Kurzgeschichte
Tagebuch - "Wahnsinniger" Trost

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"Tagebuch - "Wahnsinniger" Trost"
Veröffentlicht am 19. Februar 2022, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Tagebuch - "Wahnsinniger" Trost

Tagebuch - "Wahnsinniger" Trost

11. Oktober 2013

Liebes Tagebuch,

gestern habe ich dich gekauft. Noch ganz weiß bist du. Auf deinem Deckblatt ist eine Prinzessin auf einem weißen Pferd. Sie hat lange, blonde Haare und ein weißes, wehendes Kleid. Sie hat es eilig. Sie will zu ihrem Prinzen. In sein Schloss. Sie muss ihm etwas Wunderbares mitteilen: Sie erwartet ein Kind von ihm.

Lach nicht, das könnte doch wirklich so sein. Ich weiß ja, ich hab viel Phantasie, aber ich liebe nun mal Romantik.

Ab heute schreibe ich dir, liebes Tagebuch, was alles so in meinem Leben passiert. Zuerst einmal ein paar Informationen: Ich habe einen Mann, Sascha, leider noch keine Kinder und einen guten Job im Archiv einer Stiftung.

Sonst ist eigentlich nicht viel zu berichten. Und leider ist es auch nicht so romantisch, wie auf deinem Cover.

Was ich dir erzählen will, fing vor drei Wochen an; beim Abendessen. Sascha und ich schauten wie immer `Verbotene Liebe`. Ich rief erschrocken, dass der Olli ja nicht fremdgehen soll und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, hat

mich Sascha angepoltert: Ich soll endlich aufhören mit meinen dämlichen Träumereien von der ewigen Liebe.

Wie du dir vorstellen kannst, war ich total erschrocken. Dann begriff ich, dass Sascha Angst hat. Angst vor Nähe. Ja, das war es. Sascha konnte nur nicht zugeben, dass er mich liebt.

Ach, liebes Tagebuch, das hat gut getan, mir mal alles von der Seele zu schreiben. Und Du hast ein bisschen mitbekommen, wie es mir geht.

Deine Sandra

15. Oktober 2013

Liebes Tagebuch,

ich habe Dir doch von diesem schrecklichen Abend mit Sascha erzählt. Seit diesem Abend überschlagen sich hier die Ereignisse: Ich habe nämlich jetzt einen Geliebten! Also noch nicht so ganz! Aber fast!

Ich hab ihn beim Einkaufen kennen gelernt. Er stand vor dem Gewürzregal und sah ziemlich ratlos aus. Normalerweise ist es nicht meine Art, fremde Männer anzusprechen. Aber

dieser Mann sah nett aus: Groß, schlank, dunkle Haare, gepflegte Erscheinung, etwa mein Alter, vielleicht ein bisschen älter.

Ich hab ihn gefragt, ob ich ihm helfen könne. Er lächelte, legte den Kopf schräg und blickte mich an, als müsse er etwas überlegen. Das sei jetzt vielleicht ein bisschen frech, sagte er, aber ob ich vielleicht wisse, ob Zimt auf Frauen tatsächlich `stimulierend` wirke? Uiuiui, bin ich rot geworden! Naja, und dann gab ein Wort das andere und wir haben ein bisschen rumgeflachst. Dann hat er mich gefragt, ob ICH vielleicht Zimt mag. Da bin ich wieder rot geworden.

Naja, was soll ich sagen: Wir haben uns für den nächsten Abend verabredet. Sascha habe ich natürlich nichts gesagt.

So, ich muss jetzt Schluss machen. Ich schreibe Dir wieder. Bis bald.

Deine verliebte Sandra

16. Oktober 2013

Liebes Tagebuch!

Ich war vielleicht aufgeregt! Tausendmal habe ich mich umgezogen

und meine Haare gestylt. Von meiner Aufregung bekam Sascha wie immer nichts mit. Er saß vor dem Fernseher und guckte SOKO 5113.

Das Rendezvous war wunderschön! Und das danach auch! Ja, du hast richtig gehört: Das danach auch. Ich hab jetzt einen richtigen und echten Geliebten. Allerdings will er mir seinen Namen nicht verraten. Auf diese Weise sei es viel geheimnisvoller, meint er. „Genau wie Du!“, hat er geflüstert und mir dabei tief in die Augen geschaut. Aber wenn ich wollte, könne ich ihn `Leander` nennen.

Heute kam ein riesiger Strauß roter Rosen von Leander. Natürlich musste ich ihn wegwerfen.

Dass ich jetzt einen Geliebten habe, daran ist Sascha selber Schuld: Seit Monaten passiert nichts mehr zwischen uns. Am Anfang habe ich abends immer auf ihn gewartet: Mit offenem Haar und meinem schönsten Nachthemd, die Zähne frisch geputzt. Doch wenn er dann aus dem Bad kam, hat er sich bloß auf seine Bettkante gesetzt, den Wecker gestellt, sich in seine Decke gerollt, das Licht gelöscht und „Gute-Nacht“ gebrummt.

Liebes Tagebuch, jetzt weißt Du eine

ganze Menge von mir. Es ist schön, dich zu haben. Du hilfst mir sehr.

Liebe Grüße von Deiner Freundin Sandra

22. Oktober 2013

Liebes Tagebuch!

Das ist die Höhe! Gestern Abend waren wir bei Linnerts. Das sind Nachbarn von uns. Und die ganze Zeit hat Sascha die Augen nicht von dieser Nicole gelassen; oder besser gesagt: Von ihrem

Ausschnitt! Also so nuttig würde ich ganz bestimmt niemals rumlaufen. Und Leander würde so was auch gar nicht mögen.

