Kapitel 3: Die erste Liebe
Ich nehme ein neues Blatt und schreibe `Jürgen` oben auf die Seite. Jürgen, ja das war eine merkwürdige Beziehung.
Jürgen
Meine Eltern hatten ein Ferienhaus in der Nähe von Hamburg. Jeweils vier Straßen dieser Ferienhaussiedlung hatten einen eigenen Strand an einem großen, verschlungenen See. An unserem Strand gab es einen Holzsteg, zwei Boote, ein Surfbrett und ein im
Wasser verankertes Floß, das mit giftgrünem Kunstrasen überzogen war. Und ganz viel Sand.
Unser Ferienhaus war provisorisch eingerichtet; absichtlich. Hier gab es keinen Fernseher, keinen Mixer, keine Kaffeemaschine. Hier lief die Zeit anders als in Berlin. Langsamer, trödeliger.
Morgens sprangen wir in unsere Badesachen und abends tauschten wir sie mit dem Schlafanzug. Die Haustür stand offen, es dudelte NDR2, die Sonne schien und es gab keine Termine.
Jeden Sommer veränderten sich sowohl unsere Spiele, als auch die Clique: Neue Jugendliche kamen dazu, während die Ältesten von uns Ausbildung oder Studium begannen. Mein erstes Jahr in dieser Siedlung, war das letzte Jahr von Jürgen; er begann in Hamburg sein Studium. Jürgen hatte lange, dunkle Haare, einen lässigen Gang, Hühnerbrust, weiße Haut, Akne, hörte Heavymetal und Synthesizer-Musik. Und ... er war der coolste Junge der Clique! Man erzählte sich, dass Jürgen ein Anhänger Satans sei und an schwarzen Messen teilnehme. Uuuuuh! Wie gesagt, Jürgen war cool!
Ich war damals 15 und kannte noch nicht Regeln und den oft verwirrenden Umgang zwischen den Geschlechtern. Mein Weltbild war außerdem recht schlicht: Es gab coole Leute und es gab Langeweiler! Jürgen gehörte eindeutig zu den coolen Leuten.
Wir Kinder waren eigentlich immer am Strand. Wir sonnten uns, spielten Volleyball, tobten auf dem Floß, surften, oder machten Wasserschlachten! Wasserschlachten liebten wir. Da konnte man sich nämlich berühren; ganz unabsichtlich natürlich. Wir waren in diesem schrecklichen Alter, indem es `uncool`
war, wenn sich Jungen und Mädchen auf nette Weise berührten. Nur, was grob war, war erlaubt.
Bei der x-ten Wasserschlacht, inklusive unabsichtlichen Berührens, haben Jürgen und ich uns in einem wilden Schlachtengetümmel zuerst ungelenk umarmt und dann geküsst. Und damit waren wir – Hokuspokus - ein Paar! Merkwürdig, wie unproblematisch das gehen kann.
Jürgen und ich knutschten ohne Unterlass; sogar mit Zungenschlag!!!! Wow! Ich fühlte mich total erwachsen! Ich konnte mitreden! Ab diesem
Moment war ich kein kleines Mädchen mehr!
Allerdings hatte ich jetzt ein neues Problem: Ich wollte lässig aussehen; doch bloß nicht zu lässig! Denn instinktiv wusste ich schon damals: Mädchen wirken deutlich attraktiver auf Jungen, wenn sie hilflos wirkten; ein attraktiv ausgestreckter Arm, ein bittender Augenaufschlag. Das alles wollte ich lernen.
Gleich die erste Trainingsmöglichkeit hatte ich am nächsten Tag. Jürgen und ich wanderten durch die angrenzenden Felder, legten uns ins Gras und
blickten in einen blauen Himmel mit weißen Wattewolken. Es war heiß, völlig still, die Luft sirrte, Grillengezirpe, Vogelgezwitscher, ... wildromantisch halt. Ein Marienkäfer hangelte sich an einem Grashalm hoch. Ich ließ ihn auf meine Hand laufen und setzte ihn Jürgen auf die Brust. War das so richtig? Flirtete man so?
Direkt oberhalb unserer Köpfe waren verrostete Gleise. Unkraut wucherte zwischen den Bahnschwellen. Die Strecke schien eindeutig nicht mehr befahren. Dachten wir jedenfalls. Plötzlich begannen die Gleise zu surren und zu vibrieren. Ich setzte mich
erschrocken auf. Wir mussten hier weg!
Ich sprang auf und reichte Jürgen die Hand, um ihn hochzuziehen. Doch der zog mich zu sich runter. Erschrocken schrie ich auf und fiel auf ihn. Er hielt mich fest und küsste mich. In diesem Moment donnerte der Zug unmittelbar an unseren Köpfen vorbei. Der Fahrtwind wirbelte durch meine Haare. Jürgen drückte seinen Mund fest auf meinen, während ich die Augen weit aufriss und quietschte. Als der Zug vorbei war, ließ Jürgen mich grinsend los. Ich zitterte und blickte ihn fasziniert an: Wow, dieser Junge
war echt cool.
Schließlich kam der Tag, indem die Sexualität in mein Leben kam! Wir waren in seinem Wohnzimmer: Alleine! Im Kamin knisterte ein Feuer. Es war wild-romantisch. Wir küssten uns. Ich schwebte im siebenten Himmel.
Dann glitten seine Hände langsam in meine Hose; millimeterweise schoben sie sich vor und – endlich - streichelten sie über meine Pobacken. Ich war hin und weg: Es war einfach himmmmmlisch! Nur wenige Momente später schaltete sich mein Gehirn ein: Und wie geht`s jetzt weiter, Süße? Du
musst jetzt bestimmt irgendwas tun. Nee, lass mal! Doch, ich bin ganz sicher. Manno, hättest du doch bloß öfter die `Bravo` gelesen! Vielleicht musst du stöhnen? Oder ihn auch streicheln? Vielleicht unter seinem T-Shirt? Mensch, mach doch mal was!
Inmitten komplizierter Erwägungen über den weiteren erotischen Lauf der Dinge erstarrte ich: Ich hörte ein gleichmäßiges und tiefes … SCHNARCHEN. Jürgen´s Kopf kuschelte sich gemütlich an meinen Hals, während seine Hände bequem auf meinen Pobacken lagen. Er stieß einen glücklichen Seufzer aus.
Ich war entsetzt: Nein! Nein, dass durfte jetzt nicht wahr sein. Wie peinlich! Ein Junge fasst meinen Hintern an und schläft dabei ein! Ich wurde stocksteif. Davon wachte er auf. Wir taten beide so, als wäre nichts passiert. Allerdings musste ich ganz plötzlich nach Hause. Am nächsten Tag machten wir dort weiter, wo wir uns besser auskannten: Beim Knutschen!
Ein Wochenende später besuchte ich Jürgen in Hamburg. Mann, war ich auf sein Zimmer gespannt; besonders, was er für Bücher hatte. Jürgen hatte jedoch kein einziges Buch! Sein ganzer Stolz bestand aus einer blauen
Rauchglas-Karaffe mit passenden Gläsern. Akkurat drapiert auf einem silbernen, auf Hochglanz polierten Tablett. Garantiert nie benutzt! Außerdem gab es Unmengen von Kerzen und eine riesige, penibel organisierte Kassettensammlung: Von langhaarigen, kreischenden Männern an E-Gitarren und bekifften Kerlen am Synthesizer.
Nichts lag herum, alles war sauber und ordentlich. Dieses Zimmer war ganz wundertoll. Nicht so chaotisch, wie meines. Es war so … erwachsen!
Die Nacht kam und während Jürgen
im Wohnzimmer schlief, durfte ich in seinem Bett schlafen! In seiner Bettwäsche! Ich hüllte mich in eine Wolke von Jürgen-Duft und schlief ganz wunderbar.
Am nächsten Morgen klopfte es an meine Tür. Verschlafen rief ich `herein` und Jürgen öffnete die Tür. Vorsichtig balancierte er ein Tablett und stellte es stolz auf das Bett. Ich fasste es nicht: Ein Frühstück im Bett! Das kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen. Und Jürgen hatte sogar eine rote Rose auf das Tablett gestellt. Wie romantisch.
Ich strahlte Jürgen an. Jürgen strahlte zurück. In Hose und T-Shirt; komplett angezogen! Und ich hatte einen Schlafanzug an! Noch dazu einen geringelten! Ich hätte im Boden versinken können! Wie uncool: Er war fertig angezogen und ich hatte einen geringelten (!) Schlafanzug an!
Dann sah ich meine Zahnbürste samt Zahnpasta auf dem Tablett! Jürgen folgte meinem Blick und sagte stolz: „Damit Du Dir vor dem Frühstück die Zähne putzen kannst. Gut ne?“ Oh nee, was war dass denn? Ich wollte mir ganz bestimmt nicht vor Jürgen die Zähne putzen. Was Peinlicheres gab´s
ja wohl nicht.
Ich schnappte mir meine Zahnbürste, pellte mich aus dem Bett und huschte in meinem geringelten Schlafanzug ins Bad! Beim Zähneputzen überlegte ich, ob ich mich umziehen sollte? Ach nee, ging ja nicht: Die Sachen waren ja noch im Zimmer; im Zimmer, wo Jürgen war. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sehr, sehr würdevoll in meinem geringelten Schlafanzug ins Zimmer zurück zu gehen. So langsam bekam ich Übung im Überspielen peinlicher Situationen.
Jürgen machte mir sein
Lieblingsfrühstück: Schokokuss auf Brötchen. Erst stellte er den Schokokuss auf`s Brötchen, dann zerquetschte er ihn genüsslich. Und diese matschige Masse im Mund war einfach göttlich; so herrlich unmoralisch.
Nach dem Frühstück taten wir das, worauf wir schon die ganze Zeit gewartet hatten: Knutschen! Und, yeah, ich hatte nur einen Schlafanzug an!!! Tatsächlich, es dauerte nicht lange und er streichelte mir den Po unter meinem Schlafanzug! Und diesmal schlief Jürgen nicht ein! Diesmal kam seine Mutter ins Zimmer
und rief entrüstet: „Jürgen, das Mädchen ist 15!“
Mit diesem Aufschrei endete unsere Beziehung; und die Sommerferien. Es begann meine Schule und für Jürgen begann das Studium. Ein paar Monate noch lebten wir eine Teenager-Fernliebe am Telefon. An meinem Geburtstag rief er ein letztes Mal an: Völlig Betrunken! Im Frühling fühlte ich mich wieder solo. Ohne, dass wir uns jemals `offiziell´ getrennt hätten. Anscheinend gehörte das in diesem Alter zusammen: Irgendwann war man zusammen und irgendwann dann auch wieder getrennt.
Mit Anfang zwanzig hatte ich noch mal Kontakt zu Jürgen aufgenommen. Ich war neugierig, was er inzwischen tat. Ich schrieb ihm einen lustig-leichten Brief und legte ein Foto von mir dazu. Ich bekam einen lässigen Brief zurück. Und ein Foto. Nicht von ihm. Sondern von seinem neuen Auto: Einem Opel-Manta! Wie gesagt: Jürgen war cool!
Grinsend lege ich den Stift hin und lehne mich zurück. Richtig viel habe ich diesmal geschrieben. Und es ist mir gar nicht schwer gefallen. Das Schreiben,
das Erinnern, hat mir sogar einigen Spaß gemacht. Merkwürdig….