Kapitel 2: Ein müder Anfang
Bald bin ich auf der Autobahn. Nur das Geräusch des Motors ist zu hören. Ab und an überholt mich ein anderes Auto. Es ist zwar langweilig, aber das Radio muss ausbleiben; unbedingt. Seit dem Tod von Martin kann ich keine Musik mehr hören; darf ich keine Musik mehr hören. Musik ist voller Erinnerungen. Und Erinnerungen bedeuten Gefühle. Und die habe ich gerade genug.
Meine Gedanken wandern zu dem Gespräch mit Herrn Bremer zurück. Dass ich meine Liebesbeziehungen aufschreiben soll, finde ich merkwürdig.
Schließlich will ich das Leben beenden und nicht darauf zurückblicken. Und überhaupt: Wie kann der Mann eigentlich so viele Lachfalten haben? Er hat doch jeden Tag mit dem Tod zu tun.
Mit wem fang´ ich denn nun diese merkwürdige Liste an? Mit Oliver?  Ich war süße zehn. Dann mit 14 kam Jürgen; meine Ferienliebe. Sechs Wochen: Sonne, Strand, Schwimmen und Jürgen. Am besten ist es, ich mach mir zuhause einen Zettel. Irgendwo auf dem Dachboden müssen auch noch meine Tagebücher sein.
Ein LKW überholte mich hupend.
Erschrocken sehe ich auf den Tacho: Ich fahre gerade mal 80! 120 ist erlaubt und die Autobahn ist leer. Kein Wunder, dass der Typ gehupt hat. Ich muss besser aufpassen: Einen Unfall kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen! Ich muss schreiben! Ohne Nachzudenken drücke ich den Anschaltknopf des Radios und fahre summend nach Hause.
Als ich in meine Straße einbiege, kündigt der Sprecher „One day in your life“ von Anastacia an. Der Song fängt wunderbar ruhig an. Doch nach zehn Takten beginnt der Beat und er packt mich umgehend. Bumm-Bumm-Bumm. Ich drehe das Radio auf, trommele mit
den Fingern auf´s Lenkrad, singe lautstark mit. One day in your life….
Dann sehe ich mein Haus: Groß, massig und still; totenstill. Mit dunklen Fenstern und einer Einfahrt, die einzig von Unkraut belebt ist. Anklagend meldet sich eine Stimme in meinem Kopf: „So, so, Dir geht´s also schlecht. Was soll das also? Du amüsierst Dich hier und singst!“ Ich verstumme. Das Radio dröhnt ungerührt weiter: „Is it time to say goodbye?“ Was habe ich getan? Schnell schalte ich das Radio ab.
Grau, Schwere und Tränen wabern in mein Auto, füllen jede Ritze aus, das
Atmen fällt mir schwer. Ich parke den Wagen in der Einfahrt und gehe mit bleiernen Schritten die Stufen zur Haustür hoch. Ein Geruch von verbrauchter Luft kommt mir aus dem Flur entgegen. Im Haus ist es still. Und dunkel. Wie in einer Gruft! Etwa meiner Gruft?
Hektisch laufe ich ins Wohnzimmer, ziehe die Rollläden hoch und reiße die Fenster auf. Tief atmend stehe ich am geöffneten Fenster. Erschöpft lege ich mich aufs Sofa und schlafe sofort ein. Nur kurz wache ich fröstelnd auf, schließe das Fenster, decke mich mit der Wolldecke zu und schlafe weiter.
Mitten in der Nacht reiße ich die Augen auf und bin hellwach! Ich muss schreiben. Jetzt! Ich stehe auf, koche mir einen Tee, hole Papier und Stift und setze mich an den Tisch. Okay, wie geht’s los? Zuerst Oliver, dann Jürgen. Soweit war ich schon. Dann kam glaub ich Kai. Nein doch noch nicht. Mehrmals streiche ich einen Namen durch, schreibe einen neuen auf oder mache einen Pfeil. Dass das so schwierig ist, hätte ich nicht gedacht. So viele Männer hatte ich ja nun auch wieder nicht. Aber Herr Brenner wollte alle Beziehungen haben, auch die unwichtigen und kurzen. Endlich bin ich fertig. Zwischen allen möglichen Kritzeln und Pfeilen stehen folgende Namen:
Oliver
Jürgen
Karnevalsbekanntschaft I: Den Namen weiß ich nicht mehr
Kai
Karnevalsbekanntschaft II: Jules
Drei Kürzestbeziehungen (Bernhard, Markus, Rainer)
Jörg
Martin.
Ich schreibe alles ab und mir wird klar: Das wird `ne Weile dauern. Ich schaue auf die Küchenuhr: Halb drei nachts? Ich habe Hunger. Und ich bin müde. Ich
öffne den Kühlschrank: Vielleicht finde ich noch irgendetwas Essbares. Ich nehme mir ein Stückchen Käse, trinke etwas Milch. Dann geh ich ins Bett.
