Das Ende
Es ist sowieso das letzte Mal, also schalte ich das Autoradio ein. Froh bin ich trotzdem, dass sie gerade keine Herz-Schmerz-Songs spielen.
Nachdenklich fahre ich nach LĂĽbeck. Jetzt ist es also soweit. Ich habe es geschafft. Aber ich bin merkwĂĽrdig ruhig. Habe gar kein HochgefĂĽhl, wie ich es sonst bei Erfolgen habe. Ein Hinweisschild zeigt noch 49 km bis LĂĽbeck.
Da kommt die Stimme des Sprechers: „Letzte Woche hat sich eine 54jährige Frau das Leben genommen; ihr Mann war kurz zuvor an einem Hirnschlag gestorben. Es geschah mit Hilfe von Commutatio, einem Suizidhilfe-Verein. Uns zugeschaltet ist jetzt Herr Bernhard Bremer, der Leiter von Commutatio. Guten Tag, Herr Bremer.“
„Guten Tag, Herr Meurer.“
„Herr Bremer, eine gesunde Frau in mittleren Jahren hat sich mit Hilfe von Commutatio das Leben genommen. Können Sie uns helfen, dass zu verstehen?
„Es berührt mich sehr, wenn ein Mensch nicht mehr leben will; oder nicht mehr leben kann. In Deutschland nehmen sich jedes Jahr etwa 10.000 Menschen das Leben. Jedes Jahr! Die Zahl der misslungenen Selbstmord-Versucheliegt weit über 100.000! Und doch gilt: Sterbenwollen bleibt die freie Entscheidung eines jeden Einzelnen.“
„Ihr Verein verfolgt bei der Suizidhilfe einen ungewöhnlichen Ansatz. Können Sie uns davon erzählen?“
„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass als erstes der Druck von dem Sterbewilligen muss! Um das zu
erreichen erhält er von uns, wenn er über 45 ist, die garantierte Zusage ein tödlich wirkendes Medikament zu erhalten. Eines, das ihn nicht leiden lässt: Das Natrium Pentobarbital. Diese feste Zusage erleichtert ihn oft enorm.“
„Weshalb muss man über 45 sein?“
„Das hat einen einfachen Grund: Wir benötigen für unsere Arbeit das Gewicht eines langen Lebens. Denn damit wir dem Sterbewilligen das Gift geben, muss er uns bestimmte `Stationen seines Lebens` aufschreiben. Diese Stationen sind jeweils abhängig davon, weshalb er sich das Leben nehmen will.“
„Was heißt das: `Stationen seines Lebens`?“
„(Lacht) Ja, wir sind eine Suizidhilfe-Organisation, die paradoxer Weise auch den Willen zum Leben vermitteln will. Ich nenn ihnen zwei Beispiele aus unserer Praxis: Ein schwerkranker Mensch muss seinen bisherigen Umgang mit `Krankheit` aufschreiben; und zwar seinen gesamten. Angefangen davon, wie er als Kind mit Masern im Bett lag und dabei Winnetou-Kassetten gehört hat, bis heute. Wer dagegen aufgrund des Todes eines geliebten Menschen nicht mehr weiter leben will, muss alle seine bisherigen Beziehungen aufschreiben.“
„Der Sterbewillige muss also auf sein Leben schreibend zurückblicken?“
„Genau! Und dafür benötigt er Zeit. Zeit, die wiederum seine Seele benötigt, um zu heilen. Und das ist unsere Chance. Zeit ist sehr wichtig für das `Weiterleben-Wollen`. Denn die dunkle Phase der vehementesten Suizidgedanken umfasst oftmals nur ein relativ kurzes Zeitfenster. … Es ist aber ebenso von Bedeutung, was während dieser heilenden Schreib-Zeit geschieht.“
„Ja?“
„Durch das Schreiben wird der oder die
Betroffene erstmals von seinen kreisenden Gedanken um das Sterbenwollen abgelenkt. Er oder sie schreibt sich regelrecht `den Druck von der Seele`, konzentriert sich auf sein gesamtes Leben und nicht nur auf die schmerzreichen Monate. In diesem Ansatz liegt unsere ganze Hoffnung. Mit Erfolg, wie die Zahlen zeigen: Fast alle der ursprünglich Selbstmord-Willigen melden sich nach dem ersten Kontakt nicht mehr bei uns. Doch das ist nicht immer der Fall, wie der von Ihnen beschriebene Suizid zeigt.“
„Herr Bremer, das Bundesverfassungsgericht hatte im
Februar 2020 festgestellt, dass das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst, welches letztlich auch die Freiheit einschließt, hierfür die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. In Deutschland gibt es derzeit drei Sterbehilfevereine. Sie sind der vierte. Nähern wir uns damit dem Selbstmord-to-go, was viele befürchten?“
„Wir von Commutatio bejahen das Leben. Zum Leben gehört für uns aber auch das Sterben dazu! Und wie das aussieht, sollte jeder für sich selbst bestimmen dürfen. Wir bemühen uns darum, dass ein Sterbewilliger wieder
erkennen kann, wie bunt sein Leben ist, damit er die Kraft hat weiterzuleben. Wir machen mit unserer Arbeit, anders als andere Vereine, auch ein Lebensangebot, nicht nur ein Sterbeangebot.“
„Eine letzte Frage Herr Bremer: Commutatio, was heißt das eigentlich?“
„`Commutatio` ist ein lateinisches Wort und bedeutet: Veränderung, Wechsel!“
„Vielen Dank!“
„Gerne!“
„Das war Bernhard Bremer von
Commutatio zum Selbstmord einer 54jährigen. … Und jetzt „I follows river“ von Trigger Finger.“
Ich halte das Lenkrad umklammert und starre durch die Frontscheibe auf die Autobahn. Tränen laufen mir über das Gesicht. Ich drehe den Kopf. Durch den Tränenschleier sehe ich auf den Papierstapel, der auf dem Beifahrersitz liegt. Den Papierstapel, den ich geschrieben habe; der mir Freude gemacht hat, ihn zu schreiben. Wieso habe ich das nicht bemerkt? Das Schreiben hat mir wieder Kraft gegeben. Sie ist wieder da. Ich kann die Kraft spüren. Sie ist noch klein. Aber sie ist
da. Bäume könnte ich noch nicht ausreißen, wohl aber Bäumchen.
Ich setze den Blinker und verlasse die Autobahn.