Des Vaters Schwur 6. Teil
Beschämt von Susannes Worten bereute ich nun das, was ich ihr noch einige Stunden zuvor zugeschrieben hatte. Das "ahnungslos" ebenso wie das "grasgrün hinter den Ohren." Was diesem durch und durch ehrlichem Mädchen altersbedingt noch an Lebenserfahrung fehlte, machte sie tausendfach wett, durch ihr Einfühlungsvermögen und ihren gesunden Menschenverstand. Sie wird ihren Weg als Philosophin machen, kam es mir in den Sinn. So unkonventionell wie sie ist, wird sie viele unbequeme Fragen stellen, die nah an den Menschen sind. Und sie wird sich dabei von niemanden und von nichts blenden lassen. Apropos - BLENDEN!
"Du fragst mich ja gar nicht nach Ramon. Willst du denn nicht wissen, warum ich so schnell wieder zurückgekommen bin?"
"Och, das kann ich mir schon denken, Hannah.
Er ist ein Arsch mit zwei Ohren, stimmt`s?" Sprach`s und stupste mich feixend in die Seite: "Hey, du willst bloß ablenken. Wie wäre es denn, wenn du mal nach deinem Paps sehen würdest? Ich opfere mich und kümmere mich um`s Kochen - ähm, ich wollte sagen, ich rufe den Pizzadienst an."
Ja, Susanne hatte recht, ich sollte mich um Vater kümmern. Seltsam, mein Groll war irgendwie wie weggewischt, an dessen Stelle ein Gefühl von Ernüchterung und Hilflosigkeit gerückt. Was ich aber auch fühlte, das war die Verbundenheit mit Papa, viele Erinnerungen aus meiner Kinderzeit kamen an die Oberfläche, keines dieser Bilder ließ sich mit einem Vater, der in einer Eliteeinheit für Hitler in den Krieg gezogen war, in Einklang bringen. Mir wurde mehr und mehr bewusst, dass wir beide, Vater genauso wie ich, erst eine innere Distanz überwinden mussten, um uns wieder nahe sein zu können. Aber um da hinzukommen, mussten
wir Stück für Stück aufeinander zu gehen. Ohne Susannes Ansprache wäre mir das vielleicht nicht so klar geworden, dass es an mir war, jetzt den ersten Schritt zu tun.
Nach einer Weile ging ich hinüber in Susannes Wohnung und blieb an der Schwelle zum Arbeitszimmer stehen. Er saß am Schreibtisch, gebückt über ein blaues DIN A4 Heft, einen Stift in der Hand. Als er mich bemerkte, drehte er sich auf dem Stuhl in meine Richtung und ich spürte, dass er etwas sagen wollte, nahm wahr, wie er mit sich rang. Aber mehr als ein zaghaftes "Ach, du bist es" bekam er nicht heraus. Ich ging zu ihm hin und legte ihm meine Hand auf die Schulter. Wortlos tat ich das, doch er verstand meine Geste, denn er legte seine Hand auf die meine und drückte sie. Dann fragte er mich, ob es mir recht wäre, dass er erst am Abend rüber in meine Wohnung kommen würde.
"Weißt du, Hannah, ich muss das jetzt zu Ende bringen, was ich hier begonnen habe", sagte er
bedächtig und deutete dabei auf das vor ihm liegende Heft.
"Ist gut, Papa. Ich lasse dir jetzt deine Ruhe. Komm einfach, wenn dir danach ist".
Obwohl ich die nächsten Tage das Gefühl hatte, dass sich mein Vater hier bei Susanne und mir pudelwohl fühlte, wollte er am Ende der Woche zurück in seine Schwabinger Wohnung. Ich widersprach ihm nicht, fuhr ihn hin und half ihm dabei, seine Sachen in die Schränke einzuräumen. Danach tranken wir noch eine Tasse Tee zusammen, sprachen dabei ziemlich Belangloses. Übers Wetter, das bevorstehende Oktoberfest und dass wir beide den Kontakt zu Tante Marie jetzt aufrecht erhalten wollten. Aber beim Abschied sagte Papa: "Ich hab` da noch etwas für dich, Hannah" und drückte mir das blaue Heft in die Hand. Ich hatte, nach Susannes Ankündigung, schon darauf gewartet. Doch jetzt, da ich es in Händen hielt, überkam
mich ein Angstgefühl. Angst, nun von Dingen zu lesen, die mir Vater von Angesicht zu Angesicht nicht hatte sagen können. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, zurück in meine Wohnung zu kommen und mit dem Lesen beginnen zu können.
Das Heft, auf dessen erster Seite "Für Hannah" stand, war bis zum letzten Blatt dicht mit Vaters schöner gleichmäßiger Handschrift beschrieben. Es war ein schonungsloser Bericht über ein fürchterliches Schicksal, das Millionen Menschen im zweiten Weltkrieg in ähnlicher Weise erlebt und durchlitten hatten.
Es war im Herbst 1944. Die zwei älteren Brüder waren schon seit drei Jahren im Krieg. Ludwig und Rudolf fehlten bei der Arbeit am Bauernhof
in dem kleinen niederbayerischen Weiler. Der Vater, durch einen Beinschuss im 1. Weltkrieg Invalide geworden, konnte sich nur mehr stark
eingeschränkt fortbewegen, geschweige denn der harten Arbeit auf dem Hof gerecht werden. Die Mutter kränkelte nach der Geburt des jüngsten Sohnes, hatte insgesamt die stolze Zahl von acht Kindern auf die Welt gebracht.
So lag die ganze Last der Arbeit auf Hans, der sie zusammen mit einem alten Knecht mehr schlecht als recht zu bewältigen suchte. Aber er war ein kräftiger Naturbursche und die Arbeit im Stall und auf den Feldern machte ihm Freude.
Immer wenn der Ortsvorsteher auf den Hof kam, verhieß das nichts Gutes. Das letzte Mal, als er durch das Hoftor fuhr, brachte er die Meldung, dass Ludwig vor Stalingrad schwer verletzt in russische Gefangenschaft geraten war und Rudolf als vermisst gemeldet wurde. Drei Tage nach dem siebzehnten Geburtstag von Hans kam der Ortsvorsteher zusammen mit einem polnischen Landarbeiter wieder auf den Hof, er hatte für Hans einen Brief mit seinem
Einberufungsbefehl dabei. Der Pole Jacek, der mit der Wehrmacht kollaboriert hatte und deshalb aus seiner Heimat geflohen war, wurde dem Hof als Arbeitskraft zugewiesen.
"Welche Ehre für dich, Hans", konstatierte der Ortsvorsteher, "mit deinen noch jungen Jahren erhältst du schon die Gelegenheit, für deinen Führer und für dein Vaterland einzustehen. Erweise dich diesem Auftrag als würdig!"
Hans wusste nicht, wie ihm geschah, die Gedanken waren bei seinen Brüdern. Es gab nichts zu überlegen, nichts abzuwägen, es gab nur einen Befehl, dem man zu gehorchen hatte.
"Komm gesund wieder", hatte seine Mutter leise weinend zum Abschied gesagt und ihm über das Haar gestrichen. "Mache mir keine Schande, Junge. Hörst du, mache mir keine Schande!", forderte der Vater. Mit dem Zug wurde er in ein Ausbildungslager in die Tschechei gebracht. Und dort lernte er schon am ersten Tag den gleichaltrigen Jupp kennen. Der fröhliche Jupp
stammte aus dem Rheinland, war der Sohn eines Winzers. Der ernste, nachdenkliche Hans und der forsche, quirlige Jupp - schon bald wurden sie Freunde.
Mit Jupp hat Hans, wenn sie abends auf ihren Pritschen lagen, immer wieder diskutiert, was sein Vater wohl gemeint hatte mit seinen Abschiedsworten, die ihn nun Tag für Tag und Nacht und Nacht verfolgten. "Mach mir keine Schande." Aber was ist eine Schande, wenn Krieg herrscht? Wenn ich einen Menschen töte? Oder ist es eine Schande, wenn ich mich weigere, auf einen Menschen zu schießen?" Hans drohte an diesen Fragen schier zu verzweifeln. "Wir sind die Jüngsten, wir kommen nicht an die Front. Uns brauchen sie sicher nur für Hilfsdienste", tröstete der Freund meinen Vater, wenn dieser seiner Angst wieder einmal Luft machte. Aber Jupp täuschte sich. Beide - kräftige, großgewachsene blonde Burschen - wurden für die SS rekrutiert,
bekamen ihre Blutgruppe am linken Oberarm eintätowiert. Sie wurden als Verstärkung für den Italienfeldzug gebraucht und in Lastwägen über den Brenner gebracht. In Norditalien standen sich im November 1944 alliierte Truppen und die Wehrmacht gegenüber. Hans und Jupp wurden derselben Einheit zugeteilt, haben Seite an Seite Schützengräben ausgehoben. Hans war aufgrund seiner zurückhaltenden Art oft Zielscheibe für bösartige Attacken seiner Kameraden.
"Doch Jupp war wie ein Bruder für mich, verteidigte mich, baute mich wieder auf, wenn ich moralisch am Boden lag. WIR SCHWOREN UNS BEIM LEBEN UNSERER MÜTTER EWIGE TREUE! Sollte einer von uns verwundet werden, würde ihn der Andere unter Einsatz seines Lebens aus der Schusslinie holen. Eines Tages wurden wir während der Erdarbeiten von einem gegnerischen Frontalangriff überrascht.
Der Beschuss auf unsere Stellung war so heftig, dass wir kaum wagten, unsere Köpfe aus den Erdlöchern zu stecken. Jupp war noch immer an meiner Seite. Da schlug in der Nähe eine Granate ein und ein Splitter bohrte sich in meinen Rücken, nur wenige Millimeter neben der Wirbelsäule. Ich blutete heftig und schrie wie wahnsinnig vor Schmerzen. Jupp kniete bei mir, dreht mich auf den Bauch und rief nach den Sanitätern. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib, aber es kam niemand. Da kletterte er hoch, um Hilfe zu holen. Ich flehte ihn an, in Deckung zu bleiben. Ich schrie und bettelte: "Jupp, bleib da, Jupp komm zurück." Ein paar Sekunden später hörte ich eine gewaltige Detonation und ein Kamerad rief: "Den Jupp hat`s erwischt!" Er war getroffen worden und ich konnte ihm nicht helfen, weil ich selbst schwer verwundet und unfähig war, mich zu bewegen. In einer Gefechtspause wurde ich von
den Sanitätern dann geholt und im Lazarett
wurde mir der Granatsplitter herausoperiert. Wieder bei Sinnen suchten meine Augen die Gesichter der Kameraden in den umliegenden Krankenpritschen ab. Dann fragte ich eine Schwester nach meinem Freund. Da wurde mir gesagt, dass es Jupp in tausend Stücke zerrissen hat. Ich war verzweifelt, wünschte mir, dass der Tod sich meiner erbarmen würde, aber ich lebte weiter. Immer mit dem Gedanken, Jupp ist für dich gestorben. Er hat seinen Schwur gehalten. Ich aber nicht!"
Ich legte das Heft beiseite, tief ergriffen von dem Gelesenen ging ich hinüber zu Susanne und weinte an ihrer Schulter. "Wie kann ein Mensch so etwas Schreckliches so lange aushalten?", fragte ich sie. Sie zögerte etwas und dann sagte sie: "Du könntest ihm helfen!"
Fortsetzung folgt!