Kinderbücher
Agathe heißen doch nur Gänse

0
"Beitrag Schreibparty 94"
Veröffentlicht am 15. Dezember 2021, 20 Seiten
Kategorie Kinderbücher
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung ...
Beitrag Schreibparty 94

Agathe heißen doch nur Gänse


SP 94

Vorgabewörter:
Würstchen
Fenster
Zuhause
bunt
funkeln
Igel
staunen
mucksmäuschenstill


Agathe heißen doch nur Gänse

Agathe stand an den Zaun gelehnt, der das kleine Rasenstück mit den schnatternden Gänsen umgab. Sehnsüchtig schaute sie hinüber zur Wiese, wo die Jungs und Mädels Fußball spielten. Denen war nicht kalt, sie rannten und tobten und hatten ihren Spaß. Agathe fror, denn über Nacht war der Winter mit strengem Frost in die Stadt gekommen. Sie bereute, dass sie Omas Rat gefolgt und rausgegangen war. Meist hockte sie in ihrem ZUHAUSE am FENSTER und

schaute dem BUNTen Treiben der anderen Kinder zu. Oder sie las. Am liebsten Tiergeschichten. Gestern hatte ihr Opa ein Buch über IGEL mitgebracht, in das sie jetzt viel lieber reinschauen würde. Ihre Eltern, die den ganzen Tag arbeiteten, meinten auch, sie sei eine Stubenhockerin. Hätte außerdem zu viel Fantasie und dass sie dauernd die Nase in ein Buch steckte, würde das noch schlimmer machen. Es stimmte, Agathe träumte sich oft in die Geschichten hinein, spielte Szenen in Gedanken nach und redete mit den Figuren. Das war allemal besser, als hier draußen in der Kälte rumzustehen.
Nie könnte sie mitspielen mit ihrem

lahmen Bein. Neulich hatte sie Julius gefragt. Doch der hatte nur gemeint: „Nee, du, das wird nichts. Mit deinem Bein kannst du ja nicht rennen. Mit dir verliert jede Mannschaft.“ Eigentlich war er nett, zumindest sagte er hallo oder hej, wenn er sie sah. Und er hatte recht. Agathe konnte wirklich nicht so schnell laufen wie die anderen Kinder. Aber sie war reaktionsschnell. Bestimmt wäre sie eine gute Torfrau. Doch sie hatte sich nicht getraut, Julius diesen Vorschlag zu machen. Alles war blöd. Die Kälte. Ihr Bein, das auch nach mehreren Operationen immer noch steif war. Ihr doofer Name, über den die anderen oft lachten. Sie

beschloss, wieder reinzugehen, egal, was Oma sagte. Plötzlich rollte der Ball von der Wiese auf sie zu. Blieb genau vor ihren Füßen liegen. „He, A-ga-the! Wirf mal her!“, brüllte Torsten. Sie bückte sich, nahm den Ball und hielt ihn fest. „Na los!“ Jetzt schrie auch Lena. „Mach schon!“ Aber Agathe dachte nicht daran. Das fehlte noch, dass sie denen ihren Ball zurückwarf. Sollten die ihn doch holen. Ohne weiter nachzudenken, warf sie die Arme hoch und schmiss den Ball nach hinten über ihre Schulter. Der landete

etwa fünf Meter vom Zaun entfernt auf dem eingezäunten Grundstück mit den Gänsen. „Oh nein!“, brüllte Peter. „Bist du bescheuert?“ Jetzt kamen sechs Kinder auf Agathe zu. Drohend. Aufgeregt. „Sag mal, hast du sie nicht alle?“ Maja schaute sie kopfschüttelnd an. „Wie sollen wir jetzt den Ball wiederbekommen?“ „Holt ihn euch doch.“ Agathe schob trotzig die Unterlippe vor. „Nee du“, Tim runzelte die Stirn. „Zu den Viechern gehen wir nicht rein. Die beißen wie verrückt. Du holst den Ball! Hast es ja verbockt.“ Mit einem wütenden FUNKELN in den Augen

starrte er sie an. Agathe spürte, wie sich ein dicker Klumpen in ihrem Magen sammelte, als die vier Jungs und zwei Mädels einen enger werdenden Halbkreis um sie bildeten. „Das kann nicht euer Ernst sein.“ Sie schluckte. Die würden sie doch nicht zwingen können? Oder? „Doch!“ Lena kam noch einen Schritt näher. Agathe drückte sich mit dem Rücken an den Zaun. „Bitte …“, sie fand keine Worte, spürte, dass sie gleich anfangen würde zu heulen. Bloß das nicht. „Feige bist du auch“, Tim stemmte die Hände in die Seiten, „schaut nur, sie

steht da wie ein armes WÜRSTCHEN.“ „Lasst gut sein. Bringt doch nichts.“ Julius packte Peter an der Schulter. „Ich sag nachher meinem großen Bruder Bescheid, der hat bestimmt eine Idee, wie wir den Ball wiederbekommen können. Spielen wir halt was anderes.“ Sie trollten sich und Agathe atmete auf. Nach einer kurzen Beratung hatten sich die Kinder für ein anderes Spiel entschieden. Anscheinend Fangen. Sie jagten sich wild kreuz und quer über die Wiese. Agathe drehte sich um, die Gänse hatten sich etwas nach hinten verzogen. Nur eine stand direkt am Zaun, kaum einen Meter von Agathe entfernt, und zupfte am Gras. Das Mädchen traute

seinen Augen nicht. Hatte das arme Tier nur ein Bein? Die Gans hob den Kopf, klapperte mit dem Schnabel. Aber Agathe hörte kein Schnattern. Eine zarte Stimme wehte zu ihr herüber. „Warum bist du so traurig?“ Das Tier blinzelte, fixierte Agathe mit seinen blauen Augen. „Ähm … du … du kannst sprechen?“ Agathe kam aus dem STAUNEN nicht heraus, als die Gans den Kopf senkte, was wie ein Nicken aussah. „Aber ja. Nur die meisten Menschen verstehen mich nicht.“ „Und warum hast du nur ein Bein?“ „Eine lange Geschichte, war ein dummer

Unfall. Habe mich daran gewöhnt, auf nur einem Bein herumzuhüpfen. Und du? Dein Bein ist auch nicht in Ordnung.“ Agathe biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich wollte sie nicht darüber reden. Nicht über ihre leichtsinnige Aktion, als sie auf den Baum geklettert und dann aus vier Metern Höhe hinuntergefallen war. Es hatte lange gedauert, die zertrümmerte Kniescheibe wieder zu richten. Noch immer musste Agathe zur Krankengymnastik. Und Schmerzen hatte sie auch immer mal wieder. Es würde besser werden, sagten die Ärzte. Nur wann? Agathe glaubte kaum noch daran. „Wie heißt du?“, fragte sie, um

abzulenken. „Nelly. Und du bist Agathe.“ „Ja, ein blöder Name. Agathe heißen doch nur Gänse. Upps …“, das Mädchen schlug die Hand vor den Mund, „ich wollte dich nicht beleidigen.“ „Schon gut. Ich finde Agathe schön. Und der Name passt zu dir.“ Nelly zupfte ein Grasbüschel aus. „Aber warum bist du so traurig? Dein Bein wird besser werden, du musst einfach daran glauben.“ Es klang fast, als würde Oma reden. Und plötzlich wollte all das aus Agathe heraus, was sie bedrückte. Sie erzählte der Gans von ihrem Kummer. Dass die anderen sie oft nicht beachteten, dass sie die wilden Spiele

nicht mitmachen konnte und dass sie jetzt den Ball holen sollte. „Ich traue mich einfach nicht, bin halt außer einer lahmen Ente auch ein Feigling.“ Sie wischte eine Träne fort, die ihre Wange hinunterlief. Schniefte und zog die Nase hoch. „Unsinn“, sagte Nelly, „es ist schon richtig, dass du vorsichtig bist. Schau, meine Kameraden sind ganz da hinten und ich tue dir nichts. Aber es ist wichtig, dass du das machst, was du für richtig hältst. Du musst niemandem beweisen, dass du mutig bist. Mutig kann auch ein Nein bedeuten.“ Nelly hüpfte ein paar Meter weg. Agathe überlegte. Sollte sie es wagen?

Über ihren Schatten springen? Schon einmal war sie leichtsinnig gewesen und hatte dafür bezahlt. Sie erkletterte den halbhohen Zaun, krallte sich oben fest. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass die sechs Kinder ihr Fangenspiel unterbrochen hatten und näher kamen. „Nicht, Agathe, lass das.“ Julius hob die Hand, schüttelte den Kopf. Agathe zögerte. Es war riskant. Sie hielt nach Nelly Ausschau, doch die war verschwunden. „Bitte“, sagte Lena, komm da runter.“ Agathe fasste einen Entschluss. MUCKSMÄUSCHENSTILL standen die Kinder da und starrten sie an, wie sie am Zaun

herunterrutschte. „Auch wenn ihr mich für feige und blöd haltet, ich wäre bescheuert, da jetzt rüberzuklettern wegen einem Ball. Nelly …“ Erschrocken hielt sie inne. „Nelly?“ Torsten schaute sie an, kam einen Schritt auf sie zu. „Egal“, sagte Agathe, „es tut mir übrigens leid, dass ich euren Ball zu den Gänsen geworfen habe.“ „Schwamm drüber.“ Julius grinste. „Menno, das war verdammt mutig von dir, nicht zu den Viechern zu gehen.“ Die anderen nickten. „Mutig? Wieso?“ Agathe verstand nicht, was Julius meinte. „Na ja, es gehört schon Mut dazu, sich

gegen sechs andere zu stellen, die dich feige genannt haben. Oder?“ Lena schaute die anderen fragend an. Einer nach dem anderen nickte. „Leider könnt ihr jetzt nicht mehr Fußball spielen.“ Agathe strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Wie wär's denn mit Verstecken?“ Tim kam einen Schritt auf Agathe zu. „Hast du Lust?“ „Ich weiß nicht, ob …“ „Nichts da!“, rief Maja, „keine Ausrede. Du machst mit.“ Sie hakte sich bei Agathe unter und zog sie weg vom Zaun. Agathe spürte ihr Herz klopfen. Aufregung? Sicher, aber vor allem Freude. Sie drehte sich zur Gänsewiese,

gern hätte sie Nelly ein Dankeschön zugerufen. Doch die Gans blieb verschwunden.

Impressum

Text: Enya Kummer
Bildnachweis/Cover: Pixabay

0

Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden. Letztes Jahr wurde mein erstes autobiografisches Werk veröffentlicht: Wenn der Raps blüht.
Zurzeit arbeite ich an der Fortsetzung. Arbeitstitel: Storchenjahre.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig.
Inzwischen genieße ich das Rentendasein und die Beschäftigung mit meinen Enkelkindern. Ich bin außerdem als Lektorin und Korrektorin tätig.

Leser-Statistik
14

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
MerleSchreiber Ich habe deine Geschichte mehrmals gelesen, liebe Enya. Und mit jedem Mal wuchs sie mir stärker ans Herz. Es gibt so viele Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen unsicher sind. Und je länger das andauert, desto mehr verfestigt sich ihr Glaube, nicht mithalten zu können und nicht gut genug zu sein. Deine Geschichte zeigt auf, was eine Bestätigung, ein Mut machendes Wort und eine entsprechende Geste bewirken kann.
Vielen Dank dafür und herzlichen Glückwunsch zum Battlegewinn.
Alles Liebe und frohe Festtage, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Merle,
von Herzen Dank für deine Worte, die mir aus der Seele sprechen. Fast mein ganzes Berufsleben bin ich immer wieder Kindern wie Agathe begegnet, habe diese Ängste erlebt, Ausgrenzungen gesehen, die gedankenlos waren.Und ja, manchmal genügen Kleinigkeiten, um diesen Kindern Mut zu machen.

Ich freue mich wirklich sehr über den Battlegewinn, mehr aber noch, dass meine Geschichte angekommen ist.

Ich wünsche dir und deinen Lieben ein friedliches Weihnachtsfest - einfach mit schönen Momenten, die wir doch so brauchen.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Valerina 
Eine wunderschöne Geschichte, liebe Enya.
Wieder so einfühlhaft geschrieben, wie ich es so sehr liebe :)

Lieber Gruß
Valeri
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Das freut mich sehr, liebe Valeri. Ganz herzlichen Dank.
Ich schreibe meine Kindergeschichten für meine Enkel. Meist bekommen sie eine zum Geburtstag.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Valerina 
Ein wunderschöne Idee, liebe Enya.
Ich habe auch ein paar Geschichten und einige Gedichte von meiner Oma in einem Kästchen aufbewahrt.
Am Nachmittag besuche ich sie und dann nehme ich das Kästchen mit, bin gespannt, ob sie sich erinnert :)
Nochmals liebe Grüße!
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer Eine tolle Geschichte, liebe Enya.
Aber warum ist sie nur ein Randbeitrag? Das ist wirklich schade!
Liebe Grüße
Angie
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Moin, liebe Angie, ich danke dir. Freut mich, wenn dir die kleine Geschichte gefällt.
Ich habe früher öfter an solchen Wettbewerben teilgenommen, ist im Moment nicht so meins.
Aber die Aufgabe, eine Kindergeschichte zu schreiben, hat mir gefallen. Hätte sogar noch eine Idee.
'Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
PuckPucks Mensch, Mensch, Mensch, wo gibt`s denn so`ne Nelly?
Ich glaub, wenn wir wissen, liebe Enya, wie jeder von uns den Kontakt zu seiner persönlichen Nelly herstellen kann....., ach, das wäre so schön und so viel Leid weniger.
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Judith,
jaaaa, ich denke, wenn wir es unserem inneren Kind erlauben, sich öfter zu melden, könnte auch eine Nelly dabei sein.
Hab herzlichen Dank.
Liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Loraine Liebe Enya -

eine wunderbar anmutende Geschichte für Kinder - sinnig und einfühlsam geschrieben. Schöne Erzählbilder und feiner Wandel der Kindertränen verstehend trocknet und Lächeln zaubert.
Liebe Grüße
Loraine
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
19
0
Senden

168295
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung