allerdings hatte sie nicht ihren wirklichen Namen, Sybille, genannt, sondern im Netz trat sie als Lucy auf. Sie wusste nicht, ob sein Username Conny sein richtiger war. Das ließe sich klären, wenn man sich jetzt traf. Ja, wenn. Er kommt nicht, dessen ist sie sich gewiss.
Im Park sind nur noch wenige Menschen. Sie beschließt zu gehen. Ihre Schritte sind schleppend und das Herzklopfen ist dem dumpfen Schmerz der Enttäuschung gewichen.
Zuhause macht sie sich einen Tee, dann schaltet sie den Computer ein. Sie sagt sich, dass vermutlich keine Nachricht von ihm da sein wird. Wenn ihm etwas zugestoßen ist? Vielleicht hat er einen Unfall gehabt? Wie würde sie davon erfahren? Jetzt wird ihr plötzlich bewusst, dass sie nichts von ihm hat,
keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse. Nur seinen Namen hier im Forum.
Sie loggt sich ein, geht auf ihre Freundesliste. Wo ist er? Wild beginnt sie zu klicken, wechselt zwischen ihren Beiträgen, den privaten Nachrichten, der Suchfunktion. Nichts. Allenfalls sieht sie ein Umrissbild einer männlichen Figur, unterschrieben mit 'gelöschter account'.
Sie wird ihn nie treffen. Wie erstarrt sitzt sie vor dem Bildschirm, Tränen in den Augen. Eine grenzenlose Leere macht sich breit. So viel hat sie von sich preisgegeben, ihre Gefühle, ihre heimlichsten Gedanken, sie hat sich einem Menschen geöffnet, den sie eigentlich nicht kennt, ihre Seele bloßgelegt, von den erotischen Ergüssen ganz zu schweigen.
Da war eine so große Harmonie zwischen ihnen. Fast konnte sie virtuell seine Gedanken erahnen, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. War das alles nur ein riesengroßes
Missverständnis? Hatte sie all seine Beteuerungen falsch interpretiert? Warum nur schmerzt es so?
Er sitzt am Computer, unschlüssig, was er tun soll. Seinen Account im Forum hat er gelöscht. Nachdem Lucy ihm gestern ihre Handynummer und E-Mail-Adresse gegeben hat, schien für ihn die Welt still zu stehen. Das konnte und durfte nicht sein. Bei der Handynummer ist er noch unsicher gewesen, obwohl er sie in- und auswendig kennt. Die E-Mail-Adresse zerstreute jeden Zweifel. 'Syka' – das war sie. Er hatte geglaubt, eine neue Liebe gefunden zu haben. Lucy schien seine Traumfrau zu sein, er hatte sich in ihre Worte verliebt, ihre Ansichten, ihre Art zu schreiben. Hätte er es erkennen müssen? Nein, ihm wird klar, dass er sie während der Zeit ihres Zusammenseins, während ihrer Ehe, wohl nie richtig gekannt, sie ständig missverstanden hat. Gestern ist ihm schmerzlich
klar geworden, dass er nicht zum Treffpunkt würde gehen können. Sie hätte ihn zerrissen, ihm böse Absichten unterstellt und ihm einen unheilbaren FUßPILZ gewünscht.
Bis vor Kurzem hatte er noch sehr unter der Trennung gelitten, aber durch Lucy war Sybille ein wenig verblasst. Sein Schmerz, der Schmerz des Verlustes, ist größer denn je und jetzt weiß er nicht, wem er nachtrauert, Lucy, dem Trugbild oder Sybille, seiner großen Liebe, die er verloren hat.
Schließlich schreibt er eine E-Mail. Er beginnt sie mit
»Liebe Sybille« …
Er entschuldigt sich, dass er nicht am Treffpunkt war, er zeichnet sein Leben nach der Trennung von ihr, ist schonungslos ehrlich in seinen Gefühlen, spricht davon, wie viel Lucy ihm gegeben hat, aber auch davon, wie sehr Sybille ihm fehlt. Den Brief unterschreibt er mit
»Conny«.
Seufzend setzt er die BRILLE ab, streicht eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Zeit des Wartens wird eine lange werden für ihn, vielleicht – und hierüber ist er sich im Klaren – wird sie nie vorbei sein.
Text und Cover: Enya Kummer