Kurzgeschichte
das interview

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"das interview"
Veröffentlicht am 29. November 2021, 34 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht: Der Winter ist ein Bösewicht, die Bäume tragen Schneegewicht, die Stämme sind kahl und so schwarz wie ein Pfahl, die Felder sind weiß und auf dem See liegt Eis. In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.
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Das Interview - Nachspiel zu Enescu

Der Applaus brandete im hell erleuchteten Saal auf. Er verbeugte sich mit glühenden Wangen und sein schulterlanges, dunkles Haar wirbelte umher. Er hatte es geschafft! Er war endlich, was er sein wollte: ein Komponist. Traumhaft schien ihm, was da passierte. Noch fremd war ihm der Name, den die Menge frenetisch von den Rängen rief: »George Enescu!« Dirigent und Orchesterchef legten ihm anerkennend die Hände auf die Schultern. Das gesamte Kollegium stand und die Musiker klopften mit ihren Instrumenten oder der flachen Hand auf

ihre Notenpulte. Während er sich ein ums andere Mal vor seinem Publikum verneigte, hielt er die Geige fest in den Händen und suchte die Reihen im Saal ab. Georges Miene entspannte sich, als er in der Loge Massenet und Fauré begeistert klatschen sah. Elena Bebescu, seine Gönnerin und eine gute Freundin seiner Lehrer, beugte sich gerade zu Massenet. George glaubte, in ihrem Gesicht lesen zu können. »Jules, ich habe es doch gewusst! Dieser junge Mann ist jeden Sou wert!« Wie stolz sie sind, ging ihm durch den Kopf, dabei habe ich nur getan, was in mir ist. »Ein neuer Stern am Musikhimmel ist aufgegangen«, titelten tags darauf die

Feuilletons nicht nur in Paris. »Mit Poeme Roumaine Nr. 1 setzt ein Siebzehnjähriger einen Meilenstein nicht nur bei den Colonne Concertes, nein, für die gesamte Musikwelt. Man merke sich den 6. Februar 1898 und den Namen George Enescu …«. Françoise Tuller lehnte sich in ihrem Sessel zurück und verschränkte die Arme. »Wer ist dieser Junge überhaupt?«, fragte sie in Richtung Monsieur Arthur Bertránd, den dicklichen Chefredakteur, dem sie im Büro gegenübersaß. »Was fragen Sie mich, Françoise? Reden Sie mit ihm. Am besten gleich heute noch, ehe sein Stern verglüht, kaum dass

er am Firmament aufgegangen zu sein scheint. Es ist ihr erster Akt, also vermasseln Sie ihn nicht. Sie können das doch, oder?« Sein schmieriges Grinsen und der abschätzige Blick auf ihr Dekolleté gingen ihr auf die Nerven. Françoise nahm ihren Notizblock und erhob sich. »Wie Sie meinen, Monsieur Bertránd. So berühmt, wie er jetzt ist, wird es bestimmt nicht einfach, einen Interviewtermin zu bekommen.« »Wenn Sie sich richtig ins Zeug legen, ganz sicher. Wer kann Ihrem Charme schon widerstehen? Ich verlass mich auf Sie, Mademoiselle Françoise.« Seine feistes Gesicht mit den kleinen grauen

Augen verzog sich zu einer unerträglich grinsenden Visage und seine dicken Finger klopften im Rhythmus ihres Herzschlags auf die Schreibtischplatte. Françoise schüttelte es innerlich. Sie straffte ihre Schultern. Wenn ich könnte, wie ich wollte ... »Okay, ich werde ihn schon zu fassen kriegen.« »Wenn nicht, können Sie sich eine neue Stelle suchen. Am besten in einem Gewerbe, das Ihnen besser zu Gesicht steht.« Als sie die Tür schloss, atmete sie erleichtert auf. »Auf ihn mit Gebrüll!« Ganz Paris schien auf den Beinen zu sein. Françoise lenkte ihre Schritte rasch

von der Metro durch die Menschenmenge, die auf dem Trottoir in den Feierabend wallte, zu dem Café, in das Massenet sie eingeladen hatte. »Dort können Sie George gerne interviewen. Ich werde Sie nicht stören, aber der Junge ist noch so schüchtern, dass er meine Anwesenheit wünscht.« Sie trat auf die beiden Männer zu, die sich bei ihrem Eintreffen erhoben hatten, und reichte dem Älteren zuerst die Hand. »Bonjour, Monsieur Massenet.« Dann blickte sie in Georges jungenhaftes Gesicht und begrüßte ihn ebenfalls. Obwohl sie wenige Jahre älter war, überragte er sie fast um Haupteslänge. »Bonjour. Es ist mir eine Freude und

eine große Ehre, dass Sie mit mir reden wollen, Monsieur Enescu.« »Für mich ist es ein großer Schritt, Mademoiselle Tuller.« George verneigte sich. »Aber nennen Sie mich doch bitte George.« »Wir werden schon zurechtkommen, denke ich. Für Sie bin ich Françoise.« Sie nahm den ihr angebotenen Platz und betrachtete aufgeregt wie ein Schulmädchen den jungen Mann, der fast noch ein Kind schien. Groß gewachsen, schlank, dunkles Haar und ein fein gezeichnetes Gesicht. Seine langen, schlanken Finger nestelten nervös an der Kante des Bistrotischs herum. So erwachsen sie ihn am Abend zuvor erlebt

hatte, so zurückhaltend saß er jetzt mit schmalen Schultern vor ihr. »Wie fühlt sich das an, über Nacht zum Mittelpunkt der Welt erklärt zu werden? Und vor allem: Woher kommt ihre Begabung für derartige Musik, die wie ein Paukenschlag in die Stille eingeschlagen hat?« »Nun, für mich hat sich nichts geändert, ich mache, was ich mein Leben lang getan habe. Ich mache Musik.« George fasste sich und in seiner Stimme lag nur noch ein Hauch der anfänglichen Unsicherheit. In seinen Augen entdeckte sie ein verschmitztes, aber auch sinniges Glitzern. »Es freut mich, dass Sie danach fragen. Ich bin voll mit Musik und

schreibe aus dem Herzen. So darf es ruhig weitergehen.« »Was sagen Ihre Eltern dazu? Sind sie stolz auf ihren Sohn?« »Ich denke schon, sie haben mir diesen Weg ermöglicht. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.« »Warum sind Ihre Eltern nicht hier in Paris, bei so einem großen Ereignis?« Françoise sah George erwartungsvoll an. Wenn meine Eltern bei so einem Ereignis fehlten, wäre ich mehr als enttäuscht, dachte sie bekümmert. »Es wäre eine weite Reise für sie gewesen, fast vom anderen Ende der Welt. Meiner Mutter geht es derzeit nicht gut, da blieb mein Vater auch lieber

zuhause.« »War die Musik der Grund, ihrer Heimat den Rücken zu kehren?« Françoise sah auf ihre Notizen, der Block füllte sich. Die anfängliche Aufregung und Unsicherheit hatte routiniertem Arbeiten Platz gemacht. Sie spulte ihre Fragen ab und notierte Stichpunkte. »Meine Möglichkeiten in Rumänien waren begrenzt. Wien war nur der erste Schritt, Paris eine logische Konsequenz.« George errötete leicht. »Sogar meinen Namen musste ich aufgeben, damit mein Publikum es leichter hat. Aber was tut man nicht alles, um Musik zu machen ...« »... und berühmt zu werden«, vollendete Françoise seinen Satz. »Etwas anderes

beschäftigt mich: Wo kommen Sie her? Was war Ihr Leben? Wie wurden Sie, was Sie heute sind?« »Françoise, ich komme aus einfachen Verhältnissen. Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern, was wohl erklärt, dass sie all ihre Fürsorge auf mich lenkten. Eigentlich hätte ich gern Geschwister gehabt, aber das Schicksal hat es nicht gewollt.« »Wie sind Sie aufgewachsen? Ist es in Rumänien anders als Frankreich?« »Wenn es Sie interessiert, mein Elternhaus liegt in einem kleinen Dorf am Ende der Straße. Man kann es nur mit Mühe zwischen einem Akazienwäldchen und dichten Haselnusssträuchern

entdecken. Es ist einstöckig, hat ein Dach aus alten Holzziegeln und weiß gekalkte Mauern. Der Front entlang läuft eine schmale, blau angestrichene Galerie, wo ungezählte Zwiebeln zum Trocknen aufgehängt werden. Und ja, Rumänien ist anders – Ich bin mit der Erde verwurzelt, auf einem Boden voller Sagen und Legenden geboren. Mein ganzes Leben verlief unter dem Einfluss der Götter meiner Kindheit, deren Umgang mir manch strengen Hinweis fürs Leben gab.« »Darf ich das so zitieren, Georges?« Françoise schrieb fleißig mit, blickte aber immer wieder auf. Er nickte. »Natürlich, Françoise. Es macht Spaß

Ihre Fragen zu beantworten. Sie sind so anders als die Fragen Ihrer Kollegen.« Sie lächelte nervös in sich hinein. Bei der Vorbereitung auf dieses Interview hatte sie feststellen müssen, dass es so gut wie keine verwertbare Information über George, geboren als Jurjak Enescu, gab. Sie wollte aber nicht nur mit Fakten dienen, sondern ein buntes Bild dieses aufstrebenden Künstlers zeichnen. Sie fuhr fort: »Sie sind mit sieben Jahren nach Wien gegangen? Das ist bestimmt nicht leicht für Sie gewesen, oder?« »Nicht wirklich, Françoise.« George sah sie freundlich an. »Ich war noch so jung und meine Eltern so fern.« »Das muss auch für Ihre Mutter

schrecklich gewesen sein.« Françoise nippte an der Limonade und blätterte eine Seite in ihrem Notizblock um. »Ja, ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen.« Georges Blick ging hinaus auf die Straße. »Ich war gerade in die Schule gekommen, da waren wir bei einem Professor in Iasi. Ich habe ihm vorgespielt und er meinte, dass ich nach Wien ans Konservatorium wechseln soll. Meine Mutter fand, ich sei doch noch so jung. Sie fing an zu weinen und ich fühlte mich plötzlich schlecht. Wie sollte ich sie verlassen können? Der Professor antwortete ihr, er glaube fest daran, dass in mir mehr steckt. Es sei ein Wunder, dass ich so leicht lernte. Und meine

Lieder gefielen ihm ausnehmend gut. Wenn seine anderen Schüler sich krampfhaft bemühten und lange nicht vom Fleck kämen, wäre ich schon kilometerweit weggeflogen.« »Haben Sie da schon gespürt, etwas Besonderes zu sein, George?« »Für mich war das normal. Ich wollte immer nur Geige spielen.« George lächelte sie an. »Wien war für mich ein großes Abenteuer, Françoise. Ich schloss mich sogar einem Wanderzirkus an, um die Welt zu sehen.« »Sie haben ihre Studien einfach abgebrochen?« Françoise warf einen erstaunten Blick über den Blockrand zu

George. »Nein, natürlich nicht. Man hat mich ganz schnell wieder eingefangen und nach ein paar Tagen im finstren Kerker wieder ans Spielpult gekettet.« George lachte amüsiert über Françoises komischen Gesichtsausdruck. »Keine Sorge, dieser Ausflug hat mir nicht geschadet. Nur die Tränen meiner Mutter trage ich heute noch in mir, sie sind die Perlen, aus denen ich mich und meine Musik nähre.« »Und Ihr Vater? Wie hat er es erlebt, einen so begabten Sohn zu haben?« »Nun, ich erinnere mich noch, dass ich eines Tages eine Gruppe Gaukler in unserem Dorf gehört habe. Sie spielten

auf Geigen und Trompeten, was damals so gespielt wurde. Der Geiger hatte es mir angetan. Ich wollte auch so spielen können.« »Wie alt waren Sie da? Und wie ging es weiter?« »Da muss ich gerade noch drei gewesen sein. Ich habe mir ein eigenes Instrument in der Werkstatt meines Vaters gebastelt. Einfach und nicht wirklich schön, aber ich habe meine kleine Geige geliebt. Mein Vater bekam das natürlich mit, weil ich den ganzen Tag auf dem Hof fiedelte. Er fragte mich, ob ich eine richtige Geige haben wollte. Da konnte ich doch nicht Nein sagen, oder? Wenig später zu meinem vierten Geburtstag bekam ich

eine. Doch irgendwie hatte mein Vater mich nicht richtig verstanden. Sie hatte nur drei Seiten!« »Und was haben Sie gemacht?« Françoise lächelte, während sie sich seine Erzählung vorstellte und zugleich Stichpunkte für ihren Artikel notierte. »Ich habe sie im hohen Bogen ins Feuer geschmissen«, antwortete George und lachte dabei, »und habe meinen Eltern gesagt, ich wolle eine richtige Geige, oder eben keine. Wenig später bekam ich eine kleine Geige mit vier Saiten und mein Vater brachte mir die ersten Stücke bei. Wie Sie ja wissen, ist er Geigenbauer und unterrichtet auch. Allerdings lernte ich zuerst, auf einer

einzelnen Saite zu spielen.« »Das kann ich mir gut vorstellen, Georges. Da hätte die Geige mit drei Saiten doch auch gereicht.« Françoise sah den kleinen George mit der Geige unterm Kinn. Sie glaubte sogar, seine ersten Spielversuche zu hören, und schmunzelte in sich hinein. »Das stimmt schon, aber ich wusste da schon, dass ich Geiger werden und eine richtige Geige spielen wollte.« »Und mit Professor Hellmersberger von der Wiener Akademie hatten Sie sicher einen guten Ziehvater, oder?« »Ja, er hat mir nicht nur das Spielen beigebracht, sondern auch zu leben, wo ich auch bin. Und nun bin ich hier in

Paris, ein Musiker, wie ich immer sein wollte. Dank Messieurs Massenet und Fauré.« »Sie haben sich gut eingefunden in die Gesellschaft? Hier erzählt man sich so allerhand. Ihnen sagt der Name Maruca sicher was.« »Ja, eine rumänische Prinzessin, ich habe sie auf einem Hauskonzert kennengelernt.« Françoise entging nicht, dass seine Wangen einen rötlichen Schimmer bekamen. Ob sich da etwas anbahnte, fragte sie sich, traute sich aber nicht, die Frage zu stellen. Wahrscheinlich würde Bertránd ihn jetzt genau darauf festnageln, dachte sie verärgert, nur um

der Pointe willen. So wollte sie jedoch Journalismus nicht verstehen. Für sie stand an erster Stelle der Mensch, der hinter seiner Geschichte steckt, und nicht der Voyeurismus mancher ihrer Kollegen nur um der Sensation oder der Auflage willen. »Wie erklären Sie Ihren Erfolg, George? Nicht erst seit gestern setzen Sie Maßstäbe, Sie werden hofiert und spielen, als gäbe es kein Morgen. Sind Sie ein Wunderkind, oder ist es einfach nichts weiter als Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit?« »Darauf antworte ich Ihnen mit einer Gegenfrage, Françoise. Wenn Sie tun, was in Ihnen ist, würden Sie es als

Arbeit empfinden? Wenn Sie schreiben, schreibt auch Ihr Herzblut mit, oder?« »Zwei Fragen, George, eine Antwort. Die Arbeit für das Magazin ist mein Beruf, meine Liebe aber gilt der Poesie. Aber zurück zu Ihnen, George. Welche Pläne gibt es hinsichtlich Ihrer Musik? Was kommt als Nächstes? Verschlägt es Sie doch noch ans Dirigentenpult?« »Im März dirigiere ich erstmals in Bukarest im Athenäum mein Werk. Darauf freue ich mich, vor allem weil ich bei dieser Gelegenheit auch meine Eltern wiedersehen werde.« »Ganz sicher wird Ihr Konzert auch in Rumänien viele Freunde finden. Ich wünsche es Ihnen von Herzen und danke

Ihnen für Ihre Offenheit. Ich werde Ihr Wirken sicher weiter verfolgen. Und Sie können schon bald über unser Gespräch im Magazin nachlesen.« Hoffe ich, dachte Françoise und erhob sich mit einem Lächeln. Massenet, der am Nebentisch das Gespräch verfolgt hatte, trat auf sie zu. »Das haben Sie ja fein eingefädelt, Mademoiselle. Es hat mir Spaß gemacht, Euch zuzuhören.« »Vielen Dank für die Gelegenheit zu diesem Gespräch, Herr Massenet. Au revoir, George.« »Und das ist alles, was Sie mir anzubieten haben, Mademoiselle!« Monsieur Bertránd war außer sich. Mit

puterrotem Kopf schnappte er wie ein Karpfen nach Luft. Dabei wedelte er mit den Papieren vor Françoise Nase herum, bevor er sie ihr vor die Füße warf. »Das ist alles, was Sie aus diesem Jüngling herausgeholt haben? Das ist nicht Ihr Ernst, Mademoiselle!« »Ich verstehe nicht, Chef.« Sie hob ihren Artikelentwurf auf. »Ein paar Anekdoten habe ich doch aus ihm herausgekitzelt.« »Papperlapapp! Als ob die Leser das wissen wollen! Françoise, Ihnen hätte ich mehr zugetraut. Oder ist er nicht Ihr Typ?« »Das tut nichts zur Sache, Monsieur.« Sie versuchte Haltung zu bewahren, obwohl sich Tränen in ihren Augen

sammelten. Daran gewöhne ich mich wohl nie, dachte sie empört. »Ich kann doch nicht einfach etwas dazu erfinden, nur weil Sie sich andere Antworten erhofft haben!« »Das ist langweiliger Müll, Françoise.« Arthur Bertránd beruhigte sich, seine Stimme klang weniger unbeherrscht. »Benutzen Sie Ihre Kreativität, seien Sie mutig und entschlossen. Dann wird ein Schuh draus. - Und die Leser werden es Ihnen danken, nicht mit belanglosen Einzelheiten gequält zu werden. Schreiben Sie einen Artikel, der mich vom Hocker reißt. Dann sehe ich für Sie eine große Zukunft in unserem Magazin. Und jetzt raus

hier!« Françoise verließ wie ein geprügelter Hund sein Büro. Ihren Kollegen war der Wutausbruch des Chefredakteurs nicht entgangen, aber ihr Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Auch ihnen war er schon manches Mal über den Mund gefahren. Sie erntete stilles Bedauern und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken. Was soll ich nun machen, dachte sie enttäuscht und zugleich wütend. Sie ärgerte sich mehr über sich selbst, dass sie Monsieur Bertránd gegenüber so wenig selbstbewusst aufgetreten war. Ihre Story las sich gut, und sie fand, sie traf genau den Kern. Sie war sich vorher schon im Klaren gewesen, dass es nicht

leicht sein würde, über einen Menschen zu schreiben, der so jung noch, an sich ja kaum etwas hergab, außer seiner Einzigartigkeit als Musiker und Komponist. Die wenigen Fakten hätten in wenigen Zeilen aufgelistet sein, aber den Menschen dahinter hätte sie damit nicht skizzieren können. Sie erinnerte sich gern an die Stunde im Café. George war nett und die Atmosphäre anregend gewesen. Seine Schilderungen entbehrten nicht einer gewissen Komik. Sie sah ihn jetzt noch vor sich, zuerst schüchtern und ein wenig einsilbig. Mit der Zeit war er aufgetaut und hatte das Bild von einem kleinen Jungen entstehen lassen, der nichts weiter wollte, als Geige

spielen und Lieder erfinden. »Es wäre mir eine Freude, diesen Artikel in die nächste Ausgabe zu nehmen.« Monsieur Venneur gab Françoise mit einem Lächeln ihre Mappe zurück. »Einzig die paar Flüchtigkeiten sollten Sie noch korrigieren. Und es wäre schön, dem Artikel ein Foto von Enescu beizufügen. Vielleicht können Sie ja nochmal mit ihm zusammenkommen, bevor er nach Bukarest aufbricht. Und Sie, Monsieur Bertránd, halten sich in Zukunft ein wenig zurück. So ein Verhalten dulde ich nicht! Und jetzt raus hier, alle beide, ich habe zu tun.« Françoise wusste nicht, ob sie lachen

oder weinen sollte. Das Lob des Verlagschefs ging ihr wie warmer Honig runter, ebenso wie die kalte Dusche für ihren Abteilungsleiter. Auf dem Flur meinte sie: »Es tut mir leid, Monsieur Bertránd, aber ich fühlte mich ungerecht behandelt. Sie verstehen sicher, dass ich mich dagegen verwahren musste.« »Ist schon recht, Françoise« Bertránd reichte ihr die Hand, »ich habe manchmal einen schlechten Tag. In Zukunft machen wir das Beste draus, ja? Ich weiß, was Sie können. Und das andere bringe ich Ihnen bei. Wenn sie möchten, Françoise.« »Dieses Angebot kann ich nicht ausschlagen, Monsieur Bertránd.« Sein

Händedruck war warm und fühlte sich gut an. »Ich schreibe den Artikel fertig und versuche, einen Fototermin zu bekommen.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, übernehme ich das für Sie. Ich schicke einen Fotografen raus. So ist das Bild bis zum Druck fertig und Ihr Artikel kann in die nächste Ausgabe. Das kriegen wir gemeinsam hin.« »Das wäre sehr nett, Monsieur Bertránd.« Sie wollte ihm diese Freude nicht nehmen, obwohl sie sich gerne selbst nochmal mit George Enescu getroffen hätte. »Sie haben den Artikel rechtzeitig vor Druck, Monsieur

Bertránd.« »Aber gern, Mademoiselle.« Und diesmal klang es nicht mehr so von oben herab. Monsieur Bertránd war an seinem Büro angekommen. »Wir sehen uns dann später, Françoise.« »Un café, s’il vous plaît«, rief George dem Kellner des Cafés zu und setzte sich an einen Tisch mit Blick über die Champs Elysée. Kaum drei Tische waren bei diesem Wetter besetzt, ältere Herren in Anzügen, deren Köpfe hinter Zeitungen steckten. »Haben Sie etwas zu lesen für mich?« Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen. Bald schon würde er zu

seiner ersten Konzertreise aufbrechen. »Der ganze Rummel macht mich noch nervös«, murmelte er. »Dass meine Musik so einen Anklang findet, damit habe ich nicht gerechnet. Aber es fühlt sich gut an. Mal sehen, wohin mein Weg noch führen wird.« Die Erinnerung an sein Debüt und die nachfolgenden Tage mit weiteren Proben zu seinem Konzert, insbesondere die vielen Stunden, in denen er zusätzlich vor dem Spiegel sein Dirigat übte, hatten ihn angestrengt. Aber der Erfolg verlieh seinen Gedanken Flügel und Dutzende neue Melodien schwirrten in seinem Kopf. Er würde sie alle aufschreiben, später. Der Kellner brachte ihm das Gewünschte.

»Bitte schön, Monsieur Enescu. Übrigens ein ganz interessanter Artikel über Sie. Da erinnere ich mich sogleich wieder gerne an das Konzert.« »Merci.« Auf dem Titel des Magazins prangte sein Foto, und darunter stand zu lesen: »George Enescu – ein virtuoser Tanz auf vier Saiten. Lesen Sie exklusiv das Interview von Françoise T. ab Seite 12.«

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Über den Autor

KatharinaK
Ich erinnere mich noch gerne meiner allerersten Zeilen - ein Schulgedicht:
Der Winter ist ein Bösewicht,
die Bäume tragen Schneegewicht,
die Stämme sind kahl
und so schwarz wie ein Pfahl,
die Felder sind weiß
und auf dem See liegt Eis.
In den seither vergangenen Jahrzehnten hat sich mein Schreibstil sicher geändert - ist erwachsen geworden -, aber die Freude am Schreiben ist ungetrübt.

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PuckPucks Hallo, liebe Katharina,
du lässt mit deiner Sprache, deiner Wortwahl eine kleine Welt entstehen. Hat mir richtig gut gefallen. In der Geschichte steckt in der Tat noch einiges, wie du Louis geschrieben hast: Die rumänische Prinzessin interessiert mich brennend und warum Mr. Bernard, nachdem er einen auf den Deckel gekriegt hat, plötzlich vom Saulus zum Paulus wird; welche Leiche hat er wohl im Keller?
Danke für die Reise
Viele Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Das Interview..."
Mit dieser wirklich schön geschriebenen
und sehr eloquent verfassten Geschichte hast Du mir den Enescu
gleich noch mal ein Stückweit näher gebracht... ...smile*
Wunderbare Wortwahl, eingebettet in eine kleine redaktionelle Rahmenhandlung eines Pariser Zeitungsblattes... ...smile*
Wobei es mir den Chefredakteur, diesen Monsieur Bertránd, nach diesen Anranzer von dessen Verlagschef Venneur, auch im Nachhinein nicht unbedingt sympathischer machen muss...
Dennoch habe ich in der Tat deine feine Interview-Geschichte sehr gern gelesen, liebe Katharina...
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
KatharinaK Das freut mich ehrlich. Die Journalistin gab es wirklich, nur nicht das Interview. Habe diese Story vor dem Schalganfall geschrieben und endlich einmal ausgekramt. Vielleicht taugt sie ja für mehr, wenn ich es auch tu. Derzeit eher ein Traum. Danke für das Löbliche, es erreicht mich. Liebe Grüße. Katharina
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