Agathe heißen doch nur Gänse
Agathe stand an den Zaun gelehnt, der das kleine Rasenstück mit den schnatternden Gänsen umgab. Sehnsüchtig schaute sie hinüber zur Wiese, wo die Jungs und Mädels Fußball spielten.
Denen war nicht kalt, sie rannten und tobten und hatten ihren Spaß. Agathe fror, denn über Nacht war der Winter mit strengem Frost in die Stadt gekommen. Sie bereute, dass sie Omas Rat gefolgt und rausgegangen war. Meist hockte sie in ihrem ZUHAUSE am FENSTER und
schaute dem BUNTen Treiben der anderen Kinder zu. Oder sie las. Am liebsten Tiergeschichten. Gestern hatte ihr Opa ein Buch über IGEL mitgebracht, in das sie jetzt viel lieber reinschauen würde. Ihre Eltern, die den ganzen Tag arbeiteten, meinten auch, sie sei eine Stubenhockerin. Hätte außerdem zu viel Fantasie und dass sie dauernd die Nase in ein Buch steckte, würde das noch schlimmer machen. Es stimmte, Agathe träumte sich oft in die Geschichten hinein, spielte Szenen in Gedanken nach und redete mit den Figuren. Das war allemal besser, als hier draußen in der Kälte rumzustehen.
Nie könnte sie mitspielen mit ihrem
lahmen Bein. Neulich hatte sie Julius gefragt. Doch der hatte nur gemeint: „Nee, du, das wird nichts. Mit deinem Bein kannst du ja nicht rennen. Mit dir verliert jede Mannschaft.“
Eigentlich war er nett, zumindest sagte er hallo oder hej, wenn er sie sah. Und er hatte recht. Agathe konnte wirklich nicht so schnell laufen wie die anderen Kinder. Aber sie war reaktionsschnell. Bestimmt wäre sie eine gute Torfrau. Doch sie hatte sich nicht getraut, Julius diesen Vorschlag zu machen.
Alles war blöd. Die Kälte. Ihr Bein, das auch nach mehreren Operationen immer noch steif war. Ihr doofer Name, über den die anderen oft lachten. Sie
beschloss, wieder reinzugehen, egal, was Oma sagte.
Plötzlich rollte der Ball von der Wiese auf sie zu. Blieb genau vor ihren Füßen liegen.
„He, A-ga-the! Wirf mal her!“, brüllte Torsten.
Sie bückte sich, nahm den Ball und hielt ihn fest.
„Na los!“ Jetzt schrie auch Lena. „Mach schon!“
Aber Agathe dachte nicht daran. Das fehlte noch, dass sie denen ihren Ball zurückwarf. Sollten die ihn doch holen. Ohne weiter nachzudenken, warf sie die Arme hoch und schmiss den Ball nach hinten über ihre Schulter. Der landete
etwa fünf Meter vom Zaun entfernt auf dem eingezäunten Grundstück mit den Gänsen.
„Oh nein!“, brüllte Peter. „Bist du bescheuert?“ Jetzt kamen sechs Kinder auf Agathe zu. Drohend. Aufgeregt.
„Sag mal, hast du sie nicht alle?“ Maja schaute sie kopfschüttelnd an. „Wie sollen wir jetzt den Ball wiederbekommen?“
„Holt ihn euch doch.“ Agathe schob trotzig die Unterlippe vor.
„Nee du“, Tim runzelte die Stirn. „Zu den Viechern gehen wir nicht rein. Die beißen wie verrückt. Du holst den Ball! Hast es ja verbockt.“ Mit einem wütenden FUNKELN in den Augen
starrte er sie an.
Agathe spürte, wie sich ein dicker Klumpen in ihrem Magen sammelte, als die vier Jungs und zwei Mädels einen enger werdenden Halbkreis um sie bildeten.
„Das kann nicht euer Ernst sein.“ Sie schluckte. Die würden sie doch nicht zwingen können? Oder?
„Doch!“ Lena kam noch einen Schritt näher. Agathe drückte sich mit dem Rücken an den Zaun.
„Bitte …“, sie fand keine Worte, spürte, dass sie gleich anfangen würde zu heulen. Bloß das nicht.
„Feige bist du auch“, Tim stemmte die Hände in die Seiten, „schaut nur, sie
steht da wie ein armes WÜRSTCHEN.“
„Lasst gut sein. Bringt doch nichts.“ Julius packte Peter an der Schulter. „Ich sag nachher meinem großen Bruder Bescheid, der hat bestimmt eine Idee, wie wir den Ball wiederbekommen können. Spielen wir halt was anderes.“
Sie trollten sich und Agathe atmete auf. Nach einer kurzen Beratung hatten sich die Kinder für ein anderes Spiel entschieden. Anscheinend Fangen. Sie jagten sich wild kreuz und quer über die Wiese. Agathe drehte sich um, die Gänse hatten sich etwas nach hinten verzogen. Nur eine stand direkt am Zaun, kaum einen Meter von Agathe entfernt, und zupfte am Gras. Das Mädchen traute
seinen Augen nicht. Hatte das arme Tier nur ein Bein?
Die Gans hob den Kopf, klapperte mit dem Schnabel. Aber Agathe hörte kein Schnattern. Eine zarte Stimme wehte zu ihr herüber.
„Warum bist du so traurig?“ Das Tier blinzelte, fixierte Agathe mit seinen blauen Augen.
„Ähm … du … du kannst sprechen?“ Agathe kam aus dem STAUNEN nicht heraus, als die Gans den Kopf senkte, was wie ein Nicken aussah. „Aber ja. Nur die meisten Menschen verstehen mich nicht.“
„Und warum hast du nur ein Bein?“
„Eine lange Geschichte, war ein dummer
Unfall. Habe mich daran gewöhnt, auf nur einem Bein herumzuhüpfen. Und du? Dein Bein ist auch nicht in Ordnung.“
Agathe biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich wollte sie nicht darüber reden. Nicht über ihre leichtsinnige Aktion, als sie auf den Baum geklettert und dann aus vier Metern Höhe hinuntergefallen war. Es hatte lange gedauert, die zertrümmerte Kniescheibe wieder zu richten. Noch immer musste Agathe zur Krankengymnastik. Und Schmerzen hatte sie auch immer mal wieder. Es würde besser werden, sagten die Ärzte. Nur wann? Agathe glaubte kaum noch daran. „Wie heißt du?“, fragte sie, um
abzulenken.
„Nelly. Und du bist Agathe.“
„Ja, ein blöder Name. Agathe heißen doch nur Gänse. Upps …“, das Mädchen schlug die Hand vor den Mund, „ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Schon gut. Ich finde Agathe schön. Und der Name passt zu dir.“ Nelly zupfte ein Grasbüschel aus. „Aber warum bist du so traurig? Dein Bein wird besser werden, du musst einfach daran glauben.“ Es klang fast, als würde Oma reden. Und plötzlich wollte all das aus Agathe heraus, was sie bedrückte.
Sie erzählte der Gans von ihrem Kummer. Dass die anderen sie oft nicht beachteten, dass sie die wilden Spiele
nicht mitmachen konnte und dass sie jetzt den Ball holen sollte.
„Ich traue mich einfach nicht, bin halt außer einer lahmen Ente auch ein Feigling.“ Sie wischte eine Träne fort, die ihre Wange hinunterlief. Schniefte und zog die Nase hoch.
„Unsinn“, sagte Nelly, „es ist schon richtig, dass du vorsichtig bist. Schau, meine Kameraden sind ganz da hinten und ich tue dir nichts. Aber es ist wichtig, dass du das machst, was du für richtig hältst. Du musst niemandem beweisen, dass du mutig bist. Mutig kann auch ein Nein bedeuten.“ Nelly hüpfte ein paar Meter weg.
Agathe überlegte. Sollte sie es wagen?
Über ihren Schatten springen? Schon einmal war sie leichtsinnig gewesen und hatte dafür bezahlt. Sie erkletterte den halbhohen Zaun, krallte sich oben fest. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass die sechs Kinder ihr Fangenspiel unterbrochen hatten und näher kamen.
„Nicht, Agathe, lass das.“ Julius hob die Hand, schüttelte den Kopf.
Agathe zögerte. Es war riskant. Sie hielt nach Nelly Ausschau, doch die war verschwunden.
„Bitte“, sagte Lena, komm da runter.“
Agathe fasste einen Entschluss. MUCKSMÄUSCHENSTILL standen die Kinder da und starrten sie an, wie sie am Zaun
herunterrutschte.
„Auch wenn ihr mich für feige und blöd haltet, ich wäre bescheuert, da jetzt rüberzuklettern wegen einem Ball. Nelly …“ Erschrocken hielt sie inne.
„Nelly?“ Torsten schaute sie an, kam einen Schritt auf sie zu.
„Egal“, sagte Agathe, „es tut mir übrigens leid, dass ich euren Ball zu den Gänsen geworfen habe.“
„Schwamm drüber.“ Julius grinste. „Menno, das war verdammt mutig von dir, nicht zu den Viechern zu gehen.“ Die anderen nickten.
„Mutig? Wieso?“ Agathe verstand nicht, was Julius meinte.
„Na ja, es gehört schon Mut dazu, sich
gegen sechs andere zu stellen, die dich feige genannt haben. Oder?“ Lena schaute die anderen fragend an. Einer nach dem anderen nickte.
„Leider könnt ihr jetzt nicht mehr Fußball spielen.“ Agathe strich sich die Haare aus dem Gesicht.
„Wie wär's denn mit Verstecken?“ Tim kam einen Schritt auf Agathe zu. „Hast du Lust?“
„Ich weiß nicht, ob …“
„Nichts da!“, rief Maja, „keine Ausrede. Du machst mit.“ Sie hakte sich bei Agathe unter und zog sie weg vom Zaun. Agathe spürte ihr Herz klopfen. Aufregung? Sicher, aber vor allem Freude. Sie drehte sich zur Gänsewiese,
gern hätte sie Nelly ein Dankeschön zugerufen. Doch die Gans blieb verschwunden.