Kurzgeschichte
Reden im Schlaf

0
"Reden im Schlaf"
Veröffentlicht am 10. März 2022, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Reden im Schlaf

Reden im Schlaf

Reden im Schlaf

Bettina und Christian waren meine Studenten: Neugierig, wissenshungrig und …. außergewöhnlich.

Auf einer Erstsemester-Party lernten sie sich kennen und zogen zusammen. Gemeinsam saßen sie in meinen Vorlesungen, übten für die Prüfungen und gingen am Wochenende mit ihren Freunden ein Bier trinken.

Im vierten Semester stand die Erforschung des Schlafes auf meinem Lehrplan. Die Beiden machten sich mit der Gehirnaktivität während des

Schlafens vertraut, dem Träumen und den nächtlichen Lernprozessen.

Und ... sie lernten die Somniloquie kennen; das Sprechen während des Schlafes. Ich erzählte ihnen - und 60 weiteren Studenten -, dass Somniloquie beim Wechsel der verschiedenen Schlafstadien auftritt und dass man während diesen Wechsels sogar ganze Sätze sprechen kann.

Bettina und Christan waren fasziniert.

Ich weiß noch, dass ich dozierte, schweres Essen und Alkohol würde das Reden im Schlaf verstärken. Wie die Beiden mir später erzählten, gingen sie

direkt nach meiner Veranstaltung in einen Supermarkt, kauften Tortellini, Käse und Sahne und kochten ein deftiges Nudelgericht. Als das Essen fertig war, würfelten sie. Sie würfelten darum, wer Derjenige sein durfte, der zuerst im Schlaf redete. Der andere hätte die Aufgabe, daneben zu sitzen und zu protokollieren.

Christian gewann. Er aß eine riesige Portion Käsespätzle und trank viel Wein. Und als er müde wurde, legte er sich in sein Bett. Bettina setzte sich mit einer Kladde neben ihn.

Aus meinen Vorlesungen wussten die

Beiden, dass Christian etwa alle 40 Minuten, beim Wechsel seiner Schlafphasen, reden würde. Und Bettina würde mitschreiben. Und tatsächlich: Als Christian am Morgen erwachte, schlief Bettina zwar neben ihm. Aber auf ihrem Schoß lag die Kladde. Und sie war voll geschrieben.

Christian weckte Bettina und hielt jubelnd die Kladde hoch. Bettina grinste glücklich und legte sich für den Rest des Tages schlafen.

In der folgenden Nacht war Bettina dran und Christian schrieb.

Die Prozedur war immer die Gleiche: Gemeinsam kochten sie ein schweres Essen, würfelten, der Gewinner aß und trank und legte sich anschließend schlafen, während der andere wachte; mit einer Kladde auf dem Schoß.

Zunächst waren die Inhalte, die sie sich im Schlaf erzählten nur aus ihrem Alltag. Mit der Zeit gruben die beiden sich jedoch immer tiefer in ihrer Seele. Sie erzählten sich von ihrer Kindheit, dem Tod seines geliebten Hundes, ihren ersten Verliebtheiten, ihrem Umzug und den Ablösungen von ihren Eltern.

Dieses ungewöhnliche Arrangement ging

über einige Jahre. Dann war ihr Psychologie-Studium zu Ende und es begann für beide eine neue Lebensphase.

Bettina bekam eine Anstellung in den Vereinigten Staaten und Christian zog für einen Job nach Süddeutschland. Sie verabschiedeten sich voneinander mit dem Versprechen, engen Kontakt zu halten. Zunächst telefonierten sie regelmäßig, doch mit den Jahren, neuen Herausforderungen und ihren wechselnden Beziehungen verloren sich die Beiden aus den Augen.

Dreißig Jahre später sahen sie sich wieder. Auf der Sommer-Party unserer

Fakultät. Es war niemand überrascht, als sie die Veranstaltung gleich wieder verließen. Die Beiden gingen allerdings nicht zum Spanier um die Ecke; und auch nicht in die kleine Bar am Ende der Straße. Wohin sie tatsächlich gingen, erzählten sie mir später.

Sie gingen in ein Hotel. An der Rezeption ließen sie sich einen Würfel geben, gingen auf das Zimmer und würfelten Bettina aus. Sie legte sich auf das Bett, während sich Christian mit dem Hotel-Briefpapier daneben setzte. Als Bettina schlief, erzählte sie: Von ihrem Brustkrebs. Und von ihrer Angst zu Sterben.

In den folgenden Wochen wiederholten die Beiden diese Prozedur. Immer abwechselnd. Sie kauften neue Kladden und schrieben sie voll.

Irgendwann hatten sie sich alles erzählt. Christian hatte von dem Tod seiner Frau erzählt, von seiner Spielsucht, seinen Schulden und dass er Opa geworden ist; Bettina erzählte ihm von ihrer ungewollten Kinderlosigkeit, ihrer Scheidung und der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit.

Als die Beiden sich ihre letzten dreißig Jahre erzählt hatten, fassten sie einen Entschluss: Sie würden wieder zusammen ziehen.

Der Rest ist schnell erzählt: Mithilfe von Christians Sohn konnten sie Kontakt zu einem Produzenten aufnehmen, der tatsächlich die Filmrechte an ihren Kladden kaufte.

Von diesem Geld und von einer Erbschaft, die Bettina machte, kaufen sie sich ein kleines Haus mit Garten.

Es war ein Haus mit drei Schlafzimmern.

Eines für Bettina.

Eines für Christian.

Und ein Drittes,…..

…..das sie benutzten, wenn es etwas zu „berichten“ gab.

0

Hörbuch

Über den Autor

PuckPucks

Leser-Statistik
13

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Feedre Was für eine Geschichte, kann ich mir als spannenden Film vorstellen.....toll erzählt....supi!!!
LgF
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Da hast du Recht! Ich seh das auch gerade in Bilder. Stimmt ;o)
Hach, es gibt noch so viel zu entdecken....
Ganz liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Schlafforschung ist ein weites und interessantes Gebiet.
Das Reden im Schlaf - hier empfinde ich es eher als ein Ventil für "Sprachlosigkeit", eine Möglichkeit, all das zu erzählen, was man sonst ausspart.
Es ist irgendwie bedrückend, wen man zusammenlebt und nur wechselseitig redet, ohne in einen Dialog zu treten.
An keiner Stelle skizzierst du, was nach dem einseitigen Erzählen passiert.
Ist da ein Erkenntnisgewinn? Ein Handeln, nachdem man vielleicht die sonst unaussprechlichen Dinge erzählt hat? Gibt es ein stärkeres Verstehen und Verständnis für den anderen, sich selbst?

Eine nachdenkenswerte Geschichte, liebe Judith.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Diese Geschichte fiel mir wieder ein, liebe Enya, als ich gestern über Finnja und Aaron gelesen habe. Ich glaube schon, dass man wie in diesem Fall, auch nach 30 Jahren wieder anknüpfen kann.

Das "einsetige Erzählen" empfinde ich viel eher als maskenloses, sehr vertrauendes Zeigen des Innersten; ein Verstehen ist da gar nicht nötig. Ein Dialog ist das natürlich nicht. Der findet im Wachen statt. Aber was die Beiden miteinander teilen, ist ein ungewöhnlich zarter Weg zu ihren Seelen.
Dacht ich mir so....:o)
Liebe Grüße
Judith

...und ein Hoch auf die Liebe im Alter :o)
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Und das ist sehr schön ...
Vor langer Zeit - Antworten
Nereus So ähnlich liebe Judith hab ich es bei Dir schon einmal gelesen, glaube ich.
Ja das Unterbewusstsein, , dass wir nicht steuern können, steuert uns jedoch.
Und das ist gut so, nur darauf einlassen muss sich schon jeder, wenn er sich begreifen will
dankend lieben Gruß
markus
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Ja, lieber markus, als ich im Sommer vorübergehend zur Leselupe gewechselt habe, hatte ich hier meinen Account völlig gelöscht; so langsam fülle ich ihn wieder mit neuen und alten Büchern. Du erinnerst dich also zu Recht, mein eifriger Leser.

Das Sich-Begreifen ist meiner Meinung nach die schwierigste und die süßeste Aufgabe des Menschseins. Sonst könnten wir ja auch ne Ameise sein, oder?

Dir liebe Grüße
Judith

Vor langer Zeit - Antworten
Nereus ja ! ach Ameise sein ist auch nicht übel, die führen keinen Krieg untereinander, kümmern sich um das was gebraucht und nicht mehr.
LG
markus
Vor langer Zeit - Antworten
derrainer Hallo Markus, dass mit den Ameisen ist nicht korrekt, sie führen kriege und versklaven sogar andere ..
Dieses nur zu Info Gruß rainer
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks So als Ameise kannste dir aber deine Individualität und deine schönen Erfahrungen an den Nagel hängen....;o),
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
13
0
Senden

168853
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung