10. Kapitel: Wieder Zuhause und zweiter Teil von Martin
Ohne Frage war es schön mit den Kindern. Aber ich bin auch froh, mit meinen Gedanken wieder alleine zu sein. Was ist denn nur los mit mir? Ich bin völlig durcheinander. Ich will doch das Gift … oder etwa nicht?
Als ich meine Straße runterfahre, auf mein Haus zu, wird mir klar: So wie ich wohne, passt es nicht mehr für mein Leben. Die Kinder sind längst ausgezogen, Martin ist nicht mehr da ...
Ich parke das Auto in der Einfahrt und schließe die Tür auf. Große, menschenleere Zimmer begrüßen mich. Und Grabesstille. Ich höre meine Schritte hallen. Am Spiegel im Flur streiche ich über das Glas: Staub! Überall Staub.
In diesem Haus ist niemand, der mich begrüßt; der auf mich wartet. Auf dem Tisch steht nur ein Foto von Martin. Ich seufze. Hier ist kein Leben! Hier ist es kalt, leer und staubig. „Ein Hund, wäre schön!“, murmele ich. Martin hatte eine Tierfell-Allergie. Deshalb hatten wir nie Tiere gehabt.
Okay, dann bringen wir`s zu Ende. Ich
setze mich an den Tisch, nehme ein Blatt, dehne und strecke mich. Da durchzuckt mich ein stechender Schmerz in der Brust. Erschrocken reiĂźe ich die Arme runter. Was war das? Ein Infarkt? Ich lege eine Hand auf mein Herz und versuche, ruhig weiterzuatmen.
Aber ich rufe doch lieber meinem Hausarzt an und kündige mein Kommen an. Leichenblass setze ich mich ins Wartezimmer, angele mir eine Zeitschrift und blättere darin herum: Modetrends, ... Garten-Tipps, ... Horoskop! Okay, mal sehen. „Fische: Dieser Monat entpuppt sich Dank positiver kosmischer Einflüsse als ihr Power-Monat. Falls es ein paar
Bäumchen oder auch Bäume auszureißen gibt, können Sie das jetzt tun. Sie brauchen keinen Schongang mehr.“ Ich schüttele den Kopf. Na, so fühle ich mich aber nicht grade.
Dann werde ich aufgerufen. Nach einer gründlichen Untersuchung beruhigt mich Dr. Wegener: „Sie sind kerngesund, liebe Frau Gärtner. Das ist die Erschöpfung. Und die Trauer. Machen Sie sich keine Sorgen! Das braucht seine Zeit. Aber es wird vorbeigehen. Ein Tapetenwechsel täte ihnen vielleicht ganz gut. Vielleicht machen sie mal eine kleine Reise?“ Na, der Mann der hat Nerven…
Wieder zu Hause setze ich mich an den Küchentisch und starre auf den Stapel Papier: Jetzt nur noch eine Liebe! Genauer gesagt: Eine halbe Liebe. Und dann fällt mir auf, was das gerade für einen Irrsinn war, den ich gemacht habe: Ich bin zum Arzt gegangen, weil ich Angst hatte, zu sterben! Und zur gleichen Zeit bemühe ich mich, ein Gift zu bekommen, um genau das zu tun: Nämlich zu Sterben! Ich bin ratlos: Ich will doch zu Martin! Wieso habe ich dann Angst vor dem Sterben gehabt? Ich muss unbedingt ´ne Runde schlafen. Ich kann nicht mehr.
In der Nacht wälze ich mich unruhig hin
und her, wĂĽhle Martins Decke beiseite und endlich schlafe ich ruhiger. Morgens taste ich schlaftrunkend zur Seite: Was ist das? Martins Bettdecke ist an die Seite gequetscht, liegt fast auf dem Boden! Ich dagegen liege ausgestreckt in der Mitte! Voller SchuldgefĂĽhle stelle ich die alte Ordnung wieder her.
Etwas überrascht bin ich allerdings, dass ich trotz dieser völlig unmöglichen Deckenaktion gut geschlafen habe.Ich habe sogar richtig Lust auf den Geschmack von Kaffee. Und heute will ich das letzte Kapitel schreiben.
Mit dem Kaffee in der Hand setze ich
mich an den Tisch, blicke träumend auf die vertrocknete und verkrumpelte Azalee. Sie steht nur noch deshalb hier, weil sie mich an Martin erinnert. Im Geiste sehe ich ihn, wie er davor steht, ein paar alte Blätter abzupft und fragt, ob wir uns nicht ein Cabrio anschaffen wollen.
„Mach Platz für frische Gedanken!“, höre ich es in mir flüstern. Die Stimme hat ja irgendwie Recht. Ich stelle meine Tasse ab, nehme die Azalee und lege sie liebevoll in den Müll. Heute Nachmittag werde ich mir frische und bunte Tulpen kaufen.
Aber jetzt will ich erstmal weiter schreiben. Und wenn ich fertig bin, fahr ich zu Commutatio, hole mir das Gift und nehme mir endlich das Leben. …. Wie merkwürdig das klingt: Das Leben nehmen! Ich schüttele den Kopf: “Nein! Es bleibt dabei: Ich will zu Martin!“
Ich schreibe weiter….
***
Martin, Teil 2
Am Vormittag hatte ich bei einem
Kunden das letzte Seminar einer langen Reihe gegeben. Es war gut gelaufen. Begeistert verwickelte mich mein Kunde noch in ein Gespräch. Vielleicht bekam ich ja einen Folge-Auftrag? Das Ganze wurde länger als geplant. Die Kinder waren zum Glück bei der Tagesmutter; und Elsa kannte mein Dilemma. Endlich war ich fertig. Tatsächlich hatte ich einen neuen Auftrag in der Tasche! Aber ich war spät dran. Schnell wechselte ich Pumps gegen Turnschuhe, nahm mein Fahrrad und den Hänger und fuhr zu Elsa. Das Fahrrad ersparte mir das teure Fitness-Studio. Und beim Fahren konnte ich gut abschalten.
Ich war allerdings nicht die Einzige, die in Gedanken war. Das Auto, das mir entgegen kam, wollte links abbiegen. Die Fahrerin sah mich nicht und kreuzte schwungvoll meinen Weg. Erschrocken versuchten wir beide zu bremsen. Reifen quietschten, dann prallten wir zusammen! Ich flog ĂĽber die Motorhaube und rutschte auf der anderen Seite hinunter. Dort blieb ich liegen. Mein Herz raste. Irgendwo am Hals hatte es geknackt. Aber viel schlimmer fand ich, dass mein Arm weh tat und das linke Bein. Und mir war etwas schummerig.
Die Fahrerin öffnete erschrocken die Tür und kam um ihr Auto herumgelaufen.
Wortlos starrten wir uns an. Was sagt man in einer solchen Situation? „Guten Tag“? oder „Blöde Kuh“? Die Frau hielt ein Handy an ihr Ohr. Also wirklich! Zum Telefonieren ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt, dachte ich noch. Dann fiel ich in Ohnmacht!
Im Krankenwagen wachte ich wieder auf. An mir waren Schläuche, es blinkte und piepste und ich hörte eine Sirene. Zwei schwankende Rettungsassistenten lächelten mich an. „Ah, da ist sie ja wieder!“, sagten sie. „Sie hatten einen Verkehrsunfall. Wir bringen sie ins Krankenhaus!“ Ich schloss die Augen. Dann fielen mir die Kinder ein und riss
sie wieder auf. „Meine Kinder, ich muss ihnen Bescheid sagen.“
„Das machen wir schon. Wo sind sie?“ Ich sagte den Namen meiner Tagesmutter.
Angekommen im Krankenhaus wurden Bein, Arm und Wirbelsäule geröntgt. Als ich in die Notfall-Ambulanz zurückkam, sah mich die behandelnde Ärztin mit ernsten Augen an: „Ihr Bein ist gebrochen. Aber das kriegen wir bald wieder hin. Ihr Arm hat lediglich ein paar Schürfwunden, das verheilt bald. Was mir wirklich Sorgen macht ist ihre Wirbelsäule. Die ist ebenfalls gebrochen!“ Wie bitte? Ich verstand gar nichts: Meine Wirbelsäule war
gebrochen? Aber wieso konnte ich dann meine FĂĽĂźe bewegen?
„Sie hatten Glück im Unglück“, erklärte mir die Ärztin. „Ihre Wirbelsäule ist gebrochen; aber nicht das darin liegende Rückenmark. Wäre das Rückenmark auch verletzt, dann könnten sie ihre Füße nicht mehr bewegen. Wie gesagt: Sie hatten Glück im Unglück. Aber wir müssen operieren: Teile des Wirbelkörpers ragen in den Rückenmarkskanal. Und das kann zu Lähmungen führen!“, sagte sie und legte mir eine Halskrause um.
Der Rest ist schnell erzählt: Lange
Wochen im Krankenhaus, danach lange Wochen in der Reha. Endlich wurde ich entlassen. Aber ich durfte noch immer nichts heben, konnte mich nur eingeschränkt bewegen, war wetterfühlig und konnte lediglich auf der linken Seite schlafen.
Da wir zwei kleine Kinder hatten, bekamen wir von der Krankenkasse eine Haushaltshilfe: Safra. Sie kam aus Ägypten, hatte vier erwachsene Kinder, zwei Enkelkinder und unzählige Lachfalten. Safra brachte wieder Leichtigkeit in unser Leben. Wir alle liebten sie auf Anhieb. Wir konnten gar nicht anders. Der erste Blick hatte
genĂĽgt, um zu wissen, dass ein Engel in unser trauriges Haus gekommen war.
Safra bekam sofort einen HaustĂĽrschlĂĽssel, doch noch an ihrem letzten Tag klopfte sie stets an, bevor sie aufschloss. Sie brachte die Kinder in Schule und Kindergarten, holte sie wieder ab, kaufte ein, kochte und machte sauber. Und alles tat sie mit einem Lachen und bewundernswerter Leichtigkeit.
Die Ärzte sagten mir, dass ich mindestens ein halbes Jahrlang nicht mehr arbeiten dürfte. Wenn ich Glück hätte, würde danach fast alles wie früher
werden. Am Schreibtisch sitzen könnte ich. Aber ich dürfte keine Seminarkoffer und Flipcharts mehr schleppen. Es hatte tatsächlich nur die Zeit gebraucht, um über die Motorhaube eines Autos zu fliegen: Um mein Leben zu zerstören.Das war mein Ende als Trainerin und für meine Selbständigkeit. Und nicht mal mit meinen Kindern toben, sie hochheben, im Kreis drehen durfte ich.  Ich wurde schwermütig, launisch, empfindlich und depressiv.
Martin sah mein UnglĂĽck. Zwar las er mir jeden Wunsch von den Augen ab, aber er konnte mir meine Traurigkeit nicht nehmen. Mich nervte seine
fürsorgliche Art, sein Dackelblick; ständig pflaumte ich an. Erreichte damit allerdings nur, dass er sich nur noch mehr anstrengte, es mir Recht zu machen. Martin wusste bald nicht mehr, was er noch machen sollte. Ich auch nicht. Unsere Beziehung war in einer Sackgasse.
Dann kam unser Hochzeitstag; unser sechster. Ich hatte ihn wie üblich vergessen. Martin nicht. Die Kinder waren in der Schule und im Kindergarten, Safra war einkaufen. Eigentlich sollte Martin bei der Arbeit sein. Doch er war es nicht. Plötzlich stand er grinsend in meinem Zimmer. Ich
hatte ihn gar nicht kommen gehört. Aufgeregt winkte er mich runter. Schlecht gelaunt, aber ehrlich gesagt auch etwas neugierig, stand ich auf und hinkte runter.
Als ich ins Wohnzimmer kam, verstand ich gar nichts mehr. Da stand ein Fahrrad. Ein Fahrrad mit drei (!) Rädern! Und es hatte einen merkwürdigen Kasten unter dem Sattel. Am Lenker lehnten zwei Walking-Stöcke und davor standen meine alten Laufschuhe. Martin strahlte mich an. Er legte eine Hand auf den Sattel und erklärte: „Schatz, das ist ein E-Bike, ein Elektro-Fahrrad. Etwas völlig Neues. Siehst Du den Motor hier?“
Er zeigte auf den Kasten. „Damit kann man mit der halben Kraft doppelt so weit fahren. Toll nicht? Und umkippen kannst Du mit drei Rädern auch nicht. Ich hab die Jungs von der Fahrradwerkstatt gebeten, dir den Motor an dieses Fahrrad zu basteln. Gefällt es Dir?“
Ich war sprachlos. Abwechselnd starrte ich ihn und dann wieder das Fahrrad an. Dann weinte ich. Und dann lachte ich. Und weinte ich wieder. Ich war völlig durcheinander: Seit dem Unfall war ich nicht mehr Fahrrad gefahren. Aus Angst. Wie gefühllos war es bloß von Martin, mir ein Fahrrad zu schenken. Und auch noch so ein olles Oma-Rad mit drei
Rädern! Auf der anderen Seite: Das Ding fuhr fast von alleine und umfallen konnte ich auch nicht. Und dann noch Walking-Stöcke. Und meine Laufschuhe! Alles schrie mich förmlich an: „Genug mit Deinem Selbstmitleid. Beweg Dich! Los! Husch-Husch!“ Dieses Geschenk war völlig respektlos für einen Menschen, dem das Schicksal so übel mitgespielt hatte, wie mir. Und dieses respektlose Geschenk sollte von einem Bären im Tiefschlaf kommen? Ich war noch immer sprachlos. Klappte den Mund auf und wieder zu. Mit dieser `Ohrfeige` fing unsere Liebe neu an. Und mein Leben. Ich konnte wieder lachen.
Ein paar Wochen später bemerkte ich, dass Martin`s Harley nicht mehr in der Garage stand; seine geliebte Harley. Ich fragte nach. Zögernd erklärte er, dass er das Motorrad verkauft hätte, um mir das E-Bike kaufen zu können. Fassungslos schaute ich ihn an. Nach meinem Unfall hatten wir ein Einkommen weniger. Aber wir kamen mit Martins Einkommen ganz gut über die Runden. Nur für so was wie ein E-Bike reichte es halt nicht. „Ich möchte mit dir wieder Fahrrad fahren, Fredi. Komm, das hättest Du für mich auch getan!“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war zu viel für mich. Ich weinte los. Bären-Arme umfassten mich. Seit langem wieder.
Dann ging es bergauf. Ein halbes Jahr später begann ich mich als Personalentwicklerin zu bewerben, hatte Glück und bekam eine feste Stelle bei einem früheren Kunden von mir.
Als mein erstes Gehalt überwiesen wurde, hob ich es vom Konto ab, steckte es in einen bonbon-rosanen Briefumschlag, malte ein Motorrad und ein Herz drauf. Den Umschlag steckte ich in Martins Motorradhelm und wartete ab. Drei Tage später war es soweit: Es war ein warmer Tag, ich hatte die Fenster geöffnet, die Kinder spielten im Garten und Martin wollte noch eine Runde mit dem Motorrad drehen. Als ich ihn in
seiner Garage laut lachen hörte, wusste ich, dass er sich das Geld auf den Kopf gesetzt hatte. In voller Motorrad-Montur kam er hereingestürzt und umarmte mich. „Vorsicht, mein Hals!“ rief ich lachend. Martin strahlte: Er wisse schon ein Motorrad, das er kaufen würde und auf dem ich sehr bequem sitzen würde: Eine Katana.
Drei Wochen später stand die Katana in der Garage. Unsere erste Fahrt war zu Freunden nach Saarbrücken. Dort würde am nächsten Mittag die Sonne hinter dem Mond verschwinden; eine totale Sonnenfinsternis! Die Kinder hatten wir in Bremen bei Safra gelassen. Dort
würde die Sonne „nur“ zu 85% verschwinden. Das war nicht ganz so gruselig, wie in Saarbrücken, wo es ganze 100% sein sollten. Mitten am Tag würde die Sonne verschwinden. Das musste gruselig sein!
Wir hatten uns auf einen Berg gesetzt; mit den Schutzbrillen auf der Nase. Martin und ich hielten uns aufgeregt an den Händen. Um 11.45 begann das Schauspiel: Immer mehr verschwand die Sonne. Von Minute zu Minute wurde es dunkler. Irritiert hörten die Vögel auf zu singen. Dann wurde es stockdunkel! Und totenstill! Dunkel und völlig lautlos! Fünf Minuten lang. Oja, das war
gruselig! Ich kam mir so machtlos vor; eine kleine, unbedeutende Ameise in einem riesigen Weltall. Dann kam der Koloss wieder hervor: Die Sonne war wieder da und strahlte! Und der Jubel brach aus; von Mensch und Tier. Martin und ich sahen uns glĂĽcklich an: Auch wir warenwieder da: Als Liebespaar!
Doch `Friede-Freude-Eierkuchen-Liebespaare` gibt es eben nur in Büchern, oder in Filmen; aber nicht im wirklichen Leben. Wir haben gewütet, gestritten, uns gekränkt, waren böse aufeinander, haben oft schmollend in getrennten Betten geschlafen. Aber losgelassen haben wir uns nie. Und das
Lachen hat uns auch nie wieder verlassen.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich mir den Magen verdorben hatte. Martin war auf einem Sicherheitstraining für sein Motorrad-Gespann. Abends hatten wir noch telefoniert. Das Telefonat war ziemlich kurz, weil ich heftige Bauchschmerzen hatte. Meine Nacht war schrecklich gewesen. Irgendwann überlegte ich, ob es nicht einfacher wäre, auf dem Klo zu schlafen. Als am nächsten Morgen das Telefon klingelte, meldete ich mich entsprechend erschöpft. „Oh Fredi, es ist großartig hier“, blubberte Martin los.
„Ich lerne soviel! Ich freu´ mich schon, wenn ich wiederkomme und wir zusammen fahren können.“ Beleidigt schwieg ich. „Fredi? Bist Du noch da?“
„Ja!“
„Schatz, was ist denn los?“, fragte er verunsichert.
Ich holte tief Luft und legte los: „Erstens hatte ich eine furchtbare Nacht! Und Zweitens habe ich Dir gestern Abend schon gesagt, dass ich mir den Magen verdorben habe. Ich dachte, Du würdest wenigstens mal fragen, wie es mir inzwischen geht!“
„Entschuldigung!“, sagte er erschrocken.
Eingeschnappt schwieg ich. „Mir geht’s
gar nicht gut. Lass uns später telefonieren!“, sagte ich maulend.
„Okay Liebes, mach´s gut! Gute Besserung!“, sagte er traurig.
„Ja, tschüss“. Ich knallte den Hörer auf. „Ignorant!“, schimpfte ich.  Als ich gerade den Wasserkocher unter den Wasserhahn hob, um mir einen Kamillentee zu machen, klingelte erneut das Telefon. Martins Nummer war im Display. Ich hob genervt ab. Doch noch ehe ich etwas sagen konnte, sagte er liebevoll: „Guten Morgen, mein Liebes! Geht’s dir besser? Wie war Deine Nacht?“
An unserem neunten Hochzeitstag lag
ein Päckchen von ihm auf meinem Bett. Ich wickelte es aus. Es war unser Lieblingsgedicht von Erich Fried. Martin hatte es rahmen lassen. Es heißt „Aber“.
Aber
Zuerst habe ich mich verliebt
in den Glanz deiner Augen
in dein Lachen
in deine Lebensfreude.
Jetzt lieb ich auch dein Weinen
und deine Lebensangst
und die Hilflosigkeit
in deinen Augen.
Aber gegen die Angst
will ich dir helfen,
denn meine Lebensfreude
ist noch immer der Glanz deiner Augen.
***
Tränen laufen mir über das Gesicht. Es ist das erste Mal seit seinem Tod, dass ich weinen kann. Martin, Geliebter, Du fehlst mir so unendlich... Aber jetzt komme ich zu Dir. Ich wische mir über die Augen, mache ein Gummi um den fertigen Papierstapel, nehme meine Jacke und verlasse das Haus.