Des Vaters Schwur 5. Teil
Susanne fasste sich als Erste. Mit einem freudigen Juchzer sprang sie auf, lief zu mir an die Tür und umarmte mich. Noch unter dem Eindruck meines verunglückten kalifornischen Höhenflugs und der berechnenden Kälte Ramons, berührte mich dieser herzliche Empfang. Eigentlich wollte ich in diesem Augenblick an nichts mehr denken, nur gedrückt werden und mich meinen jämmerlichen Gefühlen hingeben. Doch dort auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch saß Vater. Der gelöste Ausdruck in seinem Gesicht war nun wie weg gewischt. Wie ein ertappter Schuljunge, mit hängenden Schultern saß er da und wandte den Blick zu Boden, als sich unsere Augen trafen. Ich riss mich zusammen, ging ein paar Schritte auf ihn zu und fragte:
"Papa, sag` mir, was ist nur los mit dir? Warum kann ich dich seit Tagen nicht erreichen und
was redest du für dummes Zeug, vom Kämpfen und...?"
"Das möchtest du nicht wissen, Hannah", unterbrach er mich kopfschüttelnd, wandte sich ab und starrte dann unentwegt auf ein Poster an der gegenüberliegenden Wand. Seine Lippen waren nun wieder zu einem schmalen Strich zusammen gekniffen. Da ging Susanne neben ihm in die Hocke, nahm seine Hand in die ihre und sagte leise, aber bestimmt:
"Doch, Hans, ich glaube, Hannah möchte das wissen!"
Ich spürte eine Vertrautheit zwischen den Beiden. Gleichzeitig kroch ein unangenehmes Gefühl in mir hoch wie eine glitschige Schlange. Es fühlte sich wie aufkeimende Eifersucht an und eine innere Stimme sagte mir: Susanne weiß Bescheid. Sie weiß etwas über deinen Vater, das er dir, seiner Tochter, nicht sagen will oder nicht sagen kann.
Susanne nickte meinem Vater mehrmals
aufmunternd zu, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Papa erwiderte ihren Blick, nickte zurück und dann nestelte er an seinem linken Hemdsärmel herum, um ihn aufzuknöpfen. Susanne half ihm dabei, anschließend den Ärmel hochzukrempeln. Nach einem kurzen Zögern drehte er den Arm nach außen und ich sah, etwa 20 Zentimeter über dem linken Ellenbogen, eine Tätowierung in lateinischer Schrift. AB. Ich wusste sofort, um was es sich dabei handelte. Es war die Blutgruppentätowierung der SS.
Ich kann gar nicht beschreiben, wie mir nach dieser Offenbarung zumute war. Für einen Moment schloss ich die Augen und wünschte mir, dass mir meine durch den Jetlag verursachte Müdigkeit soeben einen grauslichen absolut widerwärtigen Streich gespielt hätte. Aber als ich Vater mit zittriger Stimme sagen hörte, "Hannah, lass` dir erklären", wusste ich, dass mein Wunsch sich nicht erfüllen würde.
Mit meiner Fassung war es nun endgültig vorbei. Ich drehte mich um und lief zurück in meine Wohnung. Dort ließ ich mich in meinen geliebten Ohrensessel im Wohnzimmer fallen und heulte hemmungslos in die Kissen. Wie kann die eigene Lebenswelt, die man in völliger Ordnung wähnte, quasi über Nacht so abgrundtief bösartig werden? Die Sache mit Ramon hätte schon gereicht.
Nein, nicht genug! Vater, von dem ich nur wusste, dass er ein Jahr vor Kriegsende noch eingezogen worden war, der aber ansonsten nie, absolut nie über diese Zeit gesprochen hatte, dieser Vater hatte sich vor ein paar Minuten als Angehöriger der SS geoutet. Angefeuert und unterstützt von einer 21-Jährigen, die hinter den Ohren noch grasgrün war. Einem jungen Mädchen, das vom Leben und den damit verbundenen Irrungen und Wirrungen null Ahnung hatte. Warum nur, dachte ich mir, warum trampeln plötzlich alle rigoros auf
meinen Gefühlen herum? Was habe ich denn getan? Womit habe ich das herausgefordert? Ein Gemisch aus Wut und Selbstmitleid schlug über mir zusammen und drückte mich immer tiefer in meinen Sessel. Wie durch einen graumelierten Schleier hörte ich draußen im Treppenhaus Sandro, den Kellner aus dem Cafe` von der gegenüberliegenden Straßenseite rufen: "Fräulein Susanne, die bestellten Croissants sind da!"
Dann musste ich wohl eingeschlafen sein. Denn plötzlich fand ich mich in einem Gerichtssaal wieder. Die Hauptangeklagte des NSU Prozesses hatte gerade ein Statement abgegeben. Und als sie damit fertig war, sah sie hoch zur Empore, wo die Pressevertreter saßen und rief:
"Frau Hannah, bestellen Sie schöne Grüße an ihren Vater. Ich verehre ihn, er ist ein Held, denn er hat für das deutsche Vaterland gekämpft!"
Und dann wiederholte sie immer wieder:
"Für`s Vaterland... für`s deutsche Vaterland..." Sie hörte nicht auf, diese Worte zu rufen und alle meine Pressekollegen warfen mir böse Blicke zu und zeigten mit dem Finger auf mich. Heiner Blum, mein direkter Mitarbeiter aus der Redaktion, war auch unter ihnen und als ich im Kreis der Kollegen Ramons Gesicht entdeckte und hörte, dass er am lautesten schrie, nahm ich Reißaus, stürmte die Stufen des Treppenhauses des Gerichtsgebäudes hinunter und lief - wie vom leibhaftigen Teufel gehetzt - auf die Straße hinaus. Ich lief und lief und lief ..!
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Als ich aufwachte, saß Susanne vor mir auf meinem kleinen Fußschemel und hielt mir eine Tasse Cappuccino entgegen. Ich blinzelte noch ganz benommen mit den Augen, aber dann konnte ich ihrem duftenden Angebot nicht widerstehen. Sie freute sich, als ich zugriff.
"Wo ist er?" fragte ich.
"Er sitzt bei mir drüben und macht sich
Vorwürfe."
"Aha, er macht sich Vorwürfe" wiederholte ich ihre Worte gedehnt und dann konnte ich nicht mehr an mich halten und es brach aus mir heraus.
"Sag`, was hast du nur mit ihm gemacht? Er ist so... so verändert. Und was, denkst du, macht das alles mit mir?"
"Hannah, es tut mir leid. Aber, ganz ehrlich. Um dich geht es hier nun wirklich überhaupt nicht. Es geht um deinen Vater! Hörst du, es geht darum, dass er wie ein Hund leidet, weil er von einem schrecklichen Kriegstrauma verfolgt wird."
"Ach, und das hast du innerhalb der drei Tage, die ich weg war, herausgefunden? Wie denn? Hast du ihn gelöchert? Hast ihn wohl ausgefragt, nachgebohrt, ihm keine Ruhe gelassen, bis er durchgedreht ist, nicht wahr?"
"Nein, Hannah, da irrst du dich. Ich sage dir jetzt, wie es war." Sie stockte und holte tief
Luft: "Ich war da, als er jemanden gebraucht hat. Und ich hab` ihn nicht ausgefragt, ich habe ihm einfach nur zugehört!"
Susannes Stimme war jetzt von einer ungewohnten Ernsthaftigkeit, als sie weitersprach.
"Es war die erste Nacht, in der du weg warst. Ich wurde durch Schreie im Treppenhaus geweckt und als ich hinausging, sah ich, dass dein Vater draußen stand. Er hatte das Flurfenster aufgerissen und wie besessen in die Nacht hinaus geschrien. Immer wieder dieselben Worte: Bleib hier, Jupp. Jupp, komm zurück!
Und dabei japste er nach Luft und schrie und schrie immer weiter nach diesem Jupp.
Als ich ihn ansprach, kam er zu sich, fiel mir um den Hals und weinte wie ein kleines Kind. Er war so durcheinander, da wollte ich ihn nicht alleine lassen. Ich habe ihn in meine Wohnung mitgenommen und ihm meine Couch hergerichtet. Als ich ihm dann noch eine Tasse
Tee gebracht habe, hat er mich gebeten, mich zu ihm zu setzen. Und dann hat er mir seine Tätowierung gezeigt und angefangen, mir seine Geschichte zu erzählen. Mann, Hannah, ich
kann dir sagen, wir waren beide ganz schön geflasht an diesem Morgen."
"Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben? Ich habe es bei dir immer wieder versucht", warf ich leise ein.
"Das Telefon habe ich ausgeschaltet. Er war so fertig am Morgen. Ich wollte, dass er zur Ruhe kommt und nicht gestört wird. Dein Vater sagte, er könne und dürfe mit dir darüber auf keinen Fall reden. Deine Mutter hat sich fürchterlich geschämt, dass ihr Mann dieses Zeichen am Arm trug und sie hat ihm, als du noch ein kleines Kind warst, das Versprechen abgenommen, dich damit niemals zu behelligen. Er sagte, deine Mama wollte überhaupt nichts von dieser Zeit hören und so hat er die schrecklichen Geschehnisse ein Leben lang verdrängt."
Ich schluckte. Ja, das konnte ich mir gut vorstellen. Mama war so gewesen. Immer darauf bedacht, was die Leute sagen würden, den Schein wahren um jeden Preis.
"Nach dem Tod deiner Mutter ist dein Vater sogar einmal bei einem Therapeuten gewesen, als er es gar nicht mehr ausgehalten hat. Der hat ihm dann erklärt, dass er zu den rund sechzig Prozent der Kriegsüberlebenden gehört, bei denen ein schwerwiegendes Trauma zurückgeblieben sei. Er müsse sich dem stellen, es bearbeiten, denn mit zunehmendem Alter würde es immer schlimmer werden. Und er hatte ja auch schon einige Flashbacks, die ihn in den Krieg zurückversetzt haben."
"Die Sache mit dem Schwabinger Bombenfund. Da hat er ja auch immer nach diesem Jupp geschrien", unterbrach ich Susanne. "Weißt du, was es mit diesem Jupp auf sich hat?"
"Ja, er hat es mir erzählt. Und ich habe ihm gesagt, dass er es aufschreiben soll. Für dich,
Hannah und auch, damit in seiner Seele wieder Platz wird."
Sie lächelte ihr unbeschreiblich spitzbübisches Lächeln, als sie hinzufügte:
"Du wirst es nicht glauben, er hat sofort zu schreiben begonnen!"
"Über seine Heldentaten als Nazi, oder wie?" fuhr es mir heraus.
"Hannah! Dein Vater war weder ein Nazi noch ein Held. Er war ein knapp siebzehnjähriger Junge, der von einem Verrückten und seinem Verbrecherregime genau so verarscht worden ist, wie Millionen Andere auch."
Fortsetzung folgt!