Einleitung
Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.
Rainer Maria Rilke
Frank Rochner schloß die Eingangstür hinter sich, lehnte die Aktentasche gegen einen Garderobenschrank, obwohl es dafür eine eigene Nische in der Vorzimmereinrichtung gab, hängte Mantel und Schal an einen Haken und streifte die Schuhe ab. Immer noch war der Geruch des Penthaus fremd für ihn, obwohl er nun bereits über ein Jahr hier wohnte.
Frank Rochner war das , was man wohl als gutaussehend bezeichnen musste: Groß, schlank, dunkelhaarig mit ersten Spuren von Grau an den Schläfen, blauäugig, mit sonorer Stimme und überwältigendem Selbstbewußtsein ausgestattet. Nach dem Studium hatte er mit Beratungstätigkeit im
Finanzsektor ein kleines Vermögen verdient (nein, er war nicht der Typ, der das Ersparte der Kleinanleger verzockte, Beratung im Risikoausgleich für die erste und zweite Ebene der Bankmanager war sein Geschäft) und nun, in seinen frühen Vierzigern kam er langsam in die Lage, die Früchte der Anstrengungen früherer Jahre genießen zu können.
Und zu dem, was er sich unter genießen vorstellte, gehörte auch dieses Penthaus. Hier wohnte man nicht, hier residierte man. Eine unverschämt gute Lage mit unverschämt großartiger Aussicht, ausgestattet mit unverschämt schicken Designermöbel allerdings auch zu einem unverschämt teuren Preis. Hier war sein Refugium, zu dem andere
keinen Zutritt hatten. Nicht mal Frauen, von denen es zwar genügend gab in seinem Leben, die sich aber in seiner Prioritätenliste dennoch mit den unteren Rängen zufrieden geben mussten.
Frank überblickte beim Eintreten kurz das Wohnzimmer, nahm zufrieden zur Kenntnis, dass die Haushaltshilfe alles bestens in Schuß gehalten hatte und überflog kurz die Nachricht, die sie ihm am Couchtisch hinterlassen hatte, mit den Hinweis, daß der Kühlschrank gefüllt war und eine Mahlzeit in der Mikrowelle der Erwärmung harrte. Er ging zum Kühlschrank, nahm ein Bier heraus, öffnete es und nahm einen tiefen Schluck. Da das Penthaus so angelegt war, daß die ganze Wohnung mit Ausnahme des Schlafzimmers
und der Sanitärräume eine große zusammenhängende Fläche war, hatte er auch von hier aus einen phantastischen Blick über die Stadt, welche gerade in der Abenddämmerung versank. Frank war zufrieden. Und er hatte allen Grund dazu.
Frank Rochner ging, das Bier in seiner Hand, rüber an den Schreibtisch, wischte mit einer kurzen Bewegung der Maus den Bildschirmschoner weg und überflog die E-Mails, die im Laufe des Tages an seiner Privatadresse eingelangt waren: Ein Terminvorschlag der Hausverwaltung für eine notwendige Reparatur an einer der Jalousien, da konnte sich die Haushaltshilfe drum kümmern. Eine Einladung zu einer Vernisage von einer Galleristin, von der er wußte, daß sie
ihn liebend gerne in ihrem Bett vorfinden würde, nur war die Dame absolut nicht nach seinem Geschmack. Zwei, drei geschäftliche Anfragen, die irrtümlich an seine private Adresse gesendet worden waren und die er sofort an seine Sekretärin weiterleitete. Viagra zum Sonderpreis, genauso unvermeidlich wie die Angebote nigerianischer Geheimratswitwen, Schwarzgeld weiß zu waschen. Eine Nachricht seiner Schwester Melanie, die ihn daran erinnerte, daß in zwei Wochen ein großes Fest zum Siebziger ihrer beider Mutter stattfinden würde, und das er um Himmels Willen nur ja nicht auf das Erscheinen vergessen solle. Um das Geschenk würde sie sich schon kümmern, und wenn tausend Euro zu viel wären, dann solle er sich melden. Nein, liebes
Schwesterherz. Tausend Euro waren perfekt und insgeheim war er erstaunt, so günstig davonzukommen.
Immer noch das Bier in der Hand machte er kehrt und stellte sich an eine der raumhohen Glasscheiben, welche das Penthaus gegen Süden hin begrenzten. Obwohl er nicht gerade schwindelfrei war, liebte er es, hier an der Kante des Gebäudes zu stehen und nur durch eine Glasscheibe vom Absturz getrennt nach unten zu sehen, wo Menschen und Autos einem Ameisenhaufen nicht unähnlich herumwuselten. Es gab ihm dieses Gefühl, über den Dingen zu stehen.
Pling. Das kleine Geräusch, mit dem sein Computer ihn darauf hinwies, daß neue Post
eingelangt war, riß ihn aus seinen Betrachtungen. Er überlegte kurz, ob er sich überhaupt die Mühe des sofortigen Nachsehens machen sollte. Schließlich erwartete er keine Nachricht und auch die paar Schluck Bier begannen auf ihn, der im Trinken keine besondere Übung hatte, Wirkung zu zeigen und Müdigkeit zu erzeugen. Dennoch siegte letztlich die Neugier und er schlenderte rüber an den Schreibtisch und sah nach. Pling. Absender verlangt Empfangsbestätigung. Frank negierte dieses Verlangen, da er derartiges als grundsätzlichen Eingriff in seine Privatsphäre betrachtete.
Betr.: Terminbestätigung
Sehr geehrter Hr. Dr. Rochner,
gerne bestätige ich Ihnen unseren Termin am 27. d. M. Um 20:42. Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, daß keinerlei Vorbereitungen nötig sind, alle Arbeiten werden von meiner Organisation übernommen. Dennoch könnte es für die Hinterbliebenen von Vorteil sein, irdische Belange im Vorfeld zu regeln. Insbesondere möchte ich die Möglichkeit eines notariell beglaubigten Testaments erwähnen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Der Tod
Er las die Buchstaben, verstand die Worte, und dennoch ergab der Text für ihn keinen zusammenhängenden Sinn. Er las die Nachricht also ein zweites Mal, schüttelte den Kopf und gelangte zur Erkenntnis, daß sich da jemand einen üblen Scherz erlaubt haben musste. Die einzig zulässige Interpretation des Gelesenen war nach wie vor, daß ihm hier jemand seinen eigenen Tod für den 27. des Monats ankündigte. Ginge es nach dieser Nachricht, so hatte er also noch knapp zwei Wochen zu leben.
Wer verschickt solchen Unsinn? Ihn, den technisch Versierten und Aufgeklärten konnte man damit nicht schrecken. Was aber, wenn ein altes, klappriges Mütterlein eine solche
Nachricht erhielt? Andererseits, alte, klapprige Mütterlein lesen eher selten elektronische Post. Mal sehe, wie lautet eigentlich die Absenderadresse? tod@jenseits.org , wie geschmacklos. Frank wußte, daß nichts leichter zu fälschen ist, als die Absenderadresse einer E-Mail. Also hielt er sich an das einzig glaubwürdige Faktum elektronischer Post, die IP-Adresse des Absenders und versuchte diese aufzulösen. Sein Computer brach die Routenverfolgung in der Domäne gmail.com ab. Na bitte, da haben wir den Beweis, dachte er. Der Tod wird wohl kaum Google benutzen. Frank zögerte kurz, entschied sich aber dann, den üblen Scherz nicht weiterzuverfolgen und die Nachricht einfach zu löschen.
Drei Tage waren vergangen, die merkwürdige Nachricht längst vergessen, als Frank Rochner neuerlich Nachricht vom Tod in seinem Posteingang hatte:
Betr.: Terminbestätigung
Sehr geehrter Herr Dr. Rochner,
bedauerlicherweise haben Sie meine Terminbestätigung für den 27. d. M. , 20:42 ignoriert. Ich erlaube mir also nochmals nachdrücklich auf unseren Termin hinzuweisen, verbunden mit der Anmerkung, daß eine Absage des Termins, bzw. ein Nichterscheinen nicht akzeptiert werden können.
Mit freundlichen Grüßen
Der Tod
Frank Rochner hatte genug von diesem Spielchen. Er zog den Sessel heran, setzte sich und begann ein Antwortschreiben zu verfassen:
Werter Scherzkeks,
es scheint Ihrer Aufmerksamkeit entgangen zu sein, daß Witze sich durch Wiederholung selten verbessern. Ich habe über ihren ersten Scherz nicht gelacht. Ich kann dies also auch über seine Fortsetzung nicht. Sollten sie der
Auffassung sein, das Spiel fortsetzen zu müssen, dann werde ich polizeiliche Meldung erstatten.
Mit gar nicht freundlichem Gruß
Dr. Frank Rochner
Nicht, daß er annahm, daß dieses Antwortschreiben irgendetwas bewirken würde, aber er fühlte sich dennoch besser danach. Er hatte reagiert und damit wieder die Kontrolle über die Situation gewonnen. Unglaublich, was für Spinner in dieser Welt herumliefen. Aber das deftige Antwortschreiben würde auch dem letzten Spaßvogel klarmachen, daß der Scherz nun
zu Ende war.
Pling. Sie haben eine neue Nachricht. Frank Rochner verdrehte die Augen, als er die Absenderadