Beschreibung
Irgendwie ist es mir zum Hobby geworden, alte Geschichten niederzuschreiben und sie vielleicht auf diese Art vor dem Vergessen werden zu bewahren. Meist sind das keine besonders aufregenden Ereignisse. Eher leise Geschichten des Alltags. Peter Rosegger dient hier als das große und unerreichbare Vorbild. Wer also Spannung und Action sucht, der wird entäuscht. Die Geschichten sind zwar erzähltechnisch ausformuliert. Der Inhalt aber ist keineswegs erfunden, sondern beruht auf dem, was die mündliche Überlieferung eben zu bieten hat.
Es waren harte Zeiten, die Nachkriegsjahre, auch in der Gegend rund um den Schneeberg, des letzten wuchtigen Vertreters der sich nach Osten verlaufenden Kalkalpen in Niederösterreich. Not herrschte in diesem von Landwirtschaft geprägtem Landstrich und fast jeder Hof war in irgendeiner Form noch vom Krieg betroffen. Sei es, daß ein Sohn oder Vater gefallen war, sei es, daß sich ein solcher in Kriegsgefangenschaft befand oder sei es – in den besonders heimgesuchten Fällen – daß beides zutraf.
So wie es dem Sepp Zulechner erging, dem Altbauern am Leitner-Hof, was dem Sepp Zulechner den Umgangsnamen Leitner-Bauer eintrug, womit ers zufrieden war, denn was ein gestandener Bauer war, der definierte sich über seinen Hof, und nicht über seinen Familiennamen.
Dieser Sepp Zulechner, vulgo Leitner-Bauer, war nun einer der vom Schicksal besonders Leidgeprüften. Er selbst irgendwo in Rußland verwundet und seit dem mit den Segnungen eines steifen Beines ausgestattet. Der ältere Sohn Franz am Felde der Ehre gefallen, wobei dem Leitner-Bauer nie klar wurde, worin die Ehre besteht, wenn man von einer Granate so zerrissen wird, daß nicht einmal etwas zum begraben überbleibt. Und der jüngere Sohn Hans in russischer Kriegsgefangenschaft, irgendwo in Sibirien am Wiederaufbau der sozialistischen Gesellschaft teilnehmend. So stand es jedenfalls in dem Schreiben irgendeiner sowjetischen Militärbehörde, welches ihm über das Rote Kreuz zugestellt wurde. Er wußte nicht einmal genau wo sein Sohn da genau mitwirkte, denn das war streng geheim. Auch das stand in dieser kurzen Mitteilung, oder besser gesagt in deren vom Roten Kreuz verfassten Übersetzung.
Der Leitner-Bauer haderte mit seinem Schicksal, oder genauer mit dem seines Hofes, welches er als weitaus wichtiger empfand als sein eigenes. Der Altbauer mit steifen Bein nur sehr eingeschränkt in der Lage, den vielfältigen Pflichten des damals weitestgehend noch unmotorisierten Landwirtes nachzukommen, ein Sohn gefallen, die Rückkehr des anderen aus der Gefangenschaft höchst ungewiß. Das waren keine erfreulichen Zukunftsperspektiven, und so war die Stimmung entsprechend düster, auch beim Frühschoppen nach dem sonntäglichem Kirchgang.
Nun war es so, daß gerade dieses Dorf einen kleinen Ausreißer aus der sonst alles dominierenden Landwirtschaft darstellte. Es gab da nämlich ein Steinkohlebergwerk. Und mit diesem eine ganz gehörige Anzahl an Technikern, Bergleuten, Arbeitern und natürlich deren Familien. Es ist nur zu verständlich, daß diese ganz andere Vorstellungen davon hatten, wie sie ihr Zusammenleben organisieren und strukturieren, als dies in der ländlichen Bevölkerung der Fall war. Das Bergwerk war also bereits vor den dunklen Zeiten ein Hort der Sozialdemokratie und wurde unter dem Einfluß der sowjetischen Besatzung nach dem Krieg sehr rasch zu einer der größten kommunistischen Kolonien in der Umgebung. Und jedenfalls zur einflußreichsten. Der Vorstand der lokalen Ortsgruppe der Kommunistischen Partei wurde von den Sowjets zum Bürgermeister dekretiert, einfache Parteimitglieder der Kommunisten stellten den Gemeinderat.
Im Alltag waren die Schnittstellen zwischen diesen beiden völlig verschiedenen Welten sehr beschränkt. “Oben” im Bergwerk und der dazugehörenden Arbeiterkolonie schimpfte man über die großkopferten Bauernschädel da unten. Dort “Unten” wiederum sprach man geringschätzig von der “Kolonie” da oben und meinte damit wenig wohlwollend Habenichtse und Taugenichtse, die Gott wohl zur Prüfung gesandt habe.
Eine der großen Ausnahmen in diesem separatistischem Nebeneinander des Dorfes war der sonntägliche Frühschoppen im einzigen Wirtshaus des Ortes. Strömten die Bauern nach dem Kirchgang im sonntäglichen Feststaat zur Schank, so waren die Vertreter der Arbeiterschaft des Bergwerks daran zu erkennen, daß ihre Aufmachung deutlich bescheidener war, ja teilweise auch der Blaumax der täglichen Arbeitskleidung zu sehen war. Trotz der völlig unterschiedlichen Lebenskonzepte kam es im Wirtshaus so gut wie nie zu Problemen. Wer sein Bier trinken wollte, der hatte nur dieses eine Wirtshaus als Gelegenheit dazu. Und Stänkerer und Zündler beider Seiten bekamen vom Wirt gnadenlos Lokalverbot.
So kam es, daß an jenem denkwürdigen Sonntag im Spätherbst 46 der Sepp Zulechner vulgo Leitner Bauer an der Schank stand, traurig in seinen Bierkrug schaute und mehr zu sich selbst, als zu irgendjemand anderen sagte 'Ich würde Gott weiß was geben, damit mein Hans aus der Gefangenschaft zurückkommt'.
Das wiederum hörte der Horst Buchegger. Kassier der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei und Vizebürgermeister. Er legte dem Leitner Bauern eine Hand auf die Schulter – eine Zutraulichkeit welche dieser wohl nur wegen seiner traurigen Gemütsverfassung durchgehen ließ – und sagte laut vernehmlich 'Ich schlag dir ein Geschäft vor: Du trittst bei uns in die Kommunistische Partei ein, und ich werd schauen, was ich für den Hans machen kann.'
An diesem Punkt wurde es mucksmäuschenstill in dem zum Bersten vollen Wirtshaus. Hier war etwas Unerhörtes passiert. Ein honoriger Bestandteil der Gesellschaft, Mitglied des Kirchenrates und Altbauer eines Hofes, der seit wenigstens 300 Jahren im Familienbesitz ist, wird aufgefordert, den Kommunisten beizutreten. Und das von jemanden, der als Gegenleistung dafür nicht einmal irgendeine Zusage gab, ja gar nicht geben konnte. Schließlich war er ja, wenn auch etwas näher an den Sowjets als der Leitner Bauer, selber ein Besetzter und nicht ein Besetzender. Nein, lediglich das Angebot zu tun, was man tun könne stand als Gegenleistung im Raum. Genausogut hätte man den Leitner Bauern auffordern können, einen Pakt mit dem Teufel zu beschließen.
Alle Augen richteten sich auf den Leitner Bauern. Selbst der Wirt blickte sorgenvoll um sich, in Erwartung eines gewaltigen Donnerwetters als Antwort, welches dann durchaus die Initialzündung zu einer noch gewaltigeren Schlägerei sein könnte, die wiederum seinem Mobiliar vermutlich nicht gut bekäme.
Doch der Leitner Bauer drehte sich langsam um, sah dem Buchegger Horst tief und lang in die Augen, streckte die Hand aus und sagte 'Abgemacht. So machen wirs.' Dann griff er in den Rock, zückte die Geldbörse und bezahlte den Parteiobulus für ein Jahr im Voraus.
Und so wurde der Leitner Bauer das einzige Mitglied der Kommunistischen Partei, welches Sonntags zum Gottesdienst erschien, weiterhin den Bildstock nächst seinem Hof mit frischem Blumenschmuck versorgte und jeden Laib Brot mit einem Kreuzzeichen segnete, bevor er ihn anschnitt.
Der Buchegger Horst hielt sein Wort, und setzte alle ihm zur Verfügung stehenden Zahnräder zwischen Himmel und Erde in Bewegung, um den Zulechner Hans aus der Gefangeschaft loszubekommen, was zwar zwei weitere Jahre dauerte, aber dennoch war er mit Abstand der Erste aus dem Ort, der aus der Gefangenschaft zurückkam.
Das Bergwerk wurde in den Siebziger Jahren stillgelegt. Die dazugehörige Kolonie geschliffen und durch eine moderne Reihenhaussiedlung ersetzt, das Betriebsgelände von anderen Betrieben genutzt. Die Ortsgruppe der Kommunisten ist lang schon aufgelöst. Lediglich eine Bergwerkskapelle in schwarzer Berufstracht gibt es noch. Traditionen müssen schließlich bewahrt werden.