Verlorenes Dorf
Ligurien, ein Dorf oberhalb der Küste, Sommer 2019
Mariella sitzt auf dem Felsen, fühlt mit den Fingern das raue Gestein, spürt den Rissen nach, die ihren Gedanken gleichen. Müde ist sie nach der Fahrt, die sie ohne Pause von Mailand bis hierher unternommen hat. Jetzt hat sie die Abzweigung von der Schnellstraße verpasst. Die Straße, die früher ins Dorf führte, gibt es nicht mehr.
Sie sucht mit den Augen die alten Häuser des Dorfes. Vergeblich. Seitlich unterhalb des Felsvorsprungs entdeckt sie eine riesige Hotelanlage. Daneben befindet sich ein großes Einkaufszentrum, etwas weiter links zerschneidet ein modernes Schwimmbad die Landschaft. Wo sind die kleinen Häusern, die sich einst, schief teilweise, aber harmonisch in die Landschaft integriert haben, damals, vor
vierzig Jahren?
Traurigkeit überdeckt Mariellas Gefühl der Müdigkeit, und noch etwas anderes lässt ihre Brust eng werden, ein unbestimmtes Schuldgefühl. Hat sie nicht damals genau das gewünscht?
All die Jahre, die sie nicht hier gewesen ist, hat ihre Schwester Francesca mit keinem Wort die Veränderungen erwähnt, die sich hier vollzogen haben. Briefe und Telefonate waren nichtssagend. Warum nur, so fragt sie sich, habe ich nie den Kontakt intensiviert? Immerhin hat die zehn Jahre ältere Schwester sie großgezogen, nachdem die Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.
Schwerfällig erhebt sich Mariella und geht zum Auto. Sie muss ihr Dorf finden, übermorgen wird Francesca beerdigt werden. Im Geiste sieht Mariella die Prozession der schwarz gekleideten Alten, die dem Sarg durch die Straßen folgen werden.
Es dämmert, als sie endlich das Dorf erreicht. Schnurgerade führt die Straße an den ersten modernen Häusern vorbei, viele gekennzeichnet mit Schildern, die freie oder besetzte Zimmer verkünden. Mariella ist verwirrt. Hier müsste der Torbogen kommen, hinter dem sich die kleine Piazza befindet, damals Treffpunkt der Männer, die vor der kleinen Trattoria gesessen, Brettspiele gespielt oder gelesen haben. Nun mündet die Straße in einen großen Platz, in dessen Mitte ein modernes Denkmal steht. Mariella fährt im Kreis um den Platz herum, sieht Menschen in bunten Kleidern, Motorroller überholen sie. Kleine Geschäfte, Cafés, Boutiquen, sogar ein Andenkenladen säumen den Weg, der den Platz umrundet. Und dann entdeckt Mariella zwischen den modernen Bauten und dem Gewimmel an Menschen das alte Haus, und sie lenkt den Wagen in die kleine Einfahrt.
Francesca, denkt sie, warum hast du nie etwas erzählt von dem, was hier passiert ist? Sie muss sich zusammenreißen, um nicht einfach erstarrt vor dem Haus, in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, stehenzubleiben.
Sie geht zum Nachbarhaus, das neu verputzt ist. Erleichtert liest sie den Namen auf dem Klingelschild. Paolo Foti. Entschlossen drückt sie den Klingelknopf. Die Tür öffnet sich und vor ihr steht ein kleiner Mann mit weißen Haaren. Mariella erschrickt. Ja, es ist Paolo, einstmals Bürgermeister des Dorfes. Aber wie hat er sich verändert.
Natürlich sind vierzig Jahre eine lange Zeit, die an niemandem spurlos vorübergeht. Diese alte, magere Gestalt, hat sie nicht erwartet. Das Bild will nicht in ihren Kopf, wie auch all die anderen Bilder nicht, die ihr in der kurzen Zeit hier begegnet sind. Paolo streckt seine faltigen Hände aus, erfasst ihre, sein Griff ist fest, sein
Blick herzlich.
„Mariella, schön, dass du gekommen bist. Wie traurig der Anlass, es tut mir leid, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen.“
„Paolo.“ Mariella stockt. Fragen brennen in ihr, aber sie schweigt. „Komm erst mal rein“, meint der Alte, „es ist noch so heiß draußen.“ Er tapst mit unsicheren Schritten ins Haus. Sie folgt ihm zögernd, spürt Furcht vor dem, was sie vorfinden könnte. Dann Erleichterung. Hier drinnen scheint wenig verändert. Immer noch hängen die alten Familienbilder an den Wänden im Flur. Der Teppich ist abgewetzt, auch die alte Truhe an der hinteren Wand erkennt sie.
Sie sitzen in der Küche. Auch hier hat sich nicht viel verändert. Ein neuer Herd und ein Kühlschrank, den es damals nicht gegeben hat. Sie schweigen, Mariella spielt gedankenverloren mit ihrer Perlenkette, muss ihren Händen etwas zu tun geben, um ihre Unsicherheit zu verbergen. Sie räuspert sich,
und endlich findet sie die Worte. Sie spricht von ihrem Entsetzen über die Veränderungen, über ihre Hilflosigkeit, nichts mehr wiederzuerkennen, über das Gefühl der Fremdheit. Paolo antwortet nicht sofort, legt seine raue Hand auf ihre. So sitzen sie eine Weile, das Schweigen scheint greifbar in der Dämmerung, die sich in der Küche ausbreitet, die dichter wird und Mariellas Gedanken in eine Art Kokon aus Watte einspinnt.
„Vierzig Jahre, Mariella. All die Veränderungen haben wir langsam erlebt. Irgendwann merkt man, dass man sich gewöhnt hat. Nein, nichts ist mehr wie früher. Nicht nur die Umgebung hat sich gewandelt, auch die Menschen sind verändert. Sie partizipieren von dem Wohlstand. Hier pulsiert das Leben.“ Mariella schüttelt den Kopf.
„Du verneinst? Oder willst es nicht glauben?“ Paolo klingt plötzlich ärgerlich. „Erinnerst du dich wenigstens an unsere letzte
Auseinandersetzung, bevor du gingst? Du hattest den Wunsch nach Veränderung. Du hast gefordert, wir sollten endlich aufwachen und Angebote annehmen, die uns den Tourismus eröffnen würden. Dann bist du verschwunden, hast dich all die Jahre nicht mehr blicken lassen. War es dir egal, was hier geschieht? Keinerlei Anstrengung hast du unternommen, um deinem Wunsch näherzukommen.“ Seine Stimme ist mit jedem Wort lauter geworden, und Mariella spürt jedes Wort wie einen Schlag, einen Schlag, der Wahrheit verkündet.
„Francesca hat nie etwas gesagt ...“
„Warum sollte sie auch? Du hast eine Entscheidung gefällt, die hat sie akzeptiert.“
Sie nickt. „Ja, und ihr habt euch angepasst. Ich bin es wohl, die zurückgeblieben ist. Und meine Schwester ... sie hat auch bezahlt, und ich bin verantwortlich.“
Paolo schüttelt den Kopf. „Jetzt ist nicht die Zeit, sich mit Schuldgefühlen zu belasten“,
meint er. „Sie hat verstanden, warum du gegangen bist. Sie war auch für den Fortschritt, und sie hat sich eingebracht. Wusstest du, dass sie in dem ersten neuen Café gearbeitet hat? Nein, natürlich nicht. Sie hat dir ja nichts erzählt von all dem, was hier geschehen ist. Sie hat mir gesagt, dass du sie immer nach Mailand holen wolltest, aber was wäre da aus ihr geworden? Es ist gut so. Vergänglichkeit ist unserem Leben eingeschrieben, aber auch das Neuentstehen. Und nicht immer glänzt alles wie im Märchen, wenn Wünsche wahr werden.“
Während des folgenden Schweigens kriecht ein Gedanke in Mariellas Kopf. Sind die Bilder des früheren Lebens gar nicht mehr so schrecklich, wie sie es damals empfunden hat? Waren ihre Wünsche vielleicht damals abstrus, oder hätte sie sich nicht aktiv zum Wohle ihres Dorfes einsetzen müssen, anstatt abzuhauen? Seufzend steht sie auf. „Paolo, kann ich drüben in unserem alten Haus
übernachten?“
Der alte Mann nickt. „Ich hole dir den Schlüssel. Er schlurft davon und kommt mit dem Schlüssel zurück, drückt ihn Mariella in die Hand und begleitet sie zur Tür.
Am Abend sitzt sie im Haus ihrer Kindheit am alten Küchentisch, vor sich ein Glas Rotwein und ihre Gedanken gehen vierzig Jahre zurück.
1979
Mariella war wütend. Was war nur geschehen? Dieser Streit mit Paolo, dem Bürgermeister, diese verständnislosen Gesichter der Dorfbewohner, als sie ihre Rede gehalten hatte, Francescas Entsetzen. Es war vielleicht nicht gerade der geeignete Zeitpunkt gewesen. Man hatte die alte Benedetta zu Grabe getragen. Hier wurde gestorben – am laufenden Band, wie Mariella meinte. Die dritte Beerdigung innerhalb von drei Wochen. Geboren wurde kaum noch. Piedro war nun schon beinahe zwei
Jahre alt, und er war das letzte Kind, das in diesem Dorf das Licht der Welt erblickt hatte.
Nichts bewegte sich. Einziger Höhepunkt war der sonntägliche Kirchgang. Man traf sich zum Gottesdienst, danach zerstreute man sich, saß auf der Piazza oder verkroch sich in seinem Haus. Im Sommer brannte die Sonne auf die ausgestorbenen Straßen, im Winter kroch die Kälte in die Häuser. Armut, das war es, was hier vorherrschte. Man beackerte seinen kleinen Weinberg und pflegte die Gärten. Von einst achthundert Seelen war die Bevölkerung in Mariellas zwanzig Lebensjahren auf gut vierhundert geschrumpft.
Heute war der Trauerzug wie gewohnt durchs Dorf gezogen. Sogar in der Hitze hatten die Frauen ihre Kopftücher aufgehabt. Einzig Francesca hatte darauf verzichtet und natürlich sie selbst, Mariella. Francesca war es auch gewesen, die am Grab persönliche Worte über Benedetta gesprochen hatte. Beim
anschließenden Treffen in der Trattoria hatte niemand mehr über die arme Benedetta geredet. Mit einem unsichtbaren Siegel schienen sie die Trauer verschlossen zu haben.
Paolo und Giancarlo hatten sich in die Haare bekommen wegen des Investors, der unterhalb des Dorfes eine Hotelanlage errichten wollte. Es ging darum, das Dorf touristengerecht zurechtzustutzen – wie Paolo abfällig bemerkt hatte. Einige Weinberge würden dran glauben müssen, da eine neue Zufahrtstraße geplant war. Paolo war dagegen und tat das in aller Schärfe kund. Außer Giancarlo, der den Neuerungen gegenüber nicht abgeneigt war, hatte niemand etwas gesagt. Nicken, leises Murmeln, man hatte sich rasch wieder seinen Getränken zugewandt. Die Unterhaltung bestritten Paolo und Giancarlo allein. Irgendwann platzte Mariella der Kragen. Sie sprang auf.
„Meine Güte, was seid ihr verkrustet! Ihr werdet noch ersticken in eurem Altersmief.
Habt ihr keine Wünsche mehr? Wo sind all die jungen Menschen? Schaut mich doch nicht so entsetzt an! Es kann doch nicht in eurem Interesse sein, immer weltfremder und verbiesterter vor euch hin zu vegetieren und …“
„Schluss jetzt, Mariella. Es reicht!“ Paolo blickte sie zornig an. „Was bildest du dir ein? Glaubst du, du wüsstest, wie die Menschen hier fühlen, wie es ihnen geht? Was maßt du dir an mit deinen jungen Jahren! Die Menschen hier arbeiten hart, sie leben in Armut und Gottesfurcht. Was soll schlecht daran sein? Nein, kein Wort mehr!“, endete er, als Mariella etwas einwenden wollte. Wortlos drehte sie sich um, verließ den Raum.
Zwischen den Weinbergen lief sie hinauf zum kleinen Felsen, hockte sich hin, immer noch zornig. Sie ließ ihren Blick schweifen, sah die herrliche Landschaft, die kleinen Häuser des Dorfes, die sich an den Felsen schmiegten. Der Sommer würde sich bald verabschieden. Obwohl
unten im Dorf noch die Hitze wohnte, war es hier oben gegen Abend schon merklich kühl. Mariella spürte die Gewissheit, dass sie etwas ändern musste. Sie war jung, fühlte sich lebendig. Es konnte nicht sein, dass sie mit Francesca im Weinberg schuftete. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde das Dorf verlassen, das Wagnis eingehen für ein neues, aufregendes Leben, das außer Stillstand mehr zu bieten hatte.
Damals war sie gegangen, verabschiedet hatte sie sich nur von ihrer Schwester. Die war stumm geblieben, und kurz hatte Mariella gezögert, was Francesca wohl bemerkte. „Geh nur“, hatte sie leise gesagt. „Das ist der Lauf der Welt, und irgendwie hast du ja recht. Hier bewegt sich nichts, was eine gute Zukunft versprechen könnte.“
Und Mariella war gegangen und all die Jahre nicht mehr
zurückgekommen.
2019
Jetzt sitzt Mariella hier in der Küche. Sie macht kein Licht, die Dunkelheit lässt Raum für all die Bilder, die gleich einem Kaleidoskop vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.
Ja, sie hat damals die Veränderungen gewünscht, zuerst für das Dorf und dann schließlich für sich. Sie hat ein ereignisreiches Leben gehabt, beruflich zumindest. Sie ist gut situiert, hat eine Eigentumswohnung in Mailand, kann sich alles leisten, was sie möchte. Sie hat sich zur Ruhe gesetzt im letzten Jahr, nachdem ihr Lebensgefährte gestorben ist. Warum erschreckt sie das veränderte Dorf so sehr? Sie hat es sich doch so gewünscht. Sucht sie nach ihrer Kindheit, nach den Erinnerungen, die so langsam immer mehr verblassen?
Sie geht durch das Haus, durch alle Zimmer, berührt Gegenstände, atmet den Geruch, der ihr
auch nach all den Jahren vertraut scheint. Auf einmal spürt sie erstaunt, wie sich ihr ahnendes Empfinden konkretisiert, sich etwas ins Bewusstsein drängt, das ein erstes Gefühl der Sicherheit vermittelt.
Morgen wird sie nach Savona fahren und in einer Baumschule einen kleinen Baum kaufen. Den wird sie im Garten hinter dem Haus einpflanzen. Übermorgen wird sie von ihrer Schwester Abschied nehmen. Sie wird hier in das Haus ziehen, vielleicht ein paar kleine Veränderungen durchführen, nicht allzu viele, und sie wird einen erneuten Wandel durchmachen und sich mit dem veränderten Dorf arrangieren. Das alte ist für mich verloren, denkt sie wehmütig.
„Aber vielleicht gewinne ich ein neues“, sagt sie laut und horcht den Worten nach, ein wenig verwundert.