Der Gedemütigte Weihnachtsmann
Eine weihnachtliche Kurzgeschichte für groß und...
...nee, nee, vielleicht besser doch nicht für die lieben Kleinen...
Abendliche Dämmerung hatte sich über die Stadt gelegt und eine friedliche Stille breitete sich aus. Schneeflocken wirbelten durch die Luft und bescherten der Stadt ein hübsches weißes Kleid. Auf den Laternen bildeten sich überall weiße Häubchen und es sah aus, als hätten sie alle eine schicke weiße Pelzmütze aufgesetzt bekommen. Aus den Fenstern drang helles Licht nach außen und beleuchtete die heftig umherwirbelnden Schneeflocken. In den Zimmern der Leute wurden jetzt feierlich die Kerzen angezündet und die bunt geschmückten Tannenbäume erstrahlten im hellen Glanze der vielen unzähligen Kerzen.
Mit der beizeiten einsetzenden Dämmerung hatte sich überall in der Stadt zugleich auch eine anheimelnde, weihnachtliche Festtagsstimmung verbreitet.
Denn endlich war es so weit...
Es ward nun Heiliger Abend und niemand mehr, der sich jetzt noch ohne zwingende Not draußen auf der Straße aufhielt. Lediglich ein massiver hölzerner Schlitten hielt vor einem großen Wohnhaus und ein alter Mann in einem dicken roten Mantel, zog die Zügel fester an.
»Halt an, mein Guter, wir sind da«, rief er dem Rentier zu, welches den schweren Schlitten bis dahin durch das dichte
Schneegestöber gezogen hatte. Rudolf, so hieß das Rentier, wandte den Kopf zu seinen Herren herum. Es hatte verstanden und stampfte mit den Hufen auf. Aus seinen Nüstern atmete es heftig weißen Wasserdampf aus, denn es ward gar bitter kalt. Der alte Mann hatte Glück und entdeckte im dichten Schneetreiben einen einzigen freien Parkplatz, auf den er seinen robusten, hölzernen Schlitten lenken konnte.
»Es dauert gewiss nicht lange, ich bin bald zurück«, sagte der Alte in einem freundlichen Tonfall, stieg von seinem Schlitten herab und tätschelte Rudolf den Hals. Dennoch griff er nach einer derbleinenen Pferdedecke und legte sie
dem Rentier zum Schutz vor dem vielen Schnee und der grimmigen Kälte auf dessen Rücken. Er nahm seinen großen braunen Geschenkesack aus Jute auf und warf ihn sich ächzend über die Schulter. Kopfschüttelnd ergriff er beinahe schon widerwillig die Rute, obwohl er die eigentlich schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Gebrauch hatte, aber die Vorschriften verlangten es nun mal. Und so gerüstet stapfte er durch den hohen Schnee, dem Eingang des verschneiten Hauses entgegen.
Es war ein großes altes Haus, in welchem viele Familien wohnten. Überall waren nun die Fenster hell erleuchtet, leise Weihnachtsmusik drang an sein Ohr und
ein verführerischer Duft von Lebkuchen, Mandeln und Korinthen lag in der Luft. Er klingelte am Tableau und mit einem Summerton wurde ihm die Tür geöffnet.
Offensichtlich wurde er also schon sehnsüchtig erwartet. Der Alte dachte an leuchtende Kinderaugen und freundliche Menschen, die ihn gerne kommen sahen. So bewegten ihn denn auch nur glückliche Gedanken, als er in dieses Haus eintrat. Er betätigte den Lichtschalter für das Treppenhauslicht und stieg die Stufen zur ersten Etage hinauf. Als er dort ankam, öffnete sich eine Wohnungstür, trotzdem das darüber befindliche rote Neon-Reklameschild "OPEN" ausgeschaltet war. Eine recht
attraktive, äußerst erotisch wirkende, üppige Blondine in einem knappen, aber reizend anzusehenden Kostüm schaute ihn mit großen blauen Augen fragend an.
»Ho, ho, ho!«, rief der Alte mit tiefer, aber auch nicht unfreundlicher Stimme. »Aus dem finst'ren Walde komm ich her und ich muss dir sagen, es weihnachtet gar sehr…«
»Es ist mir egal, wo du herkommst, aber eigentlich arbeite ich am Heiligen Abend nicht«, sagte die sexy gestylte Frau und taxierte den Alten ziemlich unverhohlen. Von ihr ging ein betörender, ja sogar ein deutlich aphrodisierender Duft aus, der den Alten regelrecht benommen machte und ihm beinahe gar die Sinne zu
verwirren drohte. Die Dame hatte zudem wohl auch schon einige Glas Prosecco getrunken und stellte sich nun in einer ziemlich eindeutigen erotischen Pose in den Türrahmen.
»Da muss ein wohl ein Missverständnis vorliegen, denn ich bin wirklich rein dienstlich hier«, murmelte der Alte entschuldigend und wollte just klammheimlich schon wieder verschwinden.
»Das trifft sich gut«, sagte sie. »Auch ich bin nur rein dienstlich hier, aber jetzt, wo du schon mal da bist, da will ich bei dir auch eine Ausnahme machen. Denn du scheinst es ja in der Tat faustdick hinter den Ohren zu haben,
ausgerechnet an einem solchen Abend hier in meinem Etablissement aufzukreuzen…«, sagte sie mit einem süffisanten Lächeln und öffnete flugs die beiden obersten Knöpfe ihrer ohnehin etwas zu engen Kostümjacke. Der Alte starrte entgeistert auf den freigelegten Ansatz ihres hübschen Busens und zu dem grellen Rot seines Mantels, gesellte sich das flammende Rot in seinem Gesicht...
Da packte der Vamp den Alten plötzlich bei seinem weißen Pelzkragen und riss ihn mit einem heftigen Ruck an sich.
»Oh, komm nur her du … du …! Du kommst mir jetzt gerade recht, denn ausgerechnet heute, da bin ich ganz
allein hier und nun will ich aber auch wissen, ob du es tatsächlich noch drauf hast, Alter...«
Mit diesen Worten presste sie sich fest an ihn und küsste ihn heftig auf den Mund. Der Weihnachtsmann konnte sich nur recht mühsam von der plötzlich so heiß entflammten Dame losreißen.
»Es tut mir wirklich leid, aber wie gesagt, es kann sich da leider nur um ein sehr peinliches Missverständnis handeln. Denn ich bin ganz bestimmt nicht derjenige, den Sie erwarten…«
»Nein, wirklich nicht?«, lockte sie ihn verführerisch und öffnete an ihrer Kostümjacke ganz langsam den letzten Knopf. Mit einer eleganten
Handbewegung ließ sie die Jacke zu Boden gleiten und trat nun oben völlig ohne, dicht an den Weihnachtsmann heran. »Noch kannst du es dir überlegen, mein Alter«, hauchte sie ihm mit betörender Stimme ins Ohr. Dann hob sie provokant ihre Brüste an und leckte sich mit der Zunge über die kirschrot geschminkten Lippen. Dem Alten standen sofort die ersten Schweißperlen auf der Stirn. Er trat sicherheitshalber rasch noch einen weiteren Schritt zurück und schüttelte bedauernd den Kopf,
»… ein Irrtum«, stammelte er verstört und war versucht, ihr nicht mehr auf ihre opulenten Brüste zu starren und schaute ihr stattdessen fest nun ins Gesicht.
Sofort registrierte er, wie ihr auf der Stelle ihre freundlich lächenden Gesichtszüge entglitten.
»Du bist eine glatte Niete, ein erbärmlicher Versager, du Weihnachtsmann...«, rief der Vamp jetzt maßlos enttäuscht, auch ziemlich lautstark in den Treppenhausflur hinein und schmetterte ihm daraufhin mit einem gewaltigen Krachen die Tür vor der Nase zu.
Schweißgebadet und kopfschüttelnd nahm der Alte mühsam seinen zuvor abgestellten Geschenkesack wieder auf und stieg langsam eine Treppe höher. Meine Güte, dachte er, was sind das bloß für Zeiten. Das war doch früher nicht
alles so verrückt. Aber vielleicht haben sich ja auch die Zeiten geändert und nur ich alter Nussknacker, hab' das wohl nur noch nicht richtig geschnallt.
Aber aufgeben wollte er deshalb noch nicht und so klingelte er voller Hoffnung eine Etage höher, an der nächsten Tür.
Ein untersetzter, adipöser Mann mit straff über den Bauch gespannten Hosenträgern und einer dicken Zigarre im Mundwinkel, öffnete ihm die Wohnungstür.
»Wir geben nichts...«, knurrte der Mann spontan durch die Zähne, als er den Alten erblickte. Gerade wollte er die Tür wieder schließen, als der Alte geschwind seinen Fuß dazwischen stellte und zu ihm
sprach,
»Haltet ein, guter Mann, wisst Ihr denn gar nicht, wer ich bin? Ich bin doch der gute Weihnachtsmann und komme von…«
Der Mann, der ihn ein bisschen an Ekel-Alfred erinnerte, nahm nun vorsichtig die Zigarre aus dem Mund und unterbrach den beredten Weihnachtsmann in seinem eloquenten Redefluss,
»Zu allererst nimmst du sofort deinen verdammten Fuß aus meiner Tür, sonst setzt es was!«, sagte er gefährlich leise von unten herauf. Der Weihnachtsmann gehorchte,
»Aber ich wollte doch nur für den Jungen eine kleine Holzeisenbahn und für die Tochter eine hübsche bunte
Stoffpuppe…«, stammelte der Alte enttäuscht, wohl ahnend, dass er auch hier nicht besonders willkommen war.
»Eine was?«, lachte der Mann grob. »Eine alte Lumpenpuppe? Sag mal Alter, du hast wohl nicht mehr alle Latten am Zaun. Im Übrigen war der richtige Weihnachtsmann heute schon da, du Strawanzer. Hat mich auch ne‘ hübsche Stange Geld gekostet dieser Typ, aber was soll's. Schließlich ist ja auch nur einmal im Jahr Weihnachten. Für meine Tochter gab's jedenfalls das neueste iPad und mein Sohn hat die allerneuste Playstation bekommen. Was also willst du? Dich bei mir durchschnorren? Das kannst du vergessen und nun verpfeif‘
dich, du Zipfelmütze, sonst rappelt's noch im Karton. Alles klar?«
Der Alte wollte um der Kinder Willen noch einen allerletzten Versuch wagen, den Mann doch noch zu überzeugen.
»So hören Sie, lassen Sie mich doch wenigstens kurz…«
Weiter kam er nicht, denn mit den Worten,
»Du hast es ja nicht anders gewollt«, holte der korpulente Kerl mit den breiten Hosenträgern plötzlich aus und schlug dem armen Weihnachtsmann so mir nichts, dir nichts, völlig überraschend die Faust mitten ins Gesicht. Der Alte taumelte gegen die Wand im Flur und sackte zusammen.
»Siehst du, das hast du nun davon, du Möchte-Gern-Weihnachtsmann und nun verpiss‘ dich gefälligst und lass‘ dich ja nicht mehr hier blicken!«, lachte der Mann böse und warf ihm ebenfalls mit einem lauten Krachen die Tür vor der Nase zu.
Der Alte war entsetzt und völlig verzweifelt.
Mit so viel Boshaftigkeit bei den Menschen hatte er natürlich nicht gerechnet. Wann hat man jemals davon gehört, dass überhaupt jemand den Weihnachtsmann verprügelt hätte? Niemals, ein Unding! Ich werde langsam zu alt für diesen Scheiß, dachte er und bemerkte, wie ihm das Blut aus der Nase
auf seinen weißen Bart tropfte. Auch das noch, so kann ich mich doch nirgends mehr wo blicken lassen...
Er suchte krampfhaft nach seinem Taschentuch, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Enttäuscht und gedemütigt sammelte der Alte schließlich die bei der Rangelei im Treppenhausflur verstreuten Geschenke ein und verstaute sie wieder in seinen derben Jutesack. Nein, das war das letzte Mal, ich hänge diesen zermürbenden Job an den Nagel und setze mich zur Ruhe, schwor er sich. Da kann ich mich endlich mal jenen Dingen widmen, die ich schon immer gerne machen wollte, alte Märchen von damals lesen und neue Märchen für die
Kinder schreiben. Ja, das würde mir gefallen, sagte er noch auf dem Treppenabsatz zu sich selbst. Nur einmal noch huschte ein kurzes Lächeln über sein ramponiertes, blutverschmiertes Gesicht. Dann tröstete er sich ein bisschen mit dem Gedanken an sein künftiges Leben, welches gewiss erfüllt sein würde, von staunenden Kinderaugen und fröhlichen Gesichtern.
Aber dennoch stieg er wegen der vielen unverrichteter Dinge innerlich traurig und gedankenverloren die Treppe wieder hinab. Mit einem Male stand er draußen vor seinem Schlitten, der in dem dichten Schneetreiben allerdings schon tüchtig eingeschneit war. Rudolf hatte indes aber
brav auf seinen Herren gewartet und scharrte zu dessen Begrüßung schon heftig mit den Hufen im Schnee.
»Ja, mein Guter«, wandte er sich an sein Rentier und tätschelte ihm wieder den Hals. »Dann war das heute wohl unsere letzte Fuhre, wir werden jetzt wieder zurück in den hohen Norden, in unseren zugeschneiten Winterwald fahren und es uns daheim in unserer Hütte recht gemütlich machen. Du wirst noch ein paar von deinen zarten Lieblingsmöhren bekommen und ich werde mir ein extra großes Glas Punsch genehmigen oder vielleicht auch zwei. Und nebenbei muss ich auch noch meine demolierte Nase kühlen. Danach wollen wir beide alles
schön in himmlischer Ruhe genießen. Ich bin einfach nur noch müde…«
Ächzend warf er den schweren Sack mit den übriggebliebenen Geschenken auf die Rückbank seines Schlittens.
Doch plötzlich durchzuckte ihn ein aberwitziger, geradezu törichter Gedanke. Ja, das kann doch alles nicht wahr sein, dachte er und wurde mit einem Male sogar richtiggehend wütend.
»Ach ihr... Ihr könnt mich alle mal, mit eurem Wohlstandsdenken. Ihr mit eurer verdammten Playstation und euren iPad's. Ha', dass ich nicht lache. In der Tat, was bin ich nur für ein echter Vollpfosten gewesen, ich hätte doch mal besser bei dieser superheißen Braut mit
ihren herrlichen... 'süßer die Glocken nie klingen'... bleiben sollen. Mit der da hätt‘ ich doch ganz sicher noch wenigstens eine heiße und unvergleichliche Nacht verbringen können. Sie hatte völlig recht. Ich bin ein totaler Versager, eben ein richtiger Weihnachtsmann. Und ich, ich völlig verblödeter Vollpfosten muss mich ja unbedingt noch auf meine Pflichten berufen und lass' mir dafür sogar noch von diesem widerlichen, zigarrequalmenden Drecksack eins auf die Nase geben. Wie blöd bist du eigentlich wirklich, Joel? Aber damit ist jetzt Schluss, Sense, Feierabend, Finito mit feliz navidad!«, rief er zornig aus
und warf das blutgetränkte Taschentuch wütend in den weißen Schnee. »Ab, wir fahren nach hause, Rudi. Gleich wenn wir daheim angekommen sind, rufen wir noch die rattenscharfe Hexe Esmeralda an, die lass‘ ich dann nackt Rock 'n' Roll auf der Werkbank in meiner Weihnachtsmann-Werkstatt tanzen. Ha', von wegen Punsch...«, grölte er. »Eine Flasche echten schottischen Single Malt Whisky vom Allerfeinsten sollte es mindestens sein. Und dann, dann machen wir heute Nacht noch ein mächtiges Fass auf und lassen es mal so richtig krachen. Irgendwo, da wird sich doch wohl auch noch so ein verdammter Joint auftreiben lassen. Und wenn's sein muss, dann
lassen wir in dieser Nacht auch noch eine rosarote Kuh fliegen. Ho, ho, ho!«, brüllte er nun grimmig lachend in die tiefverschneite Winternacht hinaus, wendete seinen alten Schlitten und jagte mit wehenden Mantelschößen durch das wilde Schneetreiben zurück in den hohen Norden...
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Impressum
Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
Coverpicture: uschi dreiucker_pixelio.de
© by Louis 2013/12 last Update: 2021/12