Kapitel 1
Mühsam quäle ich mich aus dem Bett und ziehe die Sachen von der Beerdigung an. Das Frühstück schenke ich mir, setze mich ans Steuer und fahre in Richtung Lübeck.
Zwei Stunden später irre ich durch einen Außenbezirk. „Da! Da ist die Straße! Und da ist die Nummer 2!“ Hinter einem Zaun sehe ich Büsche, Bäume, dichtes Grün, ein paar Farbtupfer und dazwischen undeutlich ein weißes Haus.
Ich parke und starre auf das Lenkrad. Angst rumpelt in mir hoch, krallt sich in
meinen Bauch. Ich hätte doch Marianne mitnehmen sollen. Aber was bitte hätte ich ihr sagen sollen? „Ich muss mir Gift besorgen, um mich umzubringen! Kannst Du bitte mitkommen?“ Ich schüttele den Kopf. „Ach Martin! Wenn Du nur da wärst! Du fehlst mir so!“
Seufzend steige ich aus und schleiche zum Gartentor. Ich sehe zwar ein Schild mit der Aufschrift „Commutatio“, aber keine Klingel. Ich greife nach der Türklinke und drücke sie vorsichtig nach unten: Mit einem lauten Quietschen öffnet sich die Tür. Was für eine Anmeldung! Anschleichen oder sogar Weglaufen geht jetzt nicht mehr.
Meine Schritte knirschen auf dem Kiesweg. Verblüfft blicke ich mich um. Wenn ich überhaupt etwas erwartet habe, dann einen verwaschenen Novembergarten. Aber ganz bestimmt nicht das hier! Weiße und rosafarbene Anemonen, Chrysanthemen in Bonbon-Rosa und Kanarienvogel-Gelb, violettfarbene Herbstastern und goldgelbes Johanniskraut. Das einzig Passende scheint hier das Männertreu und der giftiger Eisenhut zu sein!
Vereinzelt blühen ein paar letzte Rosen: Weiße, rosafarbene und rote. Das Ganze ist umgeben von einem Herbstfeuer aus Ginko, Ahorn und Essigbäumen. Wilder
Wein rankt in leuchtenden Rottönen am Haus. Dieser Garten strotzt nur so vor grässlicher Lebensfreude. Tief hängende Trauerweiden und dunkle Holunderbüsche wären deutlich angemessener. Und wenn schon Blumen, dann Friedhofsblumen, wie Nelken. Und vielleicht noch Rosen. Aber doch nicht in solchen Farben!
Vor der Haustür bleibe ich stehen, atme durch und klingele. Ein Summen ertönt. Ich drücke die Tür auf und stehe in einem hellen Flur. Mir kommt eine Frau entgegen, lächelt und fragt „Guten Tag, sind Sie die Dame aus Bremen?“
Ich nicke. „Ja, Gärtner ist mein Name.
Ich habe einen Termin mit Herrn Bremer“
„Ja, gleich hat er Zeit für Sie. Ich bin Frau Bendig. Wir haben miteinander telefoniert. Bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz.“
„Danke, aber ich würde lieber stehen.“
„Gerne! Mögen Sie vielleicht einen Kaffee oder ein Wasser?“
„Ein Glas Wasser wäre nett.“ Nachdem sie mir das Wasser gebracht hat, geht sie den Gang runter, klopft an eine Tür und verschwindet im Raum. Die Tür lässt sie offen und ich kann hören, wie jemand telefoniert.
Ich sehe mich im Flur um: Heller
Dielenboden, zwei Sessel, ein kleiner Tisch, auf dem eine Vase mit einem üppigen Blumenstrauß stand; sicherlich aus diesem völlig geschmacklosen Garten. An den Wänden hängen Radierungen von seltsamen Flügelwesen, die über Felder, Flüsse und Wälder gleiten.
Ich höre eine Männerstimme rufen: „Oh, sie ist schon da? Ich komme!“ Ein zierlicher Mann mit silberweißem Haar kommt aus dem Zimmer getrippelt. „Guten Tag, Frau Gärtner. Mein Name ist Bremer. Wir haben telefoniert. Kommen Sie! Nebenan können wir uns besser unterhalten“, sagt er. Ich folge ihm.
Skeptisch. Ich habe jemanden mit einem betretenen Gesicht wie in einem Beerdigungsinstitut erwartet, nicht einen mit Lachfalten.
Herr Bremer öffnet die Tür und geht voran. An ihm vorbei sehe ich durch das Fenster auf den geschmacklos bunten Garten. Auch das Zimmer sieht überhaupt nicht aus, als würde sein Besitzer mit dem Sterben zu tun haben: Weder dunkle Möbel, lange Vorhänge, noch große, dunkle Vasen mit traurigen Zimmerpflanzen. Stattdessen ein großer und heller Raum, vor dem Fenster eine tiefblaue Sitzecke. Herr Bremer zeigt auf das Sofa. „Bitte setzen Sie sich doch!“
Ich nicke und setze mich. Vorsichtig. Auf die Kante.
Und jetzt? Soll ich jetzt was sagen, oder er? Das flaue GefĂĽhl in meinem Magen kehrt zurĂĽck.
„Gut, Frau Gärtner, wollen wir beginnen?“, fragt Herr Bremer mit freundlicher Stimme. „Weshalb ich sie hergebeten habe: Ich möchte Sie und Ihre Gründe kennen lernen, sich aus diesem Leben zu verabschieden.“
Ich nicke.
„Würde Sie mir erzählen, weshalb Sie
Kontakt zu uns aufgenommen haben, Frau Gärtner?“
Ich schlucke. Jetzt bin ich also dran. „Martin, mein Mann, ist gestorben; Herzinfarkt…. Er fehlt mir. Ich habe versucht, zu ihm zu kommen; doch es hat nicht geklappt! Dann habe ich in einer Kiste Ihren Zettel gefunden. Und jetzt sitze ich hier.“
Ich blicke Herrn Bremer an. Doch er macht keine Anstalten, zu reden. Also gut, weiter. „Vor gut fünfzehn Jahren habe ich mir die Wirbelsäule gebrochen. Bei einem Verkehrsunfall. Damals ist mein ganzes Leben zusammengebrochen. Unsere Ehe war kaputt und ich hatte
mich gerade selbständig gemacht. Nach dem Unfall konnte ich ein halbes Jahr nicht mehr arbeiten. Die Kunden sprangen ab.
Das war zu viel für uns: Wir waren gerade in ein großes Haus gezogen, ich hatte mich selbständig gemacht, wir hatten zwei kleine Kinder, Eheprobleme und dann kam dieser Wirbelsäulenbruch.
Damals dachte ich: Das war´s dann wohl! Ich konnte nichts und niemanden mehr leiden. Und mich am allerwenigsten. Und Martin hatte nur einen furchtbaren Dackelblick, wenn er mich ansah.“ Herr Bremer schmunzelt.
Das Erzählen tut mir gut. Ich rücke auf dem Sofa etwas nach hinten. „Es war schrecklich. Sollte ich etwa für den Rest meines Lebens diesen furchtbaren Dackelblick ertragen? Wenn ich es gekonnte hätte, hätte ich mich in Luft aufgelöst. Ich wär einfach verschwunden.
Doch dann tat Martin etwas Verrücktes und riss mich aus meinem Selbstmitleid. Ich begann mich zu bewegen, trainierte regelmäßig und mutete meiner Wirbelsäule wieder zu, mich und mein Leben zu tragen. Ich begann zu meditieren, wurde ausgeglichener und gesünder. Safra, unsere Haushaltshilfe, konnte uns verlassen und ich schaffte es,
den Alltag alleine zu stemmen. Dann bekam ich eine Anstellung bei einem früheren Kunden von mir. Mein Leben kam zurück. Meine Familie und ich lachten wieder miteinander. Und Martin und ich? Wir verliebten uns ein zweites Mal. Und jetzt ist er tot! Und ich bin zurückgeblieben“, schließe ich leise.
Erschöpft blicke ich in den Garten.
„Und Sie haben versucht, zu Ihrem Mann zu kommen?“, unterbricht Herr Bremer mein Schweigen.
„Ja!“ Meine Stimme wird noch leiser: „Ich habe in der Wanne gelegen und
einen Fön ins Wasser fallen lassen. Doch die Sicherung ist raus gefallen.“
Herr Bremer zuckt zusammen und guckt mich traurig an.
Ich fühle mich merkwürdig beschämt.
„Ich habe raus gehört, dass Sie nicht mehr am Leben bleiben wollen, weil Sie sich nach ihrem Mann sehnen und zu ihm wollen: Ist das richtig?“
Ich nicke wieder.
„Frau Gärtner, Sie wissen, dass Sie von uns ein Medikament bekommen können, mit dem Sie ihre Leben zuverlässig und schmerzfrei beenden können?“ Ich blicke
hoch. „Wir halten uns dabei streng an die juristischen Vorgaben. Es gibt klare Vorgaben für die Herausgabe des Giftes.
Als erstes müssen sie das 45. Lebensjahr vollendet haben. Damit will der Gesetzgeber sicher gehen, dass sie eine gewisse Lebenserfahrung haben und sich nicht leichtfertig das Leben nehmen. Dass das zutreffen muss, hatte ich Ihnen bereits am Telefon gesagt, damit Sie sich nicht unnötig auf den Weg machen. Und jetzt kommt der Teil, an dem Sie gefragt sind. Sie müssen Einiges aufschreiben.“
Ich schaue ihn verwundert an.
„Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb jemand sterben will. Zum Beispiel eine lebensbedrohende oder eine schmerzhafte Krankheit. Aber gibt noch viele andere. In ihrem Fall, Frau Gärtner, ist es der Tod eines nahe stehenden Menschen. Die Auflagen sind hier klar: Bevor wir ihnen das Gift geben, müssen Sie alle Liebesbeziehungen aufschreiben; einschließlich der Beziehung, wegen der Sie sich das Leben nehmen wollen.“
Ich mache groĂźe Augen.
„Jahreszahlen sind dabei nicht wichtig; es soll keine Biographie werden. Schreiben Sie für jede Beziehung
mindestens eine Seite; mit der Hand oder am Computer.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch: Das hört sich ziemlich schräg an. Herr Bremer scheint meine Gedanken zu lesen. „Zugegeben: Das Ganze ist ungewöhnlich; aber nicht unmöglich! Wenn Sie alle Liebesbeziehungen aufgeschrieben haben, bringen Sie uns Ihre Aufzeichnungen und wir heften sie in eine Akte. Diese Akte ist nur für den Fall, dass nach Ihrem Tod von staatlicher Seite her irgendwelche Fragen auftauchen sollten. Das ist in der Regel aber nicht der Fall. Ansonsten wird niemand, auch wir nicht, einen Einblick
in Ihre Aufzeichnungen erhalten. Als letztes überweisen Sie uns bitte dann noch die 1.000 Euro. Nachdem das Geld bei uns eingegangen ist, bekommen Sie das Medikament.“
In meinem Kopf dröhnt es.
„So, das war der bürokratische Teil“, sagt Herr Bremer und reicht mir einen Zettel. „Hier steht alles noch mal drauf. Wenn Sie Fragen haben, Frau Gärtner, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen.“
Ich nicke und stehe auf: „Danke für Ihre Hilfe!“
Herr Bremer erhebt sich ebenfalls: „Ein
gutes Stück Arbeit liegt vor Ihnen.“ Wir geben uns die Hand. „Ich bringe Sie raus!“ Ein letztes Mal sehe ich auf diesen völlig unpassenden Garten.
Wieder im Auto falle ich erleichtert in mich zusammen: Ich werde das Gift bekommen. Bald kann ich zu Martin. Nur noch ein paar Beziehungen aufschreiben. Das schaffe ich! Ich werde sofort anfangen. Ich wische mir die Tränen ab und fahre nach Hause zurück.