Des Vaters Schwur Teil 3
Ich berührte Vater am Arm und fragte, ob alles in Ordnung wäre. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Noch nie, solange ich denken konnte. Nicht mal an dem Tag, an dem Mama gestorben war. Damit müssen wir uns jetzt abfinden, hatte er zu mir gesagt und dass ich mir um ihn keine Sorgen machen sollte. Ich glaube, er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.
"Es ist nichts, Hannah. Mach` dir bitte keine Sorgen um mich" sagte er jetzt auch wieder und sah stur geradeaus. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob es nicht doch besser wäre, Ramon Bescheid zu geben, dass etwas dazwischen gekommen wäre. Dass wir den Flug absagen müssten, weil mich mein Vater jetzt braucht. Blöde Gedanken, Papa ließ mich ja sowieso nicht an sich ran. Unter diesen Umständen war es doch nicht entscheidend, ob ich es wäre oder Tante Marie, die nach ihm
sehen würde. Auf der anderen Seite - Vater war immer für mich dagewesen, bedingungslos! Müsste ich da nicht jetzt auch alles andere zurückstellen?
Während der kurzen Fahrtstrecke zur Straße, in der Papa wohnte, erklärte ich ihm meine vertrackte Situation. Er unterbrach mich nach ein paar Sätzen:
"Flieg, Hannah und genieße es. Alles ist gut bei mir, alles ist gut!"
Daraufhin sprach ich über meine Idee mit Tante Marie.
"Nein, nein, ich komme schon alleine zurecht, Hannah", wehrte er erst ab, aber ich blieb hartnäckig und schließlich willigte er ein.
Im Eiltempo holten wir ein paar persönliche Sachen aus seiner Wohnung und fuhren dann bei Tante Marie vorbei. Wie vorhergesehen, freute sich die gute Seele, dass sie endlich gebraucht wurde und versprach, jeden zweiten Tag bei Papa vorbei zu schauen. Der bezog, bei mir zu
Hause angekommen, das kleine Gästezimmer. Ich zeigte ihm die Vorräte, weihte ihn im Schnelldurchgang in die Marotten und Vorlieben meines verwöhnten Katers Freddy ein und zum Schluss läutete ich noch bei Susanne und erzählte ihr in Stichpunkten, warum mein Vater hier bleiben würde. Die fand das, was Papa wegen der Granate veranstaltet hatte "total cool". Sie wolle gerne auch nach ihm sehen, vielleicht würde er ihr ja ein paar Einzelheiten seines spektakulären Auftritts erzählen.
"Sowas regt meine Phantasie enorm an", schmunzelte sie und fügte hinzu "Das sind sie, die Geschichten die das Leben schreibt." Dann fiel sie mir zum Abschied überschwänglich um den Hals und küsste mich auf beide Wangen. "Viel Spaß mit deinem tollen Ramon, treibt es nicht zu bunt", flötete sie mit einem frechen Grinsen. Ich tat, als ob ich es überhört hätte. So war sie eben - eine freche Göre, aber eben auch wohltuend herzlich und unkompliziert.
Nachdem ich mich notdürftig noch etwas aufgehübscht hatte, verabschiedete ich mich von meinem Vater, der im alten Ohrensessel im Wohnzimmer saß und sich aus dem Zeitungsstapel auf dem Tisch die "Süddeutsche" herausgefischt hatte und darin blätterte.
Mein Blick fiel auf die Schlagzeile "Skandal um Platzvergabe bei NSU Prozess."
"Ein Wahnsinn, was da alles schief läuft, nicht wahr?"
"Hm, das ist wohl so"
"Ich habe vor kurzem Ermittlungsprotokolle lesen können. Das Unterstützungsnetzwerk des Mord-Trios ist viel größer, als man erst gedacht hat."
"Ja, das ist furchtbar."
"Wie kann es nur sein, dass heute noch oder heute wieder so viele junge Menschen von der Naziideologie fasziniert sind? Ich versteh`s nicht!"
"Man kann so vieles nicht verstehen, Hannah."
"Ich werde für mein Blatt über den Prozess schreiben, Papa."
"Ach ja? Da hast du ja dann viel zu tun, wenn du wieder zurück bist."
Ich ging zur Wohnungstüre und hatte schon die Klinke in der Hand, da drehte ich mich noch einmal um und fragte: "Papa, wer ist Jupp?"
Er sah nicht hoch, zuckte nur kurz mit den Schultern und blätterte weiter.
"Okay", gab ich mich geschlagen "dann eben nicht." Aber ich ging noch einmal zurück und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Da entschlüpfte ihm ein kleines Lächeln und ein leises: "Komm gesund wieder, Hannah."
Mit dem guten Gefühl, alles Wesentliche bestens organisiert zu haben, schaffte ich es tatsächlich, mit nur einer Viertelstunde Verspätung an unserem Treffpunkt im Flughafen-Cafè zu sein. Ramon war etwas angesäuert, er war es nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ.
"Recherchearbeiten", flüsterte er nur kurz und drückte dann weiter auf seinem iPod herum. Ich bestellte mir einen Cappuccino, lehnte mich zurück und genoss stillschweigend seine Nähe. Wie immer in seiner Gegenwart kam ich mir auch jetzt wieder ein bisschen klein und unbedeutend vor.
Seit unserer ersten Begegnung in der Redaktion sah ich auf zu ihm. Zu dem Mann, der alle Blicke auf sich zog, wenn er einen Raum betrat. Groß, muskulös, mit der dauerhaften goldschimmernden Bräune eines Südamerikaners. Ramon war gebürtiger Peruaner und im Alter von drei Jahren von einem reichen deutschen Diplomatenpaar adoptiert worden. Das war aber auch schon so ziemlich alles, was ich über seine Herkunft wusste. Auf alle Fälle führte er ein total sorgloses Leben. Seit zwei Jahren arbeitete er als freier Redakteur und jettete in der ganzen Welt umher, immer auf der Jagd nach einer
guten Story.
Und dieser tolle Mann tauchte vor etwa drei Monaten in unserer Redaktion auf, weil er meinem Chef eine Exclusivreportage über einen saudiarabischen Ölscheich verkaufen wollte. Mit diesem Deal wurde es dann zwar nichts, aber dafür mit uns Beiden. Er fragte mich, wo man in München so richtig gut ausgehen konnte und ob ich ihn davor zum Abendessen begleiten würde. Ich konnte es erst gar nicht glauben, sah mich verlegen um, meinte er wirklich mich?
Ja, ich wollte! Und ich wusste, wenn wir gemeinsam das Büro verlassen würden, waren mir die neidischen Blicke meiner Kolleginnen sicher. Das tat meinem Ego gut. Seit meiner Scheidung vor drei Jahren hatte ich darauf gewartet, dass ein Prinz kommen würde.
Unser Flug wurde zum Check-In aufgerufen und während wir den Weg zum Schalter gingen, erzählte ich Ramon, was sich heute alles ereignet hatte und dass mein Vater nun in
meiner Wohnung wäre.
"Ich glaube, ich muss mich mehr um ihn kümmern. Er ist so seltsam."
"Ach, Hannah, findest du das nicht etwas sozialromantisch? Du musst ihn in eine Einrichtung geben, das ist alles. Das, was er da heute veranstaltet hat, ist doch nur ein Heischen um deine Aufmerksamkeit. Du wirst sehen, wenn er dadurch einmal das bekommen hat, was er wollte, wird er sich immer wieder was einfallen lassen".
Der verächtliche Unterton in Ramons Stimme störte mich. Er kannte meinen Vater ja gar nicht. Aber ich schob diese Gedanken beiseite, wollte mir die Freude auf Amerika und auf das Zusammensein mit ihm nicht vermiesen lassen. Gedanken lassen sich vielleicht für eine Weile unter Kontrolle halten, Gefühle nicht.