Mit einer Ahnung von Freiheit
... und der Hoffnung auf Frieden
Als sei es erst gewesen …
Wie gern wäre ich bei dir, spürte deinen Atem auf meiner Haut, könnte deine Stimme hören, dir erzählen von dem Glücksgefühl, das mich den ganzen Tag durchströmt. Ja, es ist wie ein Fluss, der allen Unrat an verborgenen Ufern gelassen hat, der in eine Zukunft hineinfließt, mich mitnimmt, uns mitnimmt.
Wenngleich auch noch nicht alles vorbei ist, ganz wird es das vielleicht nie sein, so haben wir doch jetzt wieder eine neue Chance zum Leben, zum Wiederleben mit all seinen Facetten.
Herb ist der Wein, er vermischt sich mit dem Geschmack der salzigen Tränen, die ich die letzte Zeit so oft tapfer hinuntergeschluckt habe, die sich nun aber den Weg bahnen. Vor
Erleichterung, vor Freude? Aber auch wegen all der Gedanken, die durch meinen Kopf ziehen, die davon sprechen, wie viel wir die letzten beiden Jahre dreingegeben haben. Und dann fühle ich deinen Blick auf mir und sehe deine leuchtenden Augen. Spüre, wie es war. Damals, in jenem Sommer, als wir dachten, wir könnten neu anfangen, als wir den Mut hatten, uns in eine wilde Liebe hineinzustürzen. Es war ein Sommer voller Lebendigkeit. Pulsierendes Leben in uns im Einklang mit der Natur.
Und dann ging ich, beendete das, was kaum begonnen hatte, verweigerte den Kontakt, weil ich wusste, du würdest sonst nicht in die USA gehen, deine Chance nicht ergreifen.
Als du mich nach Jahren anriefst, war ich gefangen, gefangen durch den Tod meiner Freundin und meine verdammte Krankheit. Es gab kein Wiedersehen. Und dann kam diese Pandemie, die nicht nur mein Leben reduzierte.
Erneut mussten wir verzichten.
Aber jetzt … Aaron, jetzt ist alles anders. Ich weiß nicht, warum mein erster Weg hinein ins neue Leben zu dir führt. Vielleicht fürchte ich, dass diese Chance für uns wieder zunichte gemacht wird. Ich werde aufbrechen, noch bevor der Morgen graut. Mein Kopf ist voll, quillt über von den Gedanken an all jene, die während der Pandemie ihr Leben gelassen haben und dann denke ich an deine Frau, an Maren, die stellvertretend allen einen Namen gab. Wie groß muss dein Leiden sein.
Ich denke an die Familien, die sich auf engstem Raum nicht ausweichen konnten, an Gewaltexzesse, geboren aus der Verzweiflung, an die Kinder, die beim Homeschooling keine Hilfe hatten, an die Ärzte und Pflegekräfte, die sich physisch und psychisch verausgabt haben, an all jene, deren Existenz bedroht war und noch ist. Werden sie wieder vertrauen können? Werden wir wieder vertrauen können, uns und
unseren Mitmenschen?
Ich sehe die Tränen meiner kleinen Enkelin, als man ihr zu Beginn der Pandemie sagte, sie dürfe mich jetzt nicht umarmen. Ich erinnere mich, wie mein ältester Enkel, mitten in der Pubertät, von Tag zu Tag stiller wurde, pausenlos Geige oder Klavier spielte und sich ganz der Musik hingab. Und ich denke an jene Kinder, die nicht mal das hatten.
Alles das ist mir so nah, genauso wie unser Sommer, als sei es gestern gewesen.
Ich bin müde und doch so aufgewühlt. Es ist in mir eine Ahnung von Freiheit und das Gefühl, es ausloten zu wollen. Einen ersten Schritt zu tun. Und der führt mich zu dir. Morgen, Aaron.
Wie es ist …
Ich fahre so gern aus der Nacht in den Morgen hinein. Die Landstraße führt schnurgerade durch die Köge und Felder. Im Osten verkündet ein blassgrauer Streifen den baldigen
Sonnenaufgang. Mit jedem zurückgelegten Kilometer wird der Himmel heller. Und dann bin ich da. Endlich.
Aaron sitzt im Sessel, lehnt sich zurück. Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer wandern. Viel Grün im Raum, große Pflanzen. Braun, dunkel, matt, die Konturen der Möbel verschwimmen. Die Sonnenstrahlen, die sich den Weg durch die halbgeschlossenen Fensterläden bahnen, malen Lichtpunkte an die Wände.
»Finnja, du wieder«, belegt und rau Aarons Stimme. Er sieht verändert aus, Schmerz zeichnet seine Züge. Und doch ist er mir so vertraut, als seien wir nie getrennt gewesen.
»Ja, endlich. Weißt du, wie gut es tut, wieder hier zu sein, mit dir. Wie wunderbar sich das anfühlt, genau das tun zu können, was man gerade möchte. Und doch …« Ich halte inne, versetze meiner Euphorie einen kleinen Dämpfer. Wie können wir wissen, wie es sein
wird, wenn wir uns jetzt ins Leben stürzen, als seien wir aus einem langen Dämmerschlaf erweckt worden. Und dann ist da noch diese Bedrohung im Osten. Ich möchte nicht daran denken, möchte Leben schmecken, kann es aber nicht ganz verdrängen. Wird es Krieg geben? Sich anbahnende Worte schließe ich ein. Ich frage nicht.
»Lass uns rausgehen, hinunter an den Strand.« Aaron steht auf. Ich folge ihm. Und während wir laufen, erlebe ich ein Déjà-vu, und doch fühlt es sich an, als müsse ich das Atmen neu erlernen. Alles sauge ich auf, will es festhalten. Sanft dümpeln die Wellen ans Ufer, es weht eine leichte Brise, sodass das Strandgras sachte hin- und herwogt. Auf dem Felsen sitzt eine Möwe, den Kopf uns abgewandt, sie blickt aufs Meer, ist frei, sich jederzeit in die Luft zu erheben.
Ich lasse mich fallen, der Boden ist weich, etwas Sand mit Gras. Über mir der blaue Himmel, die Dämmerung hat unmerklich dem
neuen Tag Platz gemacht. Die Sonne steht noch tief, erhebt sich im Osten über das Meer. Mir wird bewusst: Die Natur hat einfach weitergeatmet. Während der letzten Monate hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, noch einmal hierher zu kommen. Hierher, wo meine Heimat ist, wo ich mich am meisten zu Hause fühle.
»Ist es nicht wie ein Wunder, dass wir hier zusammen sitzen können?«, sagt Aaron und seine Stimme vibriert.
Wie es sein wird – vielleicht …
Oh ja, ich empfinde es wie ein kleines privates Glück, und ich will es. Aber kann es nicht allzu schnell zerstört werden, wenn ich es jetzt auskoste bis zum Ende?
»Aaron, es war doch wie ein Schattendasein, das wir geführt haben. Und nun, das Licht … ich will nicht geblendet hineinstolpern. Ich möchte langsam gehen, möchte die Menschen
sehen, ihnen begegnen, ihnen zuhören, sie nicht mehr nur am Bildschirm erleben. Weißt du, all ihre Hoffnung, ihren Mut und ihre Zuversicht teilen, aber auch ihre Ängste. Und die, die ich liebe, möchte ich umarmen.« Aaron schweigt, schaut mich an und ich weiß, dass er mich versteht, wie er mich immer verstanden hat.
Und dann malen wir mit unseren Worten die Zukunft, in der Bilder voller Leichtigkeit den Ton angeben. Wir reden davon, ins Theater zu gehen, Urlaub zu machen, wir lachen, als wir feststellen, dass wir dazu nicht weit fahren müssen, der beste Ort ist hier. Wir träumen von Kneipen, in denen die Menschen sich noch auf das winzigste freie Fleckchen drängen und von Konzerten, bei denen die Musik die Menschen zusammenschweißt.
Und dann schweigen wir, so als seien wir erschöpft von all dem gedanklichen Erleben, das ja noch gar nicht stattgefunden hat.
Ich drifte ab, denke an jenen Sommer, in dem
das Leben für uns eine einzige Herausforderung war. Die Liebe uns atemlos machte und nur das Zusammensein allein genügte, um Heimat zu schaffen.
Aarons Hände holen mich in die Gegenwart zurück. Wir liegen immer noch am Strand, Arm in Arm, unsere Körper gezeichnet von den Jahren, meiner noch zusätzlich durch die Krankheit, und wir sind im Begriff, das zu wiederholen, was uns in dem Sommer damals so lebendig sein ließ.
Wolken haben die Sonne halb verdeckt, ein leichter Wind frischt auf, Grashalme biegen sich, kitzeln meine nackten Fußsohlen.
Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, schaue mich um. Die Sonne steht etwas tiefer im Westen, also schon Nachmittag.
»Wie wird es sein? Wie werden wir sein? Und wirst du bleiben?« Aarons Fragen schrecken mich auf. Ich brauche Zeit, um ihm zu antworten, weiß ja selbst nicht, was möglich
ist.
»Ich glaube, wir müssen das Vertrauen wiederfinden, das Vertrauen in andere, aber vor allen in uns selbst. Nicht bei allem zögern, nicht alles hinterfragen. Aber achtsam sein, ich denke, wir haben gelernt, wie wenig selbstverständlich Leben sein kann.
Das mitzunehmen, wenn wir die neue Freiheit jetzt ausprobieren, ist das nicht eine schöne Herausforderung? Menschen an die Hand zu nehmen und vielleicht auch uns an die Hand nehmen zu lassen? Und … «, kurz zögere ich, »ja, wir müssen viel verzeihen, anderen und uns… Ich möchte aber auch, dass man mir verzeiht. Meine Familie hatte es nicht leicht mit mir, wenn ich mich immer wieder zurückgezogen habe, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und den Warnungen meiner Ärzte.«
Werde ich bleiben? Hierzu habe ich noch keine Antwort. Aaron drängt nicht, er drückt meine
Hand, ich weiß, er hat jedes Wort so aufgefasst, wie ich es gemeint habe.
»Komm«, sagt er.
Mit einer Ahnung von Freiheit …
Arm in Arm gehen wir zurück. Im Haus zündet Aaron den Kamin an, die Abende sind noch kalt. Wir lassen den Tag mit einem Glas Wein ausklingen. Ich weiß plötzlich, dass ich nicht bleiben werde. Und ich sage es Aaron.
Er nickt. »Du wirst wiederkommen.« Es ist keine Frage, die er gestellt hat. Er vertraut darauf, weiß es.
»Ja, das werde ich. Aber es gibt so viel, das jetzt zuhause auf mich wartet. Ich brauche ein wenig Zeit. Ich will wieder die Philosophieseminare für Senioren besuchen, mich mit meinen Freundinnen treffen, Ausflüge mit meinen Enkeln machen, Lesungen halten … all diese scheinbar banalen Dinge tun, die so verschüttet waren. Aber ich möchte es langsam
machen, Schritt für Schritt.«
Aaron nimmt mich in den Arm, ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. »Wirst du es auch können? Wieder vertrauen, wieder leben?« Meine Gedanken sind bei Maren, die es nie mehr können wird. Er ist allein. »Ja, Finnja, das werde ich.« Sein Lächeln ist etwas zaghaft, aber doch tröstlich.
Am nächsten Morgen dann die Nachricht, die das Gefühl einer vielleicht zurückgewonnenen Freiheit fast ad absurdum führt.
»Putin ist in der Ukraine einmarschiert«, Aarons Worte explodieren in einem Kaleidoskop von Empfindungen. Wir sitzen im Garten. Ich frage mich, wie der Himmel so blau sein kann. Unser Schweigen wird nur ab und zu durch bange Fragen unterbrochen. Antworten haben wir nicht. »Aaron, ich habe Angst, all die Menschen, die doch leben wollen, einfach nur leben.«
»Ich weiß, Finnja«, Aaron nimmt meine Hände,
»ich auch, aber um der Freiheit und vielleicht auch um des Friedens willen, haben wir nicht auch eine Verpflichtung zum Leben – mit all seinen Facetten?« Und dann stellt er den iPod an und wir lauschen John Lennon's "Imagine".
Ich fahre am nächsten Tag, morgens ganz früh, es dämmert noch. Der Abschied ist kurz, ein banges Hoffen, dass die Trennung diesmal nicht für lange ist.
Während der Fahrt erlebe ich das Anbrechen des Tages, das Licht, das den blassgrauen Himmel wie ein samtenes Tuch in Blau hüllt. Die aufgehende Sonne in meinem Rücken besprenkelt die Bäume am Straßenrand mit Lichtreflexen.
Bin ich auf dem Weg ins Licht? Ich weiß, dass dieses Licht allzu rasch überschattet werden kann, eingehüllt in Dunkelheit. So fahre ich – mit dieser Ahnung von Freiheit und mit der Hoffnung auf Frieden.
Text und Cover: Enya Kummer
20.02.2022/27.02.2022