Des Vaters Schur - 2. Teil
"Papa, was willst du hier? Was ist los mit dir?", schrie ich zurück. Aber es schien, dass er mich zwar sah, aber meine Worte nicht hören und schon gar nicht verstehen konnte. Ich hatte meinen Vater noch nie so außer sich gesehen. Er packte mich am Arm, so als ob er mich wegziehen wollte. Ich spürte, wie er zitterte, seine Augen waren weit geöffnet und er rang laut hörbar um Luft.
"Papa! Papa, so beruhige dich doch", bat ich ihn flehentlich und wandte mich hilfesuchend an die Polizistin. Doch die zuckte nur mit den Achseln und schien genauso ratlos wie ich zu sein. Gemeinsam drückten wir ihn zurück in den Gartenstuhl. Dann winkte sie einen ihrer Kollegen herbei, während sie sich weiter um meinen Vater bemühte.
"Kennen Sie den Mann?" fragte mich der Polizeibeamte, nachdem er sich vorgestellt und
mir dabei seinen Dienstausweis unter die Nase gehalten hatte.
"Ich bin seine Tochter. Bitte sagen Sie mir sofort, was mit ihm los ist", antwortete ich unwirsch. Verdammt, das war doch eigentlich gar nicht meine Art. aber ich machte mir Sorgen, große Sorgen! Der Polizist registrierte meinen unangemessenen Ton und die damit verbundene Erregung mit einem nachsichtigen Lächeln und meinte:
"Was mit ihm los ist? Ja, sehen sie, das wüssten wir auch gerne. Wir haben ihren Vater hinter der Absperrung aufgegriffen. Er war schnurstracks unterwegs in Richtung Granate."
"Oh Gott", entfuhr es mir ungläubig und ich schlug unwillkürlich beide Hände vor das Gesicht. "Wie kann er denn nur sowas machen?"
"Wir haben einen Notarzt angefordert, der muss jeden Augenblick hier eintreffen. Ihr Vater hat keinerlei Papiere dabei, wollte oder konnte unsere Fragen nach Angehörigen und nach
seiner Wohnadresse nicht beantworten. Aber gut, dass sie jetzt da sind. Ansonsten wäre sicher eine vorläufige Einweisung erfolgt."
Er spürte wohl, wie ich bei seinen Worten zusammenzuckte, denn schnell fügte er noch hinzu:
"Ja, natürlich nur zu seinem eigenen Schutz. Sie müssen wissen, da gibt es einen Paragraph achtzehn im Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten."
Er fragte nach Vaters Alter und ich sagte ihm, dass er sechsundachtzig Jahre alt sei.
"Na, für dieses Alter scheint er aber zumindest körperlich noch ganz gut beieinander zu sein", meinte er anerkennend.
"Er ist auch psychisch okay", beteuerte ich, "er ist eigentlich topfit, versorgt seinen Haushalt noch selbst."
Wir gingen ein paar Schritte zur Seite, weil ein großer Lastwagen laut dröhnend an uns
vorbeibrauste und den Straßenstaub aufwirbelte.
"So", sagte er "jetzt wird es hier gleich mit der Entschärfung der Bombe losgehen. Ich hoffe, ihr Vater ist dann schon weg. Wie gesagt, der Notarzt muss jeden Moment hier sein. Solange wird sich meine Kollegin um sie beide kümmern. Sie wird auch ihre Daten aufnehmen, wir müssen ja einen Bericht über diesen Vorfall schreiben. Ach ja, und da wäre noch etwas. Kennen sie eigentlich einen gewissen Jupp oder wissen Sie, ob ihr Vater einen Mann namens Jupp kennt?"
Ich verneinte, dieser für unsere Region völlig untypische Vorname sagte mir überhaupt nichts.
"Warum?", fragte ich erstaunt.
"Nun, während ihr Vater auf die Granate zulief, hat er mehrmals diesen Namen gerufen."
"Nie gehört." Ich schüttelte den Kopf. "Nein, diesen Namen hab` ich noch nie gehört."
"Ich denke, sie sollten das wissen. Vielleicht fragen sie ihn einfach mal
danach."
"Ja, das werde ich. Danke!"
Ich sah den Notarztwagen kommen und lief zu meinem Vater, der mich nun wieder mit völlig klaren Augen ansah.
"Hannah, es tut mir leid, dass ich dir Umstände mache. Es tut mir so leid", flüsterte er und ich wusste, dass er sich schämte, für das was passiert war. Mein Vater war stets die Korrektheit in Person gewesen, immer gefasst, immer kontrolliert. Man kann sagen, ein Vorbild an Selbstdisziplin - innerhalb der Familie und auch in seinem Beruf als Bauingenieur. Nie hatte er Fehltage auf seiner Arbeit gehabt, mir war zumindest kein einziger solcher Tag bekannt, bis zu seinem Renteneintritt, der nun schon etwa zwanzig Jahre zurücklag. Und dieser starke Vater saß nun, spärlich bekleidet mit einer Jogginghose in einer unmöglichen Farbe und mit offenen Hauspantoffeln auf einem Campingstuhl mitten auf dem Bürgersteig in der
Münchener Innenstadt.
Der Notarzt konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Nur der Blutdruck war etwas erhöht und der Puls zu schnell, aber das war es dann auch. Papa beantwortete nun auch alle Fragen, die der Arzt und die Polizistin an ihn stellten. Zwar ziemlich einsilbig, aber immerhin. Auf die Frage, ob er "so etwas" schon einmal gemacht hätte, senkte er beschämt den Kopf und brachte nur mühsam ein "Nein" hervor.
Nach Abschluss der Untersuchung, die an der offenen Wagentüre des Notarztautos stattgefunden hatte, bat mich der Arzt ein paar Schritte weiter und sagte:
"Er kommt mir eigentlich ganz okay vor, aber hm... ich muss sie das fragen. Hatte er vielleicht schon mal demente Phasen?"
"Nicht, dass ich wüsste", erwiderte ich und betonte dann noch einmal nachdrücklich:
"Nein, bestimmt nicht!"
"Na, dann belassen wir es mal dabei. Wir
schicken einen kurzen Bericht an seinen Hausarzt. Es wäre aber schon gut, wenn er die nächsten Tage nicht alleine wäre. Aber sie kümmern sich ja sicher um ihn, nicht wahr?"
Kümmern, ja natürlich. Aber! Was war mit Ramon? Mit unserem Urlaub in den Staaten? Herrje - die Uhrzeit. Es war schon 16.00 Uhr vorbei. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie sollte ich das schaffen? Aber diese Frage schob ich weg, ich musste es schaffen! Ich hatte mich so sehr auf die gemeinsame Zeit mit Ramon gefreut. Ich hatte darauf hingearbeitet und ich ließ mir das jetzt nicht mehr nehmen.
Hannah, denke lösungsorientiert, das kannst du doch, sagte ich mir. Denke nach, wer Dir jetzt helfen kann.
Tante Marie!
Die jüngste Schwester meiner verstorbenen Mutter, die in demselben Stadtteil wohnte wie ich. Tante Marie würde sich um Papa kümmern,
während ich weg bin. Ich nehme Papa einfach mit in meine Wohnung, er kann meine Katze und meine Blumen versorgen. Da hätte er eine Aufgabe, das würde ihm guttun. Und Tante Marie würde nach ihm sehen und ihm etwas kochen. Bei Mutters Beerdigung hatte sie noch zu mir gesagt: "Melde dich, wenn du mich brauchst, Hannah."
Mit diesen Gedanken meldete sich gleichzeitig mein schlechtes Gewissen. Denn das war jetzt schon eineinhalb Jahre her und ich hätte sie längst mal besuchen sollen. Aber das würde ich jetzt machen. Tante Marie wäre sicher bereit, mir zu helfen!
Ich hakte Papa unter und half ihm dann, in meinen Wagen einzusteigen. Kurz darauf hörten wir die Detonation der Granate. Der laute Knall ließ uns beide zusammenschrecken. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie sich seine Hände ineinander krallten und sich seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammenzogen.
Dann murmelte er etwas, das ich nicht verstand und ein paar Tränen liefen über sein versteinertes Gesicht.
Fortsetzung folgt!