Reden im Schlaf
Bettina und Christian waren meine Studenten: Neugierig, wissenshungrig und …. außergewöhnlich.
Auf einer Erstsemester-Party lernten sie sich kennen und zogen zusammen. Gemeinsam saßen sie in meinen Vorlesungen, übten für die Prüfungen und gingen am Wochenende mit ihren Freunden ein Bier trinken.
Im vierten Semester stand die Erforschung des Schlafes auf meinem Lehrplan. Die Beiden machten sich mit der Gehirnaktivität während des
Schlafens vertraut, dem Träumen und den nächtlichen Lernprozessen.
Und ... sie lernten die Somniloquie kennen; das Sprechen während des Schlafes. Ich erzählte ihnen - und 60 weiteren Studenten -, dass Somniloquie beim Wechsel der verschiedenen Schlafstadien auftritt und dass man während diesen Wechsels sogar ganze Sätze sprechen kann.
Bettina und Christan waren fasziniert.
Ich weiß noch, dass ich dozierte, schweres Essen und Alkohol würde das Reden im Schlaf verstärken. Wie die Beiden mir später erzählten, gingen sie
direkt nach meiner Veranstaltung in einen Supermarkt, kauften Tortellini, Käse und Sahne und kochten ein deftiges Nudelgericht. Als das Essen fertig war, würfelten sie. Sie würfelten darum, wer Derjenige sein durfte, der zuerst im Schlaf redete. Der andere hätte die Aufgabe, daneben zu sitzen und zu protokollieren.
Christian gewann. Er aß eine riesige Portion Käsespätzle und trank viel Wein. Und als er müde wurde, legte er sich in sein Bett. Bettina setzte sich mit einer Kladde neben ihn.
Aus meinen Vorlesungen wussten die
Beiden, dass Christian etwa alle 40 Minuten, beim Wechsel seiner Schlafphasen, reden würde. Und Bettina würde mitschreiben. Und tatsächlich: Als Christian am Morgen erwachte, schlief Bettina zwar neben ihm. Aber auf ihrem Schoß lag die Kladde. Und sie war voll geschrieben.
Christian weckte Bettina und hielt jubelnd die Kladde hoch. Bettina grinste glücklich und legte sich für den Rest des Tages schlafen.
In der folgenden Nacht war Bettina dran und Christian schrieb.
Die Prozedur war immer die Gleiche: Gemeinsam kochten sie ein schweres Essen, würfelten, der Gewinner aß und trank und legte sich anschließend schlafen, während der andere wachte; mit einer Kladde auf dem Schoß.
Zunächst waren die Inhalte, die sie sich im Schlaf erzählten nur aus ihrem Alltag. Mit der Zeit gruben die beiden sich jedoch immer tiefer in ihrer Seele. Sie erzählten sich von ihrer Kindheit, dem Tod seines geliebten Hundes, ihren ersten Verliebtheiten, ihrem Umzug und den Ablösungen von ihren Eltern.
Dieses ungewöhnliche Arrangement ging
über einige Jahre. Dann war ihr Psychologie-Studium zu Ende und es begann für beide eine neue Lebensphase.
Bettina bekam eine Anstellung in den Vereinigten Staaten und Christian zog für einen Job nach Süddeutschland. Sie verabschiedeten sich voneinander mit dem Versprechen, engen Kontakt zu halten. Zunächst telefonierten sie regelmäßig, doch mit den Jahren, neuen Herausforderungen und ihren wechselnden Beziehungen verloren sich die Beiden aus den Augen.
Dreißig Jahre später sahen sie sich wieder. Auf der Sommer-Party unserer
Fakultät. Es war niemand überrascht, als sie die Veranstaltung gleich wieder verließen. Die Beiden gingen allerdings nicht zum Spanier um die Ecke; und auch nicht in die kleine Bar am Ende der Straße. Wohin sie tatsächlich gingen, erzählten sie mir später.
Sie gingen in ein Hotel. An der Rezeption ließen sie sich einen Würfel geben, gingen auf das Zimmer und würfelten Bettina aus. Sie legte sich auf das Bett, während sich Christian mit dem Hotel-Briefpapier daneben setzte. Als Bettina schlief, erzählte sie: Von ihrem Brustkrebs. Und von ihrer Angst zu Sterben.
In den folgenden Wochen wiederholten die Beiden diese Prozedur. Immer abwechselnd. Sie kauften neue Kladden und schrieben sie voll.
Irgendwann hatten sie sich alles erzählt. Christian hatte von dem Tod seiner Frau erzählt, von seiner Spielsucht, seinen Schulden und dass er Opa geworden ist; Bettina erzählte ihm von ihrer ungewollten Kinderlosigkeit, ihrer Scheidung und der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit.
Als die Beiden sich ihre letzten dreißig Jahre erzählt hatten, fassten sie einen Entschluss: Sie würden wieder zusammen ziehen.
Der Rest ist schnell erzählt: Mithilfe von Christians Sohn konnten sie Kontakt zu einem Produzenten aufnehmen, der tatsächlich die Filmrechte an ihren Kladden kaufte.
Von diesem Geld und von einer Erbschaft, die Bettina machte, kaufen sie sich ein kleines Haus mit Garten.
Es war ein Haus mit drei Schlafzimmern.
Eines für Bettina.
Eines für Christian.
Und ein Drittes,…..
…..das sie benutzten, wenn es etwas zu „berichten“ gab.