Kapitel 7: Martin
Von der Liebe zu Dir erzähle ich ausgesprochen gerne. Denn sie ist die Liebe, die mein Herz berührt hat. So sehr, dass ich nicht mehr ohne dich leben mag. Lass mich erzählen und dabei ganz nah bei dir sein …
…..
Martin
„Wir sind ein Volk!“ Nachdem Hunderttausende DDR-Bürger hartnäckig und friedlich in Leipzig, Dresden,
Schwerin und vielen anderen ostdeutschen Städten demonstriert hatten, war die Mauer tatsächlich offen! Zentrum dieser unglaublichen Ereignisse war Berlin; meine Geburtsstadt.
Neun Jahre hatte mein Schulweg an der Westseite der Mauer entlang geführt; vorbei an Graffitis, Brennnesseln und Hundekacke. Auf der Ostseite dagegen, hinter einer vier Meter hohen Betonwand, gab es einen siebzig Meter breiten Streifen feinst geharkter Erde, Grenzbeamte mit Schäferhunden, Bewegungslosigkeit: Den Todesstreifen!
Und nun sollte das alles vorbei sein?
Als Berliner Pflanze wollte, musste ich in der Silvesternacht unbedingt zum Brandenburger Tor! Ich wollte das Tor berühren, es anfassen. Das, was ich bisher nur über eine dicke Betonwand hinweg sehen konnte. Ich hätte platzen können vor überquellender Freude.
Am 29. Dezember fuhr ich mit dem Zug von Bremen nach Berlin; zu Freunden von mir: Gabi und Jan.Schon die Zugfahrt durch die Transitstrecke war ein herrlich schräges Ost-West-Erlebnis. Die Stadt selbst war außer Rand und Band.Völlig fremde Menschen lagen sich in den Armen.
Am Silvesterabend stand ich schließlich mit Gabi und Jan vor dem Brandenburger Tor; zusammen mit zigtausend Anderen. Was war das für eine irre Stimmung!Noch stand sie da, die Mauer in ihrer massigen Bedrohlichkeit. Doch die`Mauerspechte` hämmerten und klopften sich eifrig ihre Erinnerungsstücke heraus. Unweit des Brandenburger Tores, gab es einen neuen Grenzübergang.Die DDR-Grenzer dort schafften es längst nicht mehr, jeden DDR-Ausweis zu prüfen. Wer irgendein Dokument in die Luft hielt, wurde durchgewunken.
Zusammen mit Gabi, Jan und vielen
Anderen schob, presste und quetschte ich mich auf das Tor zu. Immer riesiger und gewaltiger ragte es vor mir auf. Ich war nur noch Auge.
Da zerrte etwas an meinem Fuß. Ich rüttelte, zog, doch ich kam nicht los! Hektisch versuchte ich, freizukommen, während die Massen von hinten ungerührt weiter schoben. Gleich musste ich das Gleichgewicht verlieren. Doch ich bekam nicht etwa Panik; ich bekam: Wut! Ich wollte weiter zum Brandenburger Tor, verdammt noch mal! Ich wollte mich jetzt nicht um einen blöden Schuh kümmern!!! Ärgerlich zerrte ich erneut. Und bekam den Schuh
endlich frei.
Gewaltig ragte das Brandenburger Tor vor mir auf. Dann war einer der Torbögen direkt über mir. Da, die Steinreliefs mit Herkules. Es war unglaublich: Ich war tatsächlich unter dem Brandenburger Tor!!! In meinem Kopf war völlige Stille, in meinem Bauch Ehrfurcht.
Knacks! Mit einer ohrenbetäubenden Lautstärke wurde ich wieder auf Sendung geschaltet: Menschen jubelten, warfen Knaller, hielten Sektflaschen hoch, schossen Raketen, es war ein unglaublicher Lärm. Gabi brüllte mir zu,
dass wir uns an den Rand des Pariser Platzes stellen sollen. Wir drängten uns aus der Menge. Hier war es tatsächlich etwas ruhiger. Und wir hatten einen sagenhaften Blick auf das Brandenburger Tor! Die Quadriga lenkte mit einer Deutschlandfahne in der Hand ihren Wagen durch die Menschenmassen. Wir öffneten den Rotkäppchen-Sekt und tranken aus der Flasche.
Neben dem Tor stand eine Videoleinwand, an der unzählige menschliche Ameisen hochkletterten. Was mussten die für einen großartigen Blick haben! Einige sprangen sogar von dort auf das Brandenburger Tor. Das
wollte ich auch versuchen. Ich überlegte, von wo ich am besten den Aufstieg beginnen sollte. Als sich mit einem Mal,... kaum wahrnehmbar ... das Gerüst zu neigen begann. ... Es kippte! ... Immer schneller! … Schreie drangen zu uns. Dann war das Gerüst verschwunden! Zusammen mit unzähligen Menschen. Fassungslos starrte ich auf die leere Stelle, wo es eben noch stand. Es war umgestürzt! Mit den ganzen Menschen darauf! Und ich wäre auch beinahe dabei gewesen!
Plötzlich teilte sich vor uns die Menschenmenge und zwei Männer schleppten einen im Gesicht blutenden
Mann herbei. Er stöhnte. Sie legten den Mann vor uns auf den Straßenboden, drehten sie sich um und rannten wieder weg; vermutlich um weitere Verletzte zu holen. Der Typ war etwas 20 Jahre, trug Jeans, eine helle Jacke, hektisch hob und senkte sich seine Brust, aus einem Auge floss Blut. Ich kniete mich neben ihn und legte meine Hand auf seine Brust. „Ooh!“ stöhnte er. „Die verfluchten Linsen; die müssen raus. Die tun scheiße weh. Los, hilf mir mal, mein Arm ist hin!“ Eine tiefe Stimme neben mir sagte: „Gar nichts müssen die Dinger.“ Ich blickte zur Seite: Der Mann, dem die Stimme gehörte, zog seine Jacke aus und deckte den Verletzten damit zu.
„Ruhig!“, sagte er, „gleich kommen die Sanis!“
Und tatsächlich: Plötzlich wie aus dem Nichts kam da ein Rettungswagen! Wie haben die uns hier gefunden? Zum zweiten Mal an diesem Abend war alles wie in einem Stummfilm. Ein Stummfilm, der in Zeitlupe lief. Zwei Sanitäter stiegen aus, ... hoben den Verletzten auf eine Trage, ... schoben ihn in den Krankenwagen, ... der unbekannte Helfer bekam eine blutbefleckte Jacke wieder, ... er bewegte die Lippen, ... die Sanitäter nickten, … stiegen ein … und der Krankenwagen quälte sich zentimeterweise durch die Massen. Mit
einem Mal schalteten sich Echtzeit und Lautstärke wieder dazu: Mit einem knirschenden Geräusch, dass Autoreifen machen, die langsam über Glasscherben rollen.
Ich blickte dem Krankenwagen entgeistert nach, sah auf meine blutigen Hände und guckte zur Seite: Ein bäriger Mann grinste mich an, hob seine großen Hände hoch und fragte: „Können wir uns hier irgendwo waschen?“
So haben ich Martin kennengelernt. Am Silvesterabend. In Berlin. Am Brandenburger Tor.
Wir gingen ins Stresemann-Café am Anhalter Bahnhof. Gabi und Jan suchten einen Platz, während Martin und ich uns die Hände wuschen. Wieder am Tisch musterte ich ihn verstohlen: Nett sah der aus. Wie ein Bär mit blauen Augen. Es wurde noch ein wundervoller Abend. Quatschend und lachend begrüßten wir 1990: Martin und ich, Gabi und Jan.
Martin war über Sylvester bei seinem Bruder in Zehlendorf untergekommen. Er war ein `Fischkopp` und kam ebenfalls aus Bremen. Wieso waren wir uns vorher nie begegnet? Den Mauerfall wollte er mit eigenen Augen sehen. Drei Tage war er schon hier. Morgen musste er wieder
zurück. Wir beschlossen, dass er mich mit seinem Auto mitnimmt. Ich war vollgepumpt mit Serotonin, Endorphin und all ihren sympathischen Kollegen. Was hier gerade passierte, in dieser Stadt, mit diesem Bären und mit mir, war einfach nur magisch.
Martin holte mich mit seinem Saab ab. Als ich mich neben ihn setzte, war ich überzeugt: Das war kein Auto! Das war ein Flugzeug! Überall leuchtete und blinkte es! Flug 7901 nach Bremen. Tower bitte kommen! Klar zum Starten? Das war keine der alten Schrabbelkisten, die ich gewöhnt war. Der Kapitän lächelte mich an, legte seine großen
Hände auf`s Lenkrad ... und wurde eins mit seinem Fliewatüüt! Eine geheimnisvolle Kraft schien in seine Arme zu fließen. Seine Schultern entspannten sich, er atmete tief und gleichmäßig. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Die ganze Strecke saß ich gemütlich auf dem Beifahrersitz und lächelte Martin an. Und Martin lächelte mich an. Und im Radio sang Phil Collins „Another Day In Paradise“.
Während wir uns anlächelten, erzählten wir aus unserem Leben. Martin liebte Stahl, hatte „Schlosser“ gelernt, sich hochgearbeitet, eine Zusatzausbildung gemacht und war jetzt Abteilungsleiter in
einem Großhandel für Metalle. Wenn er nicht gerade Stahl verkaufte, baute er alte Motorräder zusammen, die er selber fuhr; leidenschaftlich gerne!
Viele lächelnde Stunden später kamen wir verliebt in Bremen an. Dass wir gut zueinander passten, war für uns überdeutlich. Doch unsere Wunden...! Wir waren noch immer damit beschäftigt, sie zu lecken. Beide kamen wir aus Liebesbeziehungen, die mit einem schmerzhaften Knall geendet hatten. Unser erstes gemeinsames Jahr war deshalb ein einziges Hin und Her. Fast hätten wir uns wieder losgelassen.
Martin wohnte in einer Berufstätigen-WG, ich in einer kleinen 1-Zimmer-Wohnung. Dann kam der Tag, am dem wir beschlossen, gemeinsam auf das nächste Level zu klettern: Wir wollten zusammenziehen! Wir öffneten eine Flasche Sekt und gingen in die Wanne. In der einen Hand das Sektglas, in der anderen Hand das Klemmbrett, notierten wir alles, was unsere gemeinsame Wohnung haben sollte: Eine Garage für Martin, einen Garten für mich, Platz für seine Werkstatt, viel Licht für uns beide und der wichtigste Punkt: Für jeden sein eigenes Zimmer! Als wir wieder nüchtern und ausgeschlafen waren, fingen wir an zu suchen. Und fanden eine traumhafte
Altbauwohnung mit Garten.
Der Alltag mit Martin war wunderbar. Ich lernte Dart-Spielen, Martin lernte Billard-Spielen. Gemeinsam lernten wir Walzer, Quickstepp und Tango. Martin bewegte Erde und Pflanzen in unserem Garten und ich guckte die Fußball-Weltmeisterschaft. Wir fuhren mit dem Motorrad nach Frankreich, zelteten zwischen duftenden Rosmarin-Büschen und hörten bei Rotwein aus Plastikbechern den Grillen zu. Martin und ich beschlossen, zusammen zu bleiben und zu heirateten.
Bei der Wahl der Ringe gab es
überraschend Schwierigkeiten: Martin mochte kein Gold; ich kein Silber. Martin wollte einen Ring, den er auch in seiner Werkstatt anbehalten konnte; meiner sollte zu einem hinreißenden Kleid passen. Zwei verschiedene Ringe? Nee, man sollte ihnen schon ansehen, dass sie zusammengehörten. Ohrringe? Nee, Martin hatte keine Ohrlöcher! Ein kariertes Maiglöckchen war einfacher zu finden. Bei einem befreundeten Goldschmied entdeckten wir sie endlich: Fein gehämmerte Ringe, denen man unsere Lebensspuren ansehen durfte. Martin`s Ring in Platin und meiner in Feingold! Wir ließen uns das Versprechen eingravieren: „Leben,
Lieben und Lachen“. Zum ersten Mal in meinem Leben war alles perfekt.
Aber Stillstand passt nicht zu mir. Ich wollte weiter. Der Kinderwunsch kam von mir: Martin hatte schon einen Sohn aus erster Ehe. Einen, den er kaum sah. Er war deshalb nicht sehr begeistert. Aber ein „Nein“ wollte er mir auch nicht geben. Ein „Ja“ war allerdings auch nicht aus ihm rauszukriegen. Irgendwann entschied ich mutig für uns beide zusammen: Ich hielt den Mund und wurde schwanger; mit Anja. Martin freute sich über alle Maßen. In einem brüllend-heißen Sommer wurde ich zu einem mobilen Wasserbett. Gleichzeitig
mit der Schwangerschaft war ich mein eigener Arbeitgeber geworden: Ich verdiente mein Geld als selbständige Kommunikations-Trainerin und Coach. Schon kurz nach der Geburt plante ich bereits wieder meine Seminare. Was recht gut ging, da Anja anfangs ziemlich viel schlief.
Dann fing Anja an zu krabbeln. Fast über Nacht war nichts mehr sicher vor ihr: Fernbedienung, Telefon, Schere, Blumenvase … Mit der Hand an der Hüfte wanderten Martin und ich durch unsere Wohnung. Und alles, was unter Handhöhe war, kam in den Keller, wurde hochgestellt oder verschenkt.
Anschließend hatten wir eine kleinkind-gerechte Wohnung! Unsere eigenen Zimmer gab es nicht mehr. Nur noch Wickelkommode, Windeln und Sandspielzeug. Bald funktionierten wir wie eine perfekte Maschine: Martin kam von seiner Arbeit nach Hause, ich war schon umgezogen, küsste mit durchgestreckten Armen das Kind, damit es mich nicht vollspucken konnte und spurtete zu meinen Seminaren. Bald spürten wir in unserem Miteinander das `Getaktet-Sein` und die Platznot: Wir wurden gereizt und angespannt. Es war klar: Wir brauchten mehr Platz! Wir rechneten: Wir hatten Martins festes Einkommen und mein Einkommen wuchs.
Wir konnten es wagen!
Bei der Eroberung einer größeren Wohnung gingen wir wie Feldherren vor: Wir holten uns eine Stadtplan von Bremen, nahmen einen Zirkel und zogen um Martins Arbeitsstelle einen Kreis; einen zwanzig-Minuten-Kreis. Länger durfte Martin nicht nach Hause brauchen, weil ich dann los musste. Wir suchten und suchten und suchten. Währenddessen wurde ich wieder schwanger; mit Jens. Kurz bevor er geboren wurde, fanden wir ein Haus mit Garten. Mit dickem Bauch fand der Umzug statt.
Bald waren wir zu viert: Martin und ich,
Anja und Jens. Doch es war bereits zu spät: Zwischen Martin und mir wurde es eng. Das Liebespaar von einst gab es nicht mehr. Nur noch der Geruch voller Windeln und durchwachte Nächte! Ich hatte wohl zu viel gewollt! Für die Vorbereitung meiner Seminare musste ich mir ebenfalls was Neues einfallen lassen: Immer wurde ich von den Kindern unterbrochen. Aber noch mehr Stunden bei der Tagesmutter konnten wir uns nicht leisten. Wir mussten es schaffen!
Bei unseren Übergaben hatten wir nur Zeit für einen kurzen Zustandsbericht: „Jens´ Windeln sind voll, Anja ist mit dem Stuhl umgekippt, der Kühlschrank
ist leer, die Spülmaschine ist fertig, ich bin gegen 22.00 Uhr zurück.“ Wir gaben uns einen Kuss und weg war ich. Als ich spät abends zurückkam, setzte ich mich erschöpft mit einem Bier neben Martin vor den Fernseher. Nach einer Stunde machten wir den Fernseher aus und gingen schlafen; jeder auf seiner Seite. So war unser Leben. Als Paar hatten wir uns aus den Augen verloren. Wir waren nur noch mit Kindern und Arbeit beschäftigt. Doch wir reagierten völlig unterschiedlich: Ich wurde immer hektischer und Martin immer g e r u h s a m e r.
Ich war unglücklich: Klar, ich hatte
einen tollen Beruf und tolle Kinder, aber was war mit der erwachsenen, privaten Frederike? Martin, der Bär, schien seinen Winterschlaf zu halten und wollte nicht gestört werden. Er hatte ja auch viel erreicht: Er hatte eine Frau, zwei, sogar drei Kinder, war zum Betriebsleiter aufgestiegen, hatte ein Haus, zwei Autos und zwei Motorräder. Ja, das konnte so bleiben. Gute Nacht!
Ich dagegen kannte keinen Winterschlaf! Ich wollte das Spannende, das Ãœberraschende, das Neue. Auch im Winter. Ich war erst Mitte 30! Das konnte doch nicht alles gewesen sein? Ich wollte noch soviel erleben! Ich hatte
noch mindestens 50 Jahre zu leben! Es war also noch nicht einmal Halbzeit. Ständig gab es Streitereien, die Martin leider nur für kurze Zeit aus seinem Winterschlaf weckten. Dann schlief er wieder ein. Bis ich erneut meckerte. So verging die Zeit. Ich bekam Falten um den Mund und Martin wurde schwerhörig.
Mir wurde klar: Wenn ich nicht auch einschlafen wollte, musste ich den Bären in seiner Höhle lassen. Ich musste alleine in die Welt gehen. Am liebsten wäre ich sofort mit den Kindern ausgezogen. Doch wovon sollte ich all die regelmäßigen Dinge bezahlen: Brot,
Schulsachen, Schuhe? Ich baute gerade meine Selbständigkeit auf. Mein Geld kam nicht schön regelmäßig, sondern in Wellen. Ich traute mir viel zu, aber das? Es half alles nichts: Ich musste die Zähne zusammenbeißen, bis ich beruflich fester im Sattel saß. Bis dahin musste es gehen. Ich musste durchhalten! Musste, musste, musste...!
Und dann kam der Tag, der alles veränderte.
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Ich schmeiße den Stift aufs Blatt. Verdammt! Ich bin nicht fertig geworden! Aber ich muss jetzt los; nach Kiel. Ich strecke mich: Mir tut alles weh! Verdammt, warum muss dieses blöde Rumbohren in der Vergangenheit eigentlich sein?
Ich muss zu Jens. Morgen hat er seine Zwischenprüfung vor der IHK. Er hat sich so sehr gewünscht, dass ich dabei bin. Aber es passt gerade überhaupt nicht; bin mittendrin im Schreiben. Eigentlich wollte ich fertig sein. Ich stehe mühsam auf, hole die Reisetasche und schleppe mich in mein Zimmer.