Mord
Prolog
Regen ergoss sich über die Stadt, als hätte jemand Schleusentore geöffnet. Der warme Sommertag mit dem Flirren auf dem Asphalt, den zwitschernden Vögeln und Kindern, die sich am Badesee tummelten und der Duft von Gegrillten schien nur noch ein Hauch von Erinnerung zu sein. Jetzt war es stockdunkel, nur zuckende Blitze, Leuchtreklame und die Straßenbeleuchtung schienen Dunkelheit und einer scheinbar undurchdringlichen Regenwand zu trotzen. Vereinzelnd huschten Menschen durch die leeren Straßen, immer versucht, sich so gut wie nur möglich vor den Regenmassen zu schützen. In den Straßenrinnen bildeten sich kleine Rinnsale zu Flüssen aus, auf Gehwegen und Straßen bildeten sich in den Vertiefungen Pfützen. Wo der Abfluss die Wassermassen nicht mehr aufnehmen konnte, verwandelten diese sich in kürzester Zeit in kleinere Seen, verschmutzt, durch den Staub der Straße.
Mitten durch dieses unwirtliche Wetter bahnte sich ein silberner BMW mit Blaulicht in einem halsbrecherischen Tempo seinen Weg. In jeder Kurve schlingerte der Wagen auf dem nassen Asphalt und drohte wegzurutschen, gelangte jedoch immer wieder in seine Spur zurück, um die rasante Fahrt fortzusetzen, weiter durch tiefe Pfützen und hinweg über rote Ampeln.
Joachim hämmerte fluchend auf sein Lenkrad ein. Eigentlich sollte er doch im Büro die Berichte fertig machen und dann mit Sarah zur Party kommen, und jetzt war er in höchster Gefahr. Er fuhr jetzt schon viel zu schnell in Anbetracht der Tatsache, dass der Wasserfall auf der Windschutzscheibe, gegen den die Scheibenwischer vergebens ankämpften, ihm nahezu jegliche Sicht nahm. Doch er gab noch mehr Gas. Jede Minute, jede Sekunde war kostbar. Sein rationales Denken setzte im Anbetracht der Gefahr, in der Tom schwebte, aus. Der Hilferuf seines Partners lag erst wenige Minuten zurück, doch es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Sein einziges Ziel war jetzt, so schnell wie nur möglich vor Ort zu sein, um ihm zu helfen.
Mit jeder Straße, der er sich seinem Partner näherte, stiegen Puls und Atmung enorm an. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, aber er hatte ein ungutes Gefühl. Der Anruf war nur kurz gewesen und im Hintergrund hatte er deutlich Schüsse gehört. Im Hinterkopf hämmerte immer wieder ein Gedanke: ‚Hoffentlich komme ich nicht zu spät.’
Schließlich kam er mit quietschenden Reifen vor einem großem Gebäude zum stehen, das noch ein Zeichen alter Baukunst war. Joachim stieg aus und wurde von einem Schwall kalten Regen empfangen, der ihn in wenigen Augenblicken völlig durchnässte. Doch das war ihm im Moment egal. Suchend sah er sich um, blickte rüber zu dem Gebäude, das völlig im Dunklen lag. Kein Licht, kein Lärm spielender Kinder. Wieder zuckten Blitze über ihn hinweg und tauchten das Gelände in ein unwirkliches Licht. Er konnte fast nicht glauben, dass sich hier Gangster verschanzen sollten und eine wüste Schießerei im Gange war, in Anbetracht der Totenstille.
Joachim zog seine Waffe und betrat vorsichtig das Gebäude. Das Quietschen der Eingangstür jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken und fürchtete schon, das sein Eintreffen nicht unbemerkt geblieben ist. Er konnte aber zu seiner Überraschung niemanden entdecken oder hören, weder seinen Partner noch sonst jemanden von den Bewohnern dieses Heims. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals bei jedem Zimmer, das er betrat und sicherte. Als er die Klinke der Tür zum Speisesaal berührte, zuckte er zurück und betrachtete seine Hand im fahlen Schein der Blitze. Es war Blut und sein Herz krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, wessen Blut dies sein könnte. Dann griff er erneut zu und riss entschlossen mit entsicherter Waffe die Tür auf. Doch hier befand sich niemand und es gab auch keine Hinweise auf einen Kampf oder gar Verletzte. Joachim atmete durch und bahnte sich weiter seinen Weg durch das nahezu dunkle Erdgeschoss bis zu einem Treppenaufgang. Er hielt mitten im Schritt inne, als er zwei seltsam verdrehte Beine dort liegen sah. Er hoffte und betete, dass es nicht sein Partner wäre, der dort lag und ging schneller, als er beabsichtigte, mit klopfendem Herzen weiter und zielte erst einmal mit der Waffe auf die Person, in der Hoffnung, dass jetzt irgendein Spruch oder Witz von seinem Partner käme, die diese Stille durchbrechen würde und ihm die Last unaussprechlicher Ängste zu nehmen. Doch zu seiner Enttäuschung gehörten die Beine einem Fremden, offensichtlich einem der Gangster. Joachim beugte sich über ihn, um nach einem Puls zu suchen und stellte schnell fest, das er hier nichts mehr machen konnte. Eine Durchsuchung verschob er auf einen späteren Zeitpunkt, denn sein Partner war ihm wichtiger. Dieser Mann würde eh nichts mehr anstellen können.
Tom stirbt
In dem Moment, als er sich aufbeugte, um seine Suche weiterzuführen, zerriss ein Schuss die Stille. Für einen Moment hatte Joachim das Gefühl, eine Bombe wäre in seinem Kopf explodiert. Der Lärm ließ ihn für den Bruchteil einer Sekunde erstarren, dann begann alles in ihm zu vibrieren und sprang auf. Er raste wie von Furien gehetzt quer durch das Erdgeschoss in die Richtung, aus der der Schuss gekommen sein musste. Es war ihm egal, dass hinter der nächsten Ecke ein Schütze lauern könnte oder dass er eventuell Spuren vernichten würde. All das, was ihn schon so oft bei Kollegen auf die Palme gebracht hatte, war jetzt nebensächlich. Er verdrängte alle warnenden Stimmen in seinem Hinterkopf. Das bohrende Gefühl, die Angst, zu spät zu kommen, dominierte sein Handeln. Joachim rannte einfach weiter, bis er schließlich im Hof angekommen war.
Erst sah er gar nichts, grelle Blitze und der Regenschleier nahmen ihm die Sicht. Dann nahm die Umrisse von zwei Gestalten wahr, die in den Wassermassen lagen, und einen flüchtenden Mann, dessen Gesicht sich in seine Erinnerung brannte. In seinem Kopf drehte sich alles, kein klarer Gedanke hatte mehr Platz, als sich sein Blick auf die Person in der dunklen Kleidung fixierte. Seine Augen weiteten sich, sein Herz setzte für einen Moment aus, dann ging er wie von unsichtbarer Macht getrieben weiter und sah das, was er nie sehen wollte: Seinen Partner, blutüberströmt, dem Tod näher als dem Leben. Joachim schluckte. Entsetzen bei dem Anblick überfiel ihn. Dann ging er in die Knie, griff nach dem Körper seines Partners und rüttelte ihn.
„TOM!?! Hörst Du mich? Tom, bitte halte durch. Hilfe ist unterwegs…“ Joachim nahm ihn in seine Arme, doch egal wo er hinfasste, überall war diese dunkelrote Flüssigkeit. Der Anblick ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren. Wieder schüttelte er ihn vorsichtig, suchte nach einem Puls. „Tom! Bitte, komm, lass ich mich nicht im Stich…hörst Du?“ Joachim flehte, schickte Stoßgebete zum Himmel. Nach endlos langen Sekunden hob Tom langsam die Lider. Sein Gesicht war unnatürlich bleich, seine Augen schienen mehr ins Leere zu blicken. Sein Atem ging stockend. Als wüsste er, dass er jetzt seine letzte Reise antreten würde, sagte er fast tonlos und nach Luft ringend: „Wer soll denn jetzt auf Dich aufpassen?“
Dann schloss er die Augen und sein Körper wurde in Joachims Armen schlaff. Der Kopf rutschte zur Seite weg.
„Tom? Hey Tom????“ Joachim riss seine Augen auf. Er suchte vergeblich nach Lebenszeichen bei seinem Partner. Dann wurde das, was er nie erleben wollte, zur Gewissheit. Alles um ihn herum schien mit einem Male nicht mehr da zu sein. Alles war wie in Watte gepackt und bewegte sich in Zeitlupe. Sein Kopf war leer und bis auf das Rauschen in seinem Kopf nahm er nichts mehr wahr. Er fühlte nicht mehr die Kälte des Regens und auch die Stimme der Chefin, die mittlerweile mit Verstärkung eingetroffen war, drang nicht zu ihm durch. Er saß nur wie in Trance da und hielt seinen Partner.
In der Psychatrie
Das Zimmer lag im Dunkeln, die geblümten Vorhänge hatte er zugezogen. Draußen war es vermutlich ein schöner sonniger Tag, aber das war ihm egal. Er konnte durch das geribbelte Doppelglas, das noch zusätzlich mit dünnen Drähten gesichert war, sowieso nur Umrisse erkennen. Die Sonne, die Wärme, die von ihr ausging, all die schönen Dinge, die das Leben lebenswert machen, hatte er schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen und erlebt. Er saß hier seit jenem Tag im Sommer, gefangen, abgeschirmt von Freunden und vom Leben. Anfangs hatte er sich noch um Normalität bemüht, getrieben von der Hoffnung, er würde hier schnell wieder herauskommen. Er hatte beteuert, hier nicht herzugehören und in jedem Gespräch mit der Ärztin versucht seine Position zu vertreten. Aber im Laufe der Zeit schwand dieses Gefühl, je weniger die Ärztin und die Pfleger ihm Glauben schenkten. Er gab es auf. Stattdessen bestanden seine Tage nur noch aus dumpfen Grübeln, wie sein Leben, falls man es noch so bezeichnen mochte, weitergehen würde, unterbrochen von der Visite der Ärztin, die ihn mit salbungsvollen psychologischen Weisheiten überhäufte und den schweigsamen Pflegern, die ihm neben den täglichen Mahlzeiten auch viele Tabletten gaben, dessen Einnahme er vortäuschte, denn er wollte sich nicht noch mehr betäuben lassen, als es schon der Fall war durch die tägliche Monotonie und Einsamkeit.
Einzig ein Medaillon und ein Pfleger, der zu ihm hielt, waren ihm geblieben. Durch ihn hatte er den Hauch eines Kontaktes zur Außenwelt. Dieser Pfleger glaubte ihm als einziger und war bereit, ihm zu helfen. Doch seit geraumer Zeit war dieser Kontakt weg. Der Pfleger kam nicht mehr. Das letzte, was er von ihm gehört hatte, war das die Ärztin einen operativen Eingriff plante, der seine Shizophrenie heilen würde. Dieses Gespräch war vor wenigen Tagen gewesen. Er wollte sich wieder bei ihm melden, und ihm dann den neuesten Stand seiner Nachforschungen mitteilen, die ihm endlich zur lang ersehnten Freiheit verholfen hätten.
Als sich jemand an der Tür zu schaffen machte, keimte so etwas wie Hoffnung in ihm auf, aber im Türrahmen tauchte nur ein neues Gesicht auf. Ein junger Pfleger, der wohl neu hier war, ihn etwas schüchtern betrachtete während er das Tablett auf den Tisch abstellte.
„Kommt Herr Meinecke heute noch?“ fragte er schließlich. Der junge Pfleger war mit der Frage sichtlich überfordert und wandte sich Hilfe suchend an seinen Kollegen, der mit dem Speisewagen vor der Tür stand.
„Nein, er arbeitet hier nicht mehr“, lautete die knappe Antwort. Dann schloss sich die Tür wieder von außen. Er hörte die Stimmen vor der Tür der Pfleger, wie sie sich über ihn unterhielten.
„Was ist mit ihm?“
„Der ist durchgedreht, glaube ich…ist erst seit ein paar Monaten hier…aber das interessiert mich nicht wirklich und sollte Dich auch nicht. Der wird demnächst eh operiert und ist dann eh weg…so wie die meisten Patienten.“
Schließlich entfernten sich die Stimmen. Nun war er ganz alleine, niemand, der ihm helfen würde. Er holte das Amulett hervor, das er geschickt vor neugierigen Augen versteckt hatte und betrachtete es. Seit jenem Tag im Sommer versuchte er die Inschrift und das symbolähnliche Zeichen zu ergründen, doch bisher ohne Ergebnis. Er wog es in seinen Händen.
Schließlich rief etwas wie aus dem Nichts seinen längst verloren geglaubten Kampfgeist wieder wach. Er zog die Vorhänge auf, ließ das Licht hinein und schwor sich, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.