Schreibparty 95
"Sei du selbst die Veränderung, die du dir
wünschst für diese Welt."
(Mahatma Gandhi)
"Wir können den Wind nicht ändern,
aber die Segel anders setzen."
(Aristoteles)
Diese beiden wunderbaren Zitate bildeten die Grundlage für die Aufgabenstellung. Hierfür habe ich mein Buch "Der Klang der Triangel", geschrieben im April 2016, grundlegend überarbeitet und viele Passagen neu geschrieben.
MerleSchreiber 01/2022
Beas Krankheit
Die Wohnungstür stand offen. Warum stand sie offen? Die Ratten würden ungehindert in alle Räume kommen. Und mit ihnen die Läuse und mit den Läusen die Seuche. Bestimmt war das gefährliche Virus schon in der ganzen Wohnung verteilt. Bei diesen Gedanken verspürte Bea einen Brechreiz. Gleich würde sie sich übergeben müssen. Und ich muss diese verdammte Türe schließen, dachte sie. Unter leisem Wimmern versuchte sie aufzustehen.
Vergeblich.
Kraftlos sank sie in sich zusammen und krümmte sich mit stechenden Schmerzen im rechten Sprunggelenk auf dem kalten Fußboden des Flures.
Sie musste sich bei ihrem Sturz vor ein paar Stunden verletzt haben. Auch bemerkte sie jetzt, dass ihre Hose nass war und sie in einer Urinlache lag. Aber es war ihr egal, es war sowieso alles sinnlos. Wenn Luisa nicht wäre,
hätte sie das Messer, mit dem sie sich an manchen Tagen in ihre Oberarme schnitt, schon längst an den Pulsadern angesetzt.
Auch heute hatte es ihr wieder eine große, wenn auch nur kurzfristige Erleichterung verschafft, das warme Blut über ihre Haut rinnen zu spüren und zu wissen, dass dieser körperliche Schmerz den Schmerzen ihrer Seele befehlen würde, sich zurückzuziehen. Irgendwann würde Luisa von der Schule nach Hause kommen und ihr helfen. Auf Luisa konnte sie sich verlassen, sie war so ein starkes Mädchen. Und sie hatte keine Angst vor den Ratten!
Luisas Lügen
"Kommst du heute auch ins Schwimmbad?", rief ihr Franzi nach, als der Bus an Luisas Haltestelle hielt und sie sich zum Aussteigen bereit machte.
"Nein, ich habe keine Lust."
"Du hast nie Lust. Weißt du was? Du bist eigentlich gar keine richtige Freundin."
Luisa versetzte es einen gewaltigen Stich, doch übertrieben gleichgültig schmetterte sie zurück:
"Dann such dir doch eine andere Freundin, mir ist das egal!"
Das war gelogen.
Aber darauf kam es nicht an.
Luisa musste ständig lügen.
Erst heute in der 10 Uhr Pause hatte sie auf eine Frage ihrer Klassenlehrerin die Unwahrheit gesagt.
"Mama arbeitet soviel, sie kann diese und auch die nächste Woche nicht zum Lehrergespräch kommen."
Nachdenklich hatte Frau Winter die Augenbraue hochgezogen und Luisa ebenso besorgt wie prüfend angesehen.
"Sag mal, Luisa, geht es dir gut? Du bist so blass. Ist zu Hause alles in Ordnung?"
Luisa hatte den Kopf gesenkt und begonnen,
angestrengt an den Kordelenden ihres Turnbeutels zu nesteln, um Frau Winter nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
Sie fühlte sich ertappt. Spürte, wie ihr Herzschlag immer schneller wurde. Aber bald hatte sie sich wieder im Griff gehabt und betont fröhlich zur Antwort gegeben:
"Bei uns zuhause? Ja, ja, da ist alles okay!"
Dann hatte sie sich abrupt umgedreht und war in Richtung Pausenhof losgestürmt.
Frau Winters Entschluss
Frau Winter sah Luisa nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie machte sich Vorwürfe, wieder nicht deutlicher geworden zu sein, obwohl es offensichtlich war, dass es Luisa nicht gut ging. Sie trat an das große Fenster und ihre Augen suchten nach Luisas ockerfarbenen T-Shirt unter den vielen fröhlich spielenden Kindern im Hof.
Ich handle fahrlässig, dachte sie, als sie Luisa,
ganz alleine am Kastanienbaum stehend, entdeckt hatte. Und ich belasse es jedes Mal bei dem Wunsch, dass ich mich irren würde.
Wie um ihren Gedanken Nachdruck zu verleihen, nickte Frau Winter, denn sie hatte soeben einen Entschluss gefasst. Obwohl der Gong zum Pausenende in wenigen Minuten ertönen würde, ging sie noch einmal eiligen Schrittes ins Lehrerzimmer und holte ein kleines Kärtchen aus ihrem Fach.
Luisas Wunschorakel
Es war nicht weit von der Bushaltestelle bis zur Wohnung. Nur ein kurzes Stück über die Fußgängerzone und dann in eine kleine Seitengasse. Obwohl Luisa wusste, dass sie sich beeilen sollte, schlenderte sie auf dem Nachhauseweg. Für diese kurze Zeit fühlte sie sich frei, sah sich die Dekorationen der Geschäfte an und nahm im Vorübergehen ihr
Spiegelbild in den Schaufenstern wahr. Am liebsten aber hatte sie den kleinen Blumenladen an der Ecke. Luisa mochte alle Blumen, aber besonders liebte sie Margeriten. Für sie gab es keine schöneren Blumen als diese! Man konnte sich die Blüten einzeln ins Haar stecken oder einen Kranz flechten. Man konnte aber auch "er liebt mich, er liebt nicht" oder "ich bekomme es, ich bekomme es nicht" damit spielen. Dann wusste man, ob das, was man sich sehnlichst wünschte, in Erfüllung gehen würde oder nicht.
Im Vorübergehen stibitzte sich Luisa von einem Margeritenstrauch eine Blume. Kurz darauf stemmte sie sich gegen die schwere hölzerne Haustüre am Eingang und drückte sie auf. Und während sie ganz langsam die Treppe zur Wohnung hochging, zupfte sie bei jeder Stufe eines der weichen, weißen Blütenblätter ab.
H e u t e w i e d e r.
Mama war so anders, wenn sie einen schlimmen Tag hatte.
H e u t e n i c h t.
Wenn es ihr gut ging, dann hatte sie für Luisa gekocht und dann interessierte es sie, wie es in der Schule war.
H e u t e w i e d e r.
Einfach so, ohne dass Luisa wusste, warum, wurde Mama wütend und schrie sie an.
H e u t e n i c h t.
Wenn Mama gut gelaunt war, hatte sie schon die Betten gemacht und das Frühstücksgeschirr abgewaschen.
H e u t e w i e d e r.
Wenn es ihr schlecht ging, dann kam es vor, dass sie wild um sich schlug, so dass Luisa am nächsten Tag blaue Flecken unter einem langärmeligen Pulli verstecken musste.
H e u t e n i c h t.
Heute nicht? Ein Lächeln breitete sich über Luisas Gesicht aus, als sie an der
Wohnungstüre angekommen war. Sie hielt kurz inne, drehte den blütenlosen Margeritenstengel
zwischen den Fingern ihrer linken Hand, öffnete einen Spalt breit das Treppenhausfenster und ließ Blüten und Halm auf die Gasse hinabregnen.
Beas Dämonen und Luisas Triangel
Dann steckte Luisa den Schlüssel, den sie an einem Lederbändchen um ihren Hals trug, in das Türschloss. Doch die Türe war nur angelehnt. Sie hörte ein Wimmern und wusste, auch auf das Margeritenorakel kann man nicht vertrauen.
Denn es war ein HEUTE-WIEDER-TAG!
Sie ließ ihre Schultasche gleich neben der Türe fallen, kniete sich zu ihrer Mutter auf den Boden, streichelte sie am Arm und flüsterte:
"Was ist mit dir, Mama?"
„Nichts, was soll denn sein? Es ist nichts!", presste Bea aus ihrer Trance erwacht mit weit aufgerissenen Augen hervor und versuchte ihre Tochter wegzudrängen. Dabei stieß sie spitze
Schreie aus, die nach einiger Zeit von einem hysterischen Weinen abgelöst wurden.
"Geh weg, verschwinde!", schrie sie.
Der Gesichtsausdruck der Neunjährigen war nun wie versteinert. Versteinert und leer.
Bea tobte immer mehr und stieß sie weg!
Luisa ging in ihr Zimmer und holte die Triangel, die ihr Oma zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte, aus dem Versteck in der Kommode. Sie tastete zwischen der Wäsche nach dem dazugehörigen eisernen Stäbchen und kauerte sich auf den Boden vor dem Bett. Dann entlockte sie dem Instrument klirrende Töne, die das irre Schreien der Mutter überdeckten. Luisa hielt die Augen dabei geschlossen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Als Oma noch lebte, war sie mit Luisa manchmal in den Zoo und auf einen Spielplatz in der Nähe gegangen. Sie stellte sich vor, mit Franzi und den anderen Mädchen im Schwimmbad die lange Rutsche hinunter zu sausen und anschließend
auf dem Heimweg in den Häuserwinkeln verstecken zu spielen.
Luisa horchte. Mamas Schreie waren in ein leises Wehklagen übergegangen. Aber Luisa traute sich noch nicht zu ihr. Sie erinnerte sich an das Kärtchen, das ihr Frau Winter heute nach der Pause zugesteckt hatte und an ihre Worte:
"Ich verstehe ja, wenn du mit mir nicht reden willst, Luisa. Aber hier steht eine Nummer, da kannst du anrufen. Dort haben sich schon viele Kinder gemeldet. Und die reden nicht nur, die unternehmen mit den Kindern auch ganz tolle Sachen, Ausflüge zum Beispiel."
Das wäre schön, dachte Luisa.
Aber nein, das geht nicht. Ich darf nichts verraten! Wenn ich das tun würde, sagt Mama, müsste ich von ihr weg - in ein Heim oder zu einer anderen Familie.
Nach einer Weile drang kein Laut mehr aus dem Gang in Luisas Zimmer. Sie packte die Triangel weg und schlich sich an der noch immer am
Boden liegenden und jetzt ruhig schlafenden Mutter vorbei in die Küche. Sie machte den Herd an und stellte einen Topf mit Wasser auf, um Nudeln zu kochen. Dann suchte sie in Mamas Wäscheschrank nach frischen Sachen und legte sie auf dem Bett zurecht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Mutter aufwachen und sich bei Luisa entschuldigen würde. Nach einem schweren Schub war sie dann hinterher immer besonders fröhlich, lachte laut und ausgelassen. Luisa bemerkte dann nur noch an ihren fahrigen Bewegungen und ihren flackernden Augen, dass das zuvor Erlebte Wirklichkeit und keine Einbildung gewesen war.
Doch diesmal war es anders. Bea wollte, aber konnte nicht aufstehen. Der Knöchel war mittlerweile dick angeschwollen.
"Mama, wir brauchen Hilfe! Wir müssen einen Notarzt rufen", sagte Luisa bittend.
Bea hatte mittlerweile jeden Widerstand
aufgegeben. Wortlos ließ sie ihre Tochter gewähren, als diese bei der Notrufleitstelle die Situation erklärte. Aber in ihrem Innersten machte sich eine unsägliche Angst breit. Und diese Angst betraf nur zweitrangig ihre Verletzung. Ihre größte Sorge war, dass Luisa dann den Dämonen, die sie selbst jede Nacht in Angst und Schrecken versetzten, ausgeliefert wäre. Wenn sie nicht da wäre, würden sie sich über das Kind hermachen. Würden schreckliche Dinge tun, die Zahnpasta vergiften und schwarze Kreuze auf ihre Sachen malen. Und sie würden immer mehr Ratten mitbringen, die Luisas Kleider anknabbern würden und dann ...
Waren nicht die vielen Stimmen, die sie manchmal auch tagsüber hörte, ein Beweis für die Existenz dieser bösen Mächte?
Unglück und Glück
"Sieht nach Bänderriss aus", stellte der drahtige junge Notarzt ohne Umschweife und ohne
besondere Rücksichtnahme auf den offensichtlich desolaten Zustand der nun auf dem Sofa liegenden Bea fest.
„Machen sie was, dass ich zu Hause bleiben kann. Bitte, bitte", flehte sie. „Ich muss zu Hause bei Luisa bleiben, ich muss, ich muss!"
„So, müssen sie?" wiederholte der Arzt ihre Worte völlig unbeeindruckt und ohne eine Miene zu verziehen.
„Gute Frau, sie verkennen wohl ihre Lage völlig. Bänderriss, das heißt, es wird erstmal das Ausmaß der Verletzung festgestellt werden. Dann wird sich entscheiden, ob operiert werden muss. Danach Ruhigstellung des Gelenkes. Das kann eine sehr langwierige Sache
werden." Dann wandte er sich zu den zwei mitgekommenen Sanitätern und gab ihnen kurz und bündig Anweisung: „Kühlen, hochlagern. Hier ist die Einweisung in das Klinikum." Sprach`s und verschwand mit einem kurzen Grußwort.
„Jetzt machen sie sich mal keine Sorgen", versuchte der etwas rundliche ältere Sanitäter Bea zu beruhigen.
„Wie heißt es so schön - es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird." Während sein Kollege mit Luisa ein paar Wäschestücke und Toilettenutensilien zusammensuchte, begann der erfahrene Sanitäter mit Bea einen Fragebogen auszufüllen. Er wollte wissen, ob sie einen Partner habe und als sie verneinte, fragte er, wer aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis verständigt werden sollte.
„Ich habe niemanden", flüsterte Bea kaum hörbar. Erstaunt sah er hoch und fragte:
„Ja, und Luisa - wen haben sie für das Kind?"
„Luisa kommt alleine zurecht. Nicht wahr Luisa, das ist doch so?"
Bea sah Luisa eindringlich an und diese senkte den Kopf.
"Ach, so ist das. Es tut mir leid, aber ich muss das dem Jugendamt melden...", erklärte der
Sanitäter. Bea fing erst zu weinen und dann zu schreien an und Luisa lief in ihr Zimmer und holte die Triangel hervor. Aber nach ein paar Schlägen hielt sie inne und suchte nach dem Kärtchen, das Frau Winter ihr gegeben hatte.
Nachwort:
Bea kam nach ärztlicher Versorgung und der Auflage, sich einer psychiatrischen Therapie zu unterziehen, wieder nach Hause. Sie und Luisa wurden in das AMSOC-Patenschaftsprogramm aufgenommen. Luisa konnte auf diese Weise in ihrem gewohnten Umfeld bleiben und lernte langsam wieder, was es heißt, ein Kind sein zu dürfen. AMSOC stellt Kindern psychisch kranker Eltern eine kontinuierliche Bezugsperson, eine Patin bzw. einen Paten an die Seite. Dies ist der höchste Schutzfaktor für ein Kind in einer solchen Situation u. durch die Forschung belegt.
>