Am Morgen wache ich gerädert auf: Ich hatte einen schrecklichen Alpraum. Eine einstürzende Brücke hatte Martin in einen tosenden Fluss gerissen. Ein paar Mal war sein Kopf noch aus der Strömung aufgetaucht, dann war er in den Fluten verschwunden.
Ich brauche einen starken Kaffee, quäle mich aus dem Bett und schleiche in die Küche. Auf dem Küchentisch liegt die Liste der letzten Nacht. Ich lese sie noch
einmal und lasse den Zettel mutlos sinken. Ich muss es irgendwie schaffen. Ich will das Gift, ich brauche es. Also muss ich Schreiben. Vielleicht hilft es ja, einfach anzufangen. Am Besten gleich mit Oliver; das ist schön einfach. Ich mache mir also einen Kaffee, setze mich an den Tisch, lege mir Blätter und Stift hin und versuche mich, zu erinnern: Oliver! Wie war das noch?
Oliver
Oliver war mein Freund in der vierten Klasse. Meine Eltern hatten ein Haus im Süden Berlins gekauft. Wir drei
Kinder mussten deshalb die Schule wechseln. In meiner neuen Klasse war Oliver. Oliver hatte blonde Haare und nette, braune Augen. Und genauso war er auch: Nett!
An mehr kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Frustriert lege ich den Stift hin, stütze mein Gesicht in die Hände. Wie soll ich das bloß schaffen? Doch Halt! ... Moment! … Ich erinnere mich noch wie wir zusammengekommen sind!
Ich fand Oliver ziemlich toll, nahm
meinen ganzen Mut zusammen und lud ihn zu meinem Geburtstag ein; es war der 10. Geburtstag. An dem Tag selber trudelten nach und nach die Geburtstagsgäste ein. Mann, war ich aufgeregt! Schließlich erschien Oliver. Ich strahlte ihn an. Er murmelte ein trockenes „herzlichen Glückwunsch“, drückte mir sein Geschenk in die Hand und ging schnurstracks zu den anderen Kindern. Mich ließ er einfach in der Haustür stehen. Irgendwie hatte ich mir das romantischer vorgestellt. Ich sah auf das Geschenk: Was es wohl war? Ich schüttelte es und horchte: Es machte kein Geräusch. Also riss ich die Verpackung auf und erstarrte: Drei
mit Veilchen bestickte Polyacryl-Taschentücher und daneben eine Schachtel mit Anstecknadeln, und zwar einer gelben, einer roten und einer blauen, dicken, fetten Plastik-Schildkröte! Was für ein grässliches Geschenk! Ich schüttelte den Kopf. Egal! Es war von Oliver! Und es war für mich!
Zwei Monate später hatte er Geburtstag. Wir spielten `Kuss-Einkriege`. Die Regeln waren einfach: Wen man gefangen hatte, den durfte man küssen. Das hört sich jetzt langweilig an, aber damals war es irre aufregend! Ich war an der Reihe und
rannte los: Natürlich wollte ich Oliver fangen. Und natürlich hab´ ich ihn auch gefangen. Er hat es mir aber auch leicht gemacht. Noch ganz außer Atem drückte ich meine Lippen auf seine Wange. Oooh, dieser Kuss! Er fühlte sich wunderbar zart und weich an! Ich werde ihn nie vergessen, meinen ersten Kuss. Tja, und von diesem Kuss an, `gingen wir miteinander`; so einfach können manche Dinge sein.
Der Rest dieser Freundschaft plätscherte ohne weitere Dramatik dahin: Wir tauften meine Katzen-Babys, machten Radtouren und spielten Fußball. Was man halt so tat
mit 10. Ich gab Oliver mein Poesiealbum und er schrieb mit in seiner schönsten Schrift einen bedeutenden Rat. Ich weiß ihn noch heute, denn ich hatte ihn sofort auswendig gelernt: „Sei wie das Veilchen im Moose: sittsam, bescheiden und rein. Nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“
In der fünften Klasse ging ich auf eine andere Schule und wir verloren uns aus den Augen. Was er wohl heute macht? Ob er ein Veilchen oder eine Rose gefunden hat? Ich jedenfalls … war ganz eindeutig eine Rose geworden.
Puuuh, ich lege das beschriebene Blatt auf die Seite. Jetzt brauche ich eine Pause. So langsam dämmert mir, dass das eine Patt-Situation ist: Zwar kann ich das Gift bekommen, aber dafür muss ich … schreiben. Und das Schreiben kommt mir gerade vor wie ein ´Zehntausender´: Ich bin viel zu müde für den Aufstieg. Ich will einfach nur alleine sein. Einfach nur alleine! Aber auf diese Weise werde ich nie fertig. Vielleicht schaffe ich es ja, wenigstens noch eine Beziehung aufzuschreiben?