Wenn das Geheime im Verborgenen bleibt
Oder: Nicht alles ist das, was es scheint
Bei dem verhältnismäßig milden Temperaturen heute war ich wieder unterwegs. Jedoch dieses Mal nicht sonderlich weit. Denn nicht immer muss man in die Ferne schweifen. Interessante Orte kann es auch gleich um die Ecke geben. Auch wenn sie auf den ersten Blick gar nicht so aussehen.
Nicht weit entfernt gibt es ein verwildertes Grundstück, in dem ich schon immer gerne aufgehalten habe, seit ich hier wohne. Nur ein paar Hundert Meter entfernt und von einer Ziegelmauer umgeben. Das Grundstück ist jedoch frei zugänglich. Eigentlich gibt es dort nichts Besonderes zu sehen. Es sind nur ein paar Wege vorhanden und viele teilweise recht alte Bäume. Was ich so faszinierend finde, sind die anscheinend ebenso alten Efeugewächse, die sich mit ihren armdicken und behaarten Kletterwurzeln an den dicken Stämmen empor schlängeln.
Sobald ich dieses ansonsten verwilderte Grundstück betrete, scheine ich in eine andere Welt einzutauchen. Die Geräusche der Großstadt verstummen und selbst, wenn sich die Vegetation wegen der gesunkenen Temperaturen zurückzieht und die Äste ihr Laub verlieren, ist man sich der nahen Zivilisation samt ihrer vielstöckigen Behausungen kaum mehr bewusst. Das Grundstück selbst ist nicht sonderlich groß und dennoch scheint es mir eine ganz andere Welt zu sein.
In der Sommerzeit ist es wegen dem üppigen Blätterwerk immer angenehm
kühl und daher ein häufig genutzter Aufenthaltsort für einen kleinen Spaziergang. Nachteilig ist jedoch, dass auch viele andere Lebewesen sich gerne dort aufhalten. Beispielsweise Steckmücken, obwohl es kein stehendes Gewässer in der Nähe gibt, in denen die Mädels ablaichen könnten. Auch sollte man tunlichst auf dem Weg bleiben, denn die Wegränder säumen hüfthohe Brennnesselstauden und ihre Ableger.
Sobald diese im Frühjahr groß genug sind, sammle ich mir dort einen kleinen Vorrat an Teeblättern und später auch Samen für die kalte Jahreszeit zusammen. Später im Sommer lasse ich
das sein, da die einzelnen Blätter dann alle von Schnecken und anderem Getier angefressen sind. Tja, auch Wildtiere und Insekten wissen die wohlschmeckenden und heilenden Wildkräuter zu schätzen.
Apropos Wildkräuter. Noch bevor irgendwo anders die ersten Pflänzchen ihre Köpfe im zeitigen Frühjahr aus der Erde stecken, leuchten hier im hinteren Teil des Geländes bereits die zartgrünen Blätter des Giersch zwischen den braunen Blättern des Vorjahres, welches zentimeterdick und großflächig den Boden bedecken. Hier ist eine meiner ersten Anlaufstellen für das traditionelle Kräutersammeln im Frühjahr.
Irgendwann wollte ich dann wissen, wofür dieses Grundstück in der Vergangenheit einmal genutzt wurde. Schließlich ist es rundum mit einer so robusten Ziegelsteinmauer umgeben, dass diese auch heute noch fast unbeschadet allen Witterungseinflüssen standhält. Aber wen ich in meiner Nachbarschaft auch fragte, niemand konnte mir etwas interessantes erzählen. Oder wusste überhaupt etwas über das verwilderte Grundstück beziehungsweise seine Besitzer. So blieb ich weiterhin unwissend.
Doch eines Tages änderte sich das. Denn als mich mein Weg hinunter zum Naturschutzgebiet an der Wuhle eines Vormittags wieder einmal hier entlangführte, sah ich eine Gedenktafel am Eingang. Neugierig trat ich näher und betrachtete die Gedenktafel, die darauf hinwies, dass es sich bei dem Grundstück um einen alten Friedhof handelt, welcher an das in der Nähe befindliche Unfallkrankenhaus angeschlossen war. In der Nazizeit wurden hier die Euthanasie-Opfer begraben.
Nun wusste ich Bescheid. Über die
ehemalige Nervenheilanstalt aus der nationalsozialistischen Zeit hatte ich ja bereits berichtet. Und hier wurden nun die vielen Opfer begraben. Kein Stein, keine Gedenktafel oder ähnliches hatte bis jetzt an die dunkle Geschichte beziehungsweise die vielen Opfer erinnert, die hier begraben wurden. Schade eigentlich. Aber nun verstehe ich auch mein Gefühl (oder mein Empfinden), jedes Mal, wenn ich das Gelände betrat und immer noch betrete.
Dies ist ein Ort der Stille und sollte dem Gedenkens dienen und genauso habe ich es schon immer empfunden. Auch, bevor ich wusste, welcher Leid sich hier
abgespielt haben musste. Ich gehe immer noch gerne hier spazieren, zu jeder Jahreszeit, aber nun empfinde ich mehr Ehrfurcht vor diesem Fleckchen Erde mitten in Berlin.
...Und doch einsam und still gelegen.
Dieser Ort macht mich neugierig auf weitere Begräbnisstätten. Mich würde interessieren, ob ich auch so fühle, wenn ich weiß, welches Grundstück ich dort betrete. Daher werde ich im nächsten Jahr regelmäßig Berliner Friedhöfe besuchen und euch davon berichten. Ich glaube, das könnte interessant werden, denn auch viele Persönlichkeiten der Geschichte oder Promis wurden auf
einem der zahlreichen Friedhöfe in Berlin begraben. Mal schauen, auf wen ich da alles stoßen werden. Seid gespannt.
Für heute wünsche euch allen da draußen aber erst einmal einen schönen Abend
… und passt auf euch auf.
Euer Vagabundinchen