Kapitel 5: Kai und `Diverse`
Nach `M` kommt jetzt Kai. Ich krame in der Tagebuch-Kiste nach den passenden Tagebüchern, setze mich an den Küchentisch und will beginnen. Da klingelt das Telefon. Ich erschrecke, bin keine Geräusche mehr gewöhnt. Ängstlich hebe ich ab, frage vorsichtig: „Jaaa?“ Doch es ist nur meine Chefin, Frau Miebach: „Bleiben Sie bloß zuhause, Fredi. Im Moment ist hier wirklich nicht viel zu tun. Das schaff ich gut allein. Pflegen Sie sich und dann seh ich Sie mit vollen Kräften wieder.“ Ich bin erleichtert: Jetzt kann ich schneller mit dem Schreiben fertig werden. Zum
Glück hat Frau Miebach keine Ahnung, was ich hier tue und dass ich vielleicht gar nicht mehr wiederkomme…..
Ich nehme ein Blatt und schreibe los
***
Kai
„Bloß keine Freundin an der Schule!“ Wie stolz war ich, dass Kai sein Prinzip mit mir  gebrochen hat. Kai war zwei Jahre älter, hatte bereits den Führerschein, trank Bier und Whiskey,
rauchte Benson & Hedges (das sind die in der stylischen, goldenen Packung), trug Sonnenbrille. Kai war wieder so`n Cooler, wie Jürgen.
Was mich besonders an Kai verzauberte, waren seine zwei Gesichter: Der Gangster und der nette Jungen. Das war eine suchterzeugende Spannung, die mich einerseits liebevoll umarmte, aber auch ständig herausforderte, mitunter aber auch kränkte.
Der Gangster brachte mir in schmuddeligen Kneipen das Billardspielen bei, auf den Autobahnen jagte er im Mercedes seines Vaters
Golf-GTI`s und hatte dabei einenMotorradhelm auf!
Die Seite des netten Jungen war die des gut erzogenen Sohnes eines Prokuristen; Kai hatte exzellente Manieren, ging mit mir in edle Restaurants, bestellte für uns „hausgebeizten Lachs an Kräuter-Sauerrahmdip auf Kartoffelrösti“ oder „lauwarmen Spargelsalat auf Rucola mit gebratenen Austernpilzen und Cherrytomaten“, wir tranken Cocktails, er spielte Klavier für mich, lieh sich das Auto seines Vaters und fuhr mit mir bei Madonna`s „Papa don`t preach“ nach Milano Marittima, wo ich zwei Wochen lang die „bella ragazza“ war.
Ich fühlte mich herrlich erwachsen. Endlich war ich kein Kind mehr. Kai war übrigens auch derjenige, mit dem ich das Erste Mal schlief und dass mit der `toten Maus´ und dem `Tam-Tam´ endlich verstand.
Ich gewöhnte mir das Rauchen an, nahm die Pille und machte mir eine Dauerwelle. Alles für ihn. In seinen Händen war ich Wachs. Damals war ich unentwegt mit meinem Äußeren beschäftigt: Mit meiner Kleidung, meinen Haaren, meiner Haut, meinem Gewicht, meiner Haltung, meinem .... Ach, was weiß ich. Ständig befürchtete ich, nicht attraktiv genug für ihn zu sein.
Diese Angst hielt Kai geschickt am Köcheln, indem er so reizende Dinge sagte, wie: „Du hast zwar dicke Beine, aber zum Glück, bist du sonst was zum Vorzeigen!“ Mein Selbstbewusstsein konnte damals mühelos unter`m Teppich Polka tanzen.
Zu Beginn unserer Freundschaft, hatte Kai ein biederes Jungenzimmer: Dunkelbraune Einbauschränke, karierte Bettwäsche und die standardmäßigen Alibi-Bücher `Winnetou I-III` sowie ´Onkel Tom´s Hütte`. Nach seinem Abitur zog er mit seinen Eltern in die Nähe von Frankfurt und begann dort sein BWL-Studium. Im Haus seiner Eltern
bekam er im Keller des Hauses seine eigene Wohnung. Die stylte er ganz in schwarz und weiß. Die Bettwäsche war schwarz! Sah klasse aus; bis auf die Flecken.
In Kürze kannte Kai die übelsten Kneipen und die edelsten Restaurants. An beiden Orten bewegte er sich völlig mühelos. Und ich hatte ein zweites Mal eine Fernbeziehung, besuchte ihn in `seiner Wohnung` und himmelte seine Coolheit an.
Die Beziehung mit Kai hat mich viele, viele Tagebücher gekostet. Er entlockte mir die wildesten Beschimpfungen, die
ich jedoch still leidend nur dem Papier anvertraute.
Durch die Entfernung zu ihm bekam mein Frontalhirn wieder seine Chance und ich versuchte, mich von Kai zu trennen; was mir allerdings lange Zeit nicht gelangt. Doch dann schaffte ich es: Per Telegramm! Dass ich nur auf diese Weise eine Trennung hingekriegt hatte, gehört in die Reihe meiner Peinlichkeiten. Tief verletzt antwortete Kai mir mit den leidenschaftlichen Worten eines gebrochenen Herzens. Meine Freundin kommentierte nur trocken: „Da muss man erst Schluss machen, um endlich gesagt zu
bekommen, dass man geliebt wird.“
Der Trennungsschmerz dauerte unendlich. Ich litt, leckte meine Wunden. An einem Tag wollte ich wieder zu ihm; am anderen Tag hasste ich ihn aus tiefstem Herzen. Ich schrieb ein Tagebuch nach dem anderen voll, hatte fiese Pickel, knabberte meine Fingernägel ab, bekam pausenlos eine Blasenentzündung und konnte mich nicht ausstehen. Es war fürchterliche sechs Monate.
Nur langsam kehrte ich wieder zu den Lebenden zurück. Ich machte mein Abitur und begann Psychologie zu
studieren, alles still und undramatisch. Doch es war nicht mehr zu leugnen: Das Leben hatte mich endlich wieder.
***
Die Jahre mit Kai waren eine aufregende, aber auch eine traurige Zeit! Ich lege den Stift hin, schüttele mich, dehne meine verkrampften Schultern. Ich bin traurig. Und wütend. Und froh über diese Erfahrung. Alles durcheinander. Dass Schreiben so anstrengend sein kann. Ach, Martin, ich wollte, du wärst hier. Dieses Wühlen in meiner
Vergangenheit fühlt sich fürchterlich an. Ich weiß überhaupt nicht, was das bringen soll…
Aber ich muss weitermachen. Wer kommt jetzt? Ach ja: `Diverse`!
Ich nehme ein neues Blatt und beginne.
***
`Diverse`
„Diverse“, das waren: Ein Franzose, ein
Fleischer, ein Polizist, eine Karatekämpferin und ein Stenograph. Ich habe diese Beziehungen zusammen gepackt; weil sie jeweils nur wenige Wochen dauerten. In dieser Zeit war ich auf der verzweifelten und romantischen Suche nach DEM Menschen, mit dem ich mein Leben verbringen wollte. Es musste ihn doch geben, diesen Mr. X, diese Ms. X.
Das Ergebnis meiner verzweifelten und romantischen Suche lässt sich in kurzen Worten so beschreiben:
Der Franzose war ein grässlicher Macho,
der Fleischer ein Koks-Junkie,
der Polizist eher wie ein kleiner Bruder,
die Karatekämpferin hinreißend, jedoch mit dem falschen Geschlecht,
der Stenograph wundervoll, aber leider zu alt.
Jules, der Franzose, war wieder so ein bizarrer Karnevalsflirt. Wir lernten uns kennen, weil wir beide bei „Jump“ von Van Halen eine Zehntelsekunde nach der wogenden Tanzmasse in die Höhe sprangen und uns für Sekundenbruchteile anstrahlten. Hach, war das romantisch. Als das asynchrone Gehopse nach vier Minuten zu Ende ging, kämpfte er sich zu mir und sprach mich an: „Salut, je suis Jules!“ Ich war von den Socken: Das war ja `nen Franzose! Da französisch in
meiner Familie `zweite Amtssprache` war und Jules gut Deutsch konnte, gab es wenig Verständigungsprobleme.
Im Anschluss an seine überschaubare `Werbungsphase`, während der er mir französische Liebkosungen ins Ohr flüsterte und meiner Mutter (!) Blumen mitbrachte, stellte er jedoch mit seinem wunderbaren Akzent sein Lebensmotto klar: `Weißt Du, Cherie, Frauen müssen einfach lange Haare und Männer Haare auf der Brust haben!`. Nun ja, damit war die Sache wohl klar: Dieses Modell kannte ich schon von Kai und wollte es nicht wieder haben.
Bernhard, der Fleischer, hatte eine unglaubliche Energie (übrigens auch im Bett), von der ich völlig begeistert war. Mit der Zeit wurde ich allerdings misstrauisch: Anscheinend brannte der Mann pausenlos. Endlich kapierte ich den Grund: Bernhard kokste! Und zwar nicht wenig. Nach einer dramatischen Nacht, in der er meine Straße zusammen schrie, nahm ich Reißaus.
Guido, der Polizist, war voller Muskeln, hatte ein hinreißendes (!) Lächeln und einen umwerfenden Geruch!!! Doch dass wir mit seinen Dienst-Handschellen spielten, änderte nichts daran, dass der Mann eindeutig nichts für mich war.
Guido hätte was Zarteres gebraucht, als mich. Ich dagegen brauchte etwas mit mehr Widerstand, Reibungsfläche, als er mir das bot. Also beendeten wir diese Liaison. Wenn ich ihn in der Stadt traf, hielt ich dufttechnisch einen Sicherheitsabstand, um nicht rückfällig zu werden.
Tanja, die Karatekämpferin lernte ich in meinem Karate-Dojo kennen. Wir trainierten  gemeinsam und verliebten uns. Tanja führte mich in die Lesben-Szene ein und ging mit mir auf ein Marla-Glenn-Konzert; Marla Glenn: Die Lesben-Ikone der Musik. Ich glaube, es war wirklich kein einziger Mann
anwesend. Diese weibliche Liebe zu Tanja war einfach göttlich. Alles erschien einfach und unkompliziert mit ihr. Wir waren ja aus dem gleichen Material. Doch mir wurde bald klar: Bei aller Liebe für diese Frau, ein Frauenkörper löste bei mir nicht die gleiche Erregung und Neugier aus, wie es ein Männerkörper tat. Also verabschiedete ich mich von ihr, traurig, liebevoll und zog weiter.
Als Letztes kam der Stenograph, Rainer, den ich während meines Studentenjobs als Schreibkraft beim Abgeordnetenhaus kennen lernte. Rainer war zwanzig Jahre älter als ich. Er war so richtig, richtig,
richtig erwachsen, hatte einen Beruf, verdiente Geld, hatte eine (geschiedene) Frau, zwei Kinder, ein Haus mit Vorgarten und Rutsche. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich ihn in seinem schicken Anzug zu meinen vergammelten Studenten-Freunden in eine verrauchte Kneipe mitnehmen könnte.
Stattdessen ging ich mit ihm in romantische Weinlokale, wo wir lange, vertraute Gespräche hatten. Ich weiß bis heute nicht, was er an mir anziehend fand; wahrscheinlich waren es unsere intensiven Gespräche. Unser `Body-Kontakt` war es jedenfalls nicht; denn
der bestand lediglich aus einem wilden Geknutsche auf der Rückbank eines Taxis, mit dem er mich spät abends vom Landtag nach Hause brachte.
Einige Wochen lebte ich diesen Spagat. Als Rainer mir jedoch sein Herz zu Füssen legte, beendete ich ängstlich die Beziehung. Ich fühlte mich noch längst nicht erwachsen, wollte noch so viel ausprobieren, kennen lernen und nicht ein Haus, einen Vorgarten und eine Rutsche leben. Also verabschiedete ich mich liebevoll (!) und war wieder solo. Was er wohl heute macht?
Vier Männer, eine Frau. Fünf
Beziehungsversuche. Alle ohne Erfolg.
In Berlin schloss ich mein Grundstudium ab, zog zum Hauptstudium in den Norden und verließ erschöpft die Beziehungs-Autobahn. In einer Parkbucht wartete ich auf den Prinzen meines Lebens. Aber der kam nicht.
Wer kam, war Bernd!