Kurzgeschichte
Irrtum - SP 97

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"Beitrag Schreibparty 97"
Veröffentlicht am 06. April 2022, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung ...
Beitrag Schreibparty 97

Irrtum - SP 97

Schreibparty Nr. 97

Thema:
"Die Kunst der Missverständnisse"


Vorgabewörter:
Bratklops
Garten
Brille
Hausputz
Fußpilz
Haubentaucher

Irrtum Mehrfach hat sie den Pavillon umrundet. Dabei die Schritte gezählt, es bei hundert aufgegeben. Warum nur verspätet er sich? Sie malt sich Gründe aus, wieso er noch nicht da ist. Er hat den weiteren Weg, sein Auto könnte eine Panne haben, er steht im Stau, jemand hat ihn aufgehalten ... Er hätte anrufen können. Gestern Abend hat sie ihm die Nummer in einer Privatnachricht geschrieben. Wie er wohl aussieht? Eigentlich findet sie es gut, dass sie beide keine Fotos von sich als Profilbild ins Forum gestellt haben. Sein Profil ziert das Bild einer alten Eiche und sie hat natürlich ein Katzenbild eingestellt. Sie mag Katzen, nur ist es ihr bisher nicht vergönnt gewesen, eine zu besitzen. Jasper, ihr Exmann, wäre auf die Barrikaden gegangen, wenn sie mit einem Tier angekommen wäre. Das kann sich ändern, nachdem sie sich vor zwölf Wochen von

ihm getrennt hat. Sie hatten sich auseinanderentwickelt. Er lebte nur für seinen GARTEN, verbrachte die Freizeit in der Natur, wo er HAUBENTAUCHER und Enten beobachtete. Sie konnte sich mit dem HAUSPUTZ befassen, allenfalls mit der Zubereitung seiner geliebten BRATKLOPSe. Seine Begeisterung für Theaterbesuche und Konzerte, die sie so liebte, hielt sich in Grenzen, die am Ende unüberwindlich wurden. Sie fröstelt. Doch das innere Zittern kommt nicht nur von der herbstlichen Kälte. Sie ist aufgeregt, angespannt. Dieses Flattern im Bauch, das Herzklopfen ... jahrelang hat sie es nicht mehr gespürt. Da ist sofort ein Funke übergesprungen, als sie sich im Forum begegnet sind. Seine Art zu schreiben, gefiel ihr gut und in den meisten Dingen lagen sie auf gleicher Wellenlänge. Er hatte ihr eine Nachricht geschickt: »Spürst du, wie wir uns gegenseitig befruchten mit unseren

Ideen?« Ab da chatteten sie regelmäßig. Sie öffnete sich ihm mit ihren Empfindungen und Gedanken und er verstand es, auf diese einzugehen. Allerdings hatte sie nicht ihren wirklichen Namen, Sybille, genannt, sondern im Netz trat sie als Lucy auf. Sie wusste nicht, ob sein Username Conny sein richtiger war. Das ließe sich klären, wenn man sich jetzt traf. Ja, wenn. Er kommt nicht, dessen ist sie sich gewiss. Im Park sind nur noch wenige Menschen. Sie beschließt zu gehen. Ihre Schritte sind schleppend und das Herzklopfen ist dem dumpfen Schmerz der Enttäuschung gewichen. Zuhause macht sie sich einen Tee, dann schaltet sie den Computer ein. Sie sagt sich, dass vermutlich keine Nachricht von ihm da sein wird. Wenn ihm etwas zugestoßen ist? Vielleicht hat er einen Unfall gehabt? Wie würde sie davon erfahren? Jetzt wird ihr plötzlich bewusst, dass sie nichts von ihm hat,

keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse. Nur seinen Namen hier im Forum. Sie loggt sich ein, geht auf ihre Freundesliste. Wo ist er? Wild beginnt sie zu klicken, wechselt zwischen ihren Beiträgen, den privaten Nachrichten, der Suchfunktion. Nichts. Allenfalls sieht sie ein Umrissbild einer männlichen Figur, unterschrieben mit 'gelöschter account'. Sie wird ihn nie treffen. Wie erstarrt sitzt sie vor dem Bildschirm, Tränen in den Augen. Eine grenzenlose Leere macht sich breit. So viel hat sie von sich preisgegeben, ihre Gefühle, ihre heimlichsten Gedanken, sie hat sich einem Menschen geöffnet, den sie eigentlich nicht kennt, ihre Seele bloßgelegt, von den erotischen Ergüssen ganz zu schweigen. Da war eine so große Harmonie zwischen ihnen. Fast konnte sie virtuell seine Gedanken erahnen, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. War das alles nur ein riesengroßes

Missverständnis? Hatte sie all seine Beteuerungen falsch interpretiert? Warum nur schmerzt es so? Er sitzt am Computer, unschlüssig, was er tun soll. Seinen Account im Forum hat er gelöscht. Nachdem Lucy ihm gestern ihre Handynummer und E-Mail-Adresse gegeben hat, schien für ihn die Welt still zu stehen. Das konnte und durfte nicht sein. Bei der Handynummer ist er noch unsicher gewesen, obwohl er sie in- und auswendig kennt. Die E-Mail-Adresse zerstreute jeden Zweifel. 'Syka' – das war sie. Er hatte geglaubt, eine neue Liebe gefunden zu haben. Lucy schien seine Traumfrau zu sein, er hatte sich in ihre Worte verliebt, ihre Ansichten, ihre Art zu schreiben. Hätte er es erkennen müssen? Nein, ihm wird klar, dass er sie während der Zeit ihres Zusammenseins, während ihrer Ehe, wohl nie richtig gekannt, sie ständig missverstanden hat. Gestern ist ihm schmerzlich

klar geworden, dass er nicht zum Treffpunkt würde gehen können. Sie hätte ihn zerrissen, ihm böse Absichten unterstellt und ihm einen unheilbaren FUßPILZ gewünscht. Bis vor Kurzem hatte er noch sehr unter der Trennung gelitten, aber durch Lucy war Sybille ein wenig verblasst. Sein Schmerz, der Schmerz des Verlustes, ist größer denn je und jetzt weiß er nicht, wem er nachtrauert, Lucy, dem Trugbild oder Sybille, seiner großen Liebe, die er verloren hat. Schließlich schreibt er eine E-Mail. Er beginnt sie mit »Liebe Sybille« … Er entschuldigt sich, dass er nicht am Treffpunkt war, er zeichnet sein Leben nach der Trennung von ihr, ist schonungslos ehrlich in seinen Gefühlen, spricht davon, wie viel Lucy ihm gegeben hat, aber auch davon, wie sehr Sybille ihm fehlt. Den Brief unterschreibt er mit

»Conny«. Seufzend setzt er die BRILLE ab, streicht eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Zeit des Wartens wird eine lange werden für ihn, vielleicht – und hierüber ist er sich im Klaren – wird sie nie vorbei sein.

















Text und Cover: Enya Kummer

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden. Letztes Jahr wurde mein erstes autobiografisches Werk veröffentlicht: Wenn der Raps blüht.
Zurzeit arbeite ich an der Fortsetzung. Arbeitstitel: Storchenjahre.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig.
Inzwischen genieße ich das Rentendasein und die Beschäftigung mit meinen Enkelkindern. Ich bin außerdem als Lektorin und Korrektorin tätig.

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Brigitte Wow, was für eine Geschichte liebe Enya! Damit hatte ich nie gerechnet. Ob es sowas in Wirklichkeit gibt ? Dann müssten beide ja wirklich total nebenher gelebt haben, ohne einander zu kennen?
Ich würde doch allzu gerne wissen, wie es geendet hat. Vielleicht schreibst du das Ende in einem der nächsten Wettbewerbs. Liebe Grüße an dich Brigitte
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Brigitte,
erst einmal ganz lieben Dank für alles, besonders für deinen tollen Kommentar.
Ich denke, so etwas hat es bestimmt schon gegeben. Es ist traurig, wenn Beziehungen derart trostlos sind, dass man sich kaum noch wahrnimmt.
Wir es weitergeht mit den beiden, weiß ich nicht. Ich denke, sie werden vielleicht ihre zweite Chance nutzen. Einen Versuch wäre es wert.

Alles Liebe dir und herzliche Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer "If you like pina coladas ..." - Escape heißt der Song.
Nur geht es im Lied gut aus.
Was für eine herzergreifende Geschichte, liebe Enya. Sie geht unter die Haut.
Liebe Grüße
Angie
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Oh, Angie, jaaa, ich kenne den Song und er passt hervorragend.
Vielleicht haben die beiden hier auch noch eine Chance, ich könnte mir vorstellen, dass sie antwortet.

Ich danke dir herzlich für alles.
Schönes Wochenende und liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Es ist wirklich traurig, liebe Enya, wenn Paare so aneinander vorbeileben und gleichzeitig ist es eine schöne Chance für einen Neuanfang, den die Beiden da bekommen. Eine klasse Geschichte. Und die "Reizwörter" hast du so harmonisch integriert.....Toll!
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Ja, liebe Judith, das ist wirklich traurig. Man kann jetzt nur hoffen, dass sie die zweite Chance nutzen, sich endlich zuhören und aufeinander eingehen.
Vielen Dank an dich und ganz liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Kornblume Nun weiß er endlich Bescheid wie sie wirklich tickt ,welche Sehnsüchte und Wünsche sie hat. Es liegt an ihm Erkenntnisse und Schlußfolgerungen aus seinem Wissen zu ziehen.Eine verzwickte Angelegenheit und doch auch spannend. Ich weiß nicht was ich machen würde wäre ich er.
Grüße schickt die Kornblume
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 So haben sie sich wohl nie richtig zugehört, aneinander vorbeigelebt. Man kann ja hoffen, dass sie eine zweite Chance nutzen. Danke dir.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Oh, das ist ja der Wahnsinn, liebe Enya!
Vor dem ersten Date sollte man wohl doch lieber erstmal zum Telefonhörer greifen ... Diese Geschichte gefällt mir noch besser als die von Luzifer, weil sie wahrhaftig ist. Sicher schon tausendfach passiert. In meiner Jugend gabs das noch nicht, da wurden Annoncen in der "Wochenpost" aufgegeben ... (Ich habe 2x mitgemacht und so meine beiden Ehemänner "geangelt";-)) )
Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Guten Morgen, liebe Fleur,
ich denke, Ähnliches kann wirklich passieren. Du hast recht, dieses blinde Hineinstolpern in ein Date kann ja nur Überraschungen bieten.
Toll, dass du deine Ehemänner durch anzeigen kennengelernt hast.

Ich danke dir von Herzen für alles.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
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