Kapitel 4: Namenslose Karnevalsbekanntschaft
Wo sind eigentlich meine alten Tagebücher? Bestimmt auf dem Dachboden. Ich gehe nach oben, ziehe mit lauten Knarren die Dachbodenklappe hinunter. Ein muffiger Geruch schlägt mir entgegen. Ich klettere die Leiter hinauf, schiebe staubige Bretter, Spielzeug der Kinder, Schallplatten und einen kaputten Heizstrahler beiseite.
Da sind sie ja! Ich hocke mich vor eine Lebkuchenkiste in XXL, wische über den staubigen Deckel und öffne die Kiste:
Sie ist bis zum Rand gefüllt mit Tagebüchern. Was für eine Fundgrube! Ich schleppe die Kiste nach unten, wische sie mit einem Lappen ab, trage sie ins Wohnzimmer und … erstarre: Auf dem Tisch liegt das Fotoalbum meiner Hochzeit mit Martin. Martin! An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht. In meinem Kopf wirbelt es. In meinem Herzen auch. Ein schlechtes Gewissen ist gar kein Ausdruck.Zum ersten Mal seit Martins Tod habe ich nicht pausenlos an ihn gedacht! Und noch dazu hatte ich Spaß gehabt!!! Ich schäme mich; so abgrundtief! Wie konnte ich nur? Nein, nein, das wird nicht wieder vorkommen! Ich verspreche es dir, mein Liebling. Es
tut mir so leid.
Da klingelt es an der Tür. Oh nein! Jetzt nicht. Und wenn ich einfach nicht öffne? Aber womöglich ist es Marianne. Die schlägt glatt ein Fenster ein, wenn sie sich Sorgen um mich macht. Ich seufze und öffne. Es ist nicht Marianne. Es ist Frau Kohlberg, die liebe Omi von Gegenüber: „Ach Mädchen, Sie sehen so mager aus. Und Augenringe haben Sie auch. Sie essen bestimmt zu wenig. Gucken Sie mal: Ich hab den hier grad aus dem Ofen geholt; ist Kirschkuchen.“
Ich bin sprachlos, lächele sie an und erschrecke: Mein Gesicht fühlt sich starr
und steif an. Ich kann gar nicht mehr richtig lächeln. Frau Kohlberg bemerkt nichts von meiner Verwirrung „Sie können den Teller später vorbeibringen, mein Kind!“, sagt sie und dreht sich winkend um. „Auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen! Und Danke!“
Ich sehe auf den Kuchen: Lecker sieht der aus. Und wie der duftet! Hmmm! Mein Magen findet das auch. Ich hole mir eine Gabel und esse noch im Stehen. Gierig schlinge ich den Kuchen hinunter.
Mit vollem Magen betrachte ich die Kiste mit den Tagebüchern, das Hochzeitsalbum und meine Situation. Es
gibt nur eins, was ich will und das ist mit Martin zusammen zu sein. Ich will zu ihm. Also muss ich weiter schreiben. Auch dann, wenn diese Arbeit leider ab und zu Spaß macht. Ich schüttele verwirrt den Kopf: Was ist das eigentlich für eine merkwürdige Arbeit, um an ein Gift zu kommen, damit man sich das Leben nehmen kann?
Ich koche mir einen Tee. Während das Wasser kocht, sehe ich an mir herunter: Ich brauche dringend einen frischen Schlafanzug. Aber später! Jetzt will ich schreiben. Jetzt beginnt meine wilde Zeit. Ich nehme ein neues Blatt und schreibe oben drüber:
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Namenlose Karnevalsbekanntschaft
Ich war 17. Uralt, wie ich fand! Und noch immer Jungfrau! Meine Freundinnen hatten alle schon mit einem Jungen geschlafen; sagten sie jedenfalls. Sicher, das Erste Mal sollte etwas Besonderes sein, aber deshalb noch länger warten, wollte ich trotzdem nicht. Zu meinem Glück war heute diese Faschingsfête in der Schule. Vielleicht änderte sich heute Abend ja mein langweiliges Leben.
Es gab tatsächlich eine Veränderung: Nur einen Tag später hatte ich das erste Mal einen Penis in der Hand.
Die Faschingsfête fand in der Turnhalle meiner Schule statt. Nicht nur Schüler der Schule waren eingeladen; wir durften auch Freunde mitbringen. Also hoffte ich inständig, dass ein Junge dabei war, in den ich mich verlieben könnte.
Zuhause stellte ich die Musik laut, zog mich fünfmal an und viermal wieder aus. Endlich hatte ich das Passende gefunden. Vermutlich war es eines dieser schrecklichen Netzhemden, die man damals trug. Meine Freundin holte mich
ab und wir gingen aufgekratzt auf die Fête.
Als wir ankamen, dröhnten die Bässe. Na, dann mal los!, feuerten wir uns an. Zuerst: Mut antrinken! Mit `Grüner Witwe`: Orangensaft und Bols Blau. Mit dem Plastikbecher in der Hand zogen wir die Runde. Meine Laune war schnell im Keller: Die meisten Gesichter kannte ich. Und wen ich nicht kannte, den fand ich nicht interessant.
Doch da! Da war Einer! Richtig süß sah der aus: Ein bisschen älter als ich, groß, schlank, mit dunklen Haaren. Er stand mit einigen meiner Klassenkameraden
zusammen. Locker flockig stellte mich mit meiner Freundin dazu und kicherte kokett. Der Junge hieß Mirko, Martin, Michael, oder so. Es war irgendwas mit `M`. Und so nenne ich ihn jetzt auch: `M`.
Vermutlich hatte ich zuviel Bols-Blau getrunken, denn ich hatte tatsächlich einen Filmriss! Auch das mein Erstes Mal. Das nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich mit diesem
hübschen,
mir völlig unbekannten Jungen
in grellem Turnhallenlicht
zwischen Barren und Kästen
auf einer Weichstrom-Matte lag und
hemmungslos
herumknutschte.
Am Ende der Fête hatte ich ein wund gescheuertes Kinn und eine Verabredung: Schon am nächsten Tag wollte `M` mich besuchen kommen. Ich jubelte: Endlich! Endlich! Ab morgen werde ich keine langweilige Jungfrau mehr sein! Ich war zu allem bereit. Und entschlossen!
Als `M` kam, ging alles sehr schnell. Wir wechselten zwei Sätze und dann den Platz: Knutschend und fummelnd landeten wir auf meinem Bett. `M` schien ebenfalls ziemlich entschlossen zu sein, so zielstrebig, wie er vorging. Bis
zur Gürtellinie kannte ich mich ja schon aus; das hatte ich bereits mit Jürgen gemacht. Doch was jetzt kam, war mir völlig unbekannt: `M` nahm MEINE Hand und schob sie in SEINE Hose. Ooooh, jetzt bloß nicht anmerken lassen, dass ich noch total unerfahren bin. Allerdings war ich verwirrt: Das, was ich da in der Hand hielt, sollte wirklich das `Ding aller Dinge` sein`? Es fühlte sich so merkwürdig an! Eher wie….eine tote Maus! Tapfer hielt ich die tote Maus umklammert, bewegte meine Hand rauf und runter. Dass ich meine Hand rauf und runter bewegen musste, wusste ich schon. Aber mehr auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie fest ich diese Maus
anfassen musste. Vorsichtig wie ein Ei? Oder doch eher fest wie eine Gurke?
Bald tat mir der Arm weh. Heldenhaft rubbelte ich weiter. Doch ich war enttäuscht: Das sollte nun toll sein? Dass es das nicht war, fand `M` wohl auch. Jedenfalls nahm er meine Hand aus seiner Hose, murmelte irgendwas von Hausaufgaben und ging.
Mist! Da war sie wieder: Die Peinlichkeit! Ich hatte es versaut! Dabei hatte ich mir wirklich Mühe gegeben. So was Doofes aber auch! Und nach der Aktion würde ich ihn bestimmt nicht anrufen. Er tat es auch nicht. Dabei blieb
es. Wir sahen uns nie wieder. Und ich hatte ein peinliches Erlebnis mehr. Dass um eine tote Maus aber auch soviel ´Tamtam´ gemacht wurde….! Undeutlich hatte ich allerdings den Verdacht, dass ich gar nicht so genau wusste, wie man aus einer toten Maus ein `Tamtam` machte!
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Fertig! Ich lege den Stift hin und grinse. Es lässt sich nicht leugnen: Das Schreiben hat mir diesmal richtig viel Spaß gemacht!
Und ich will weitermachen!