Ich hätte auf Papa hören sollen. Er hat nie viel von Sascha gehalten. Er hat immer gesagt: Wer den ganzen Tag nur Eidechsen und Schlangen um sich herum hat, aus dem kann ja nichts werden. Da hatte Sascha gerade die Anstellung in der Zoohandlung am Marktplatz bekommen.

Papa hat es auch nicht besonders gefreut, als Sascha ein paar Jahre später zum Leiter der Abteilung `Amphibien` befördert wurde. „Der Junge ist genauso

lahm, wie seine Leguane!“, hat er nur gesagt. Mama hatte davon schon gar nichts mehr mitbekommen. Sie war da schon in der Psychiatrie. Aber sie hätte Papa Recht gegeben.

28. Oktober 2013

Liebes Tagebuch!

Heute hab ich Geburtstag. Sascha hat mir den ganzen Tag noch nicht gratuliert. Aber Leander schon. Es ist so wunderschön mit ihm.

Gestern hat Sascha die roten Striemen an meinen Handgelenken entdeckt. Ja, ich weiß, das würde er auch gerne machen: Mich ans Bett fesseln und dann ganz schlimme Sachen mit mir machen. Leander darf das. Leander bin ich auch nicht egal!

Liebes Tagebuch!

Dass Sascha es mit dieser Nicole getrieben hat, ist ja wohl sonnenklar! Damit hat er meine Liebe endgültig verraten! Mein Leben hab ich ihm

anvertraut! Bei unserer Hochzeit hat er mir noch geschworen: „Niemals, mein Liebes, niemals werde ich dich enttäuschen!“, und mich in die Arme genommen. Ein wunderschönes Leben hat er mir versprochen. Und ich habe ihm geglaubt!

11. November 2013

Liebes Tagebuch!

Wieder ist eine Woche mit Warten vergangen. Sascha hat sich kein bisschen bewegt. Er redet kaum mit mir. Ich

scheine ihm egal zu sein.

Ich mach mir noch mal die Striemen und zerwühl mir die Haare. Und diesmal verstecke ich meinen Slip unter seiner Bettdecke. Feucht... . Ich bin sicher, wenn er den Slip findet, kommt er endlich zu mir zurück.

16. November 2013

Liebes Tagebuch!

So geht es nicht mehr weiter. Sascha hat den Slip gefunden, aber er hat überhaupt

nicht reagiert. Er hat es so gewollt. Ich werde jetzt bei Leander leben; in seiner romantischen Villa am See. Wunderschönen Schmuck und Pelze will er mir schenken. Und er will viele Kinder von mir. Wir wollen eine glückliche Familie werden!

Nur dich, liebes Tagebuch, werde ich mitnehmen in mein neues Leben.

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PuckPucks

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Nereus Noch gar nicht gelesen, echt was verpasst !
Na toll, erst selbst auf Abwege geraten und sich dann über die Retourkutsche beklagen, aber gut geschrieben
Nereus
Vor langer Zeit - Antworten
Kornblume Hallo Judith,
wie kannst Du denn gerade jetzt mit den Tagebuchaufzeichnungen aufhören????
Sie lesen sich wie der Beginn eines spannenden Psychokrimis, der alles beinhalten kann. Liebe,Sex, Mord,Sadismus,Grusel, Horror usw.
Sie verschwindet wie von der Erde verschluckt.Wieso,weshalb, weswegen.
Welche Rolle spielt Leander und was macht Sascha nach ihrem Verschwinden
Bitte lass mich nicht dumm sterben und schreib ein bisschen weiter,
bittet die neugierige Kornblume
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Hihi, liebe Kornblume, das wäre meine erste Auftragsarbeit ;o))))
Lies doch vielleicht meinen Roman "Schreiben, um zu sterben" hier bei myStorys. Das sind 10. Kapitel und bis auf `Mord` ist so Einiges dabei. Wird mich freuen, wenn es dir gefällt.
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Tagebuch - "Wahnsinniger" Trost..."
Ich bilde mir auch ein, diesbezüglich auch nicht ganz unromantisch zu sein,
aber ob ich das überhaupt einem Tagebuch anvertrauen würde,
wage ich zu bezweifeln.
Und in welcher Scheinwelt lebt sie in diesen knapp zwei Monaten eigentlich?
...Leander, Rosen, Pelze und eine Villa am See...
Der Märchenprinz in schimmernder Rüstung auf einem weißen Pferd..
Das kann in der Realität eigentlich nur ein böses Erwachen geben...
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Ja, lieber Louis, in so eine Scheinwelt kann man sich schon flüchten, wenn der Alltag so lieblos, wie Sandras, ist. `Seelisch verhungert` war der Arbeitstitel für diesen Text.
Was die Tagebücher angeht: Ich finde diese Art des Schreibens, Denkens, Verarbeitens, Lösungen suchen, Weinens einfach unvergleichlich!!!
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Judith,
das ist gleichermaßen berührend und bedrückend.
In was für eine Traum-Schattenwelt flüchtet sich Sandra da in ihrer Verzweiflung. Dieses Hin- und Herfluten zwischen Realität und Wahn ließ mich beim Lesen immer wieder innehalten.
Ob sie durch ihre Mutter eine Disposition zu psychischer Erkrankung hat?
Ihr Leben in der Villa am See ... was für ein Szenario sie sich ausmalt.
Ich hoffe, es gibt dann doch dort die Möglichkeit zu genesen, herauszufinden aus dem "Wahnsinnigen" Trost.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Als ich "Frederike" in den Untiefen meines Computers gefunden habe, kam mir auch diese Geschichte entgegen. Ja, es ist wirklich gruselig, diese Parallelwelt, liebe Enya. Und faszinierend zugleich, wie alles Gelebte ganz harmonisch in so eine Scheinwelt reinpasst.
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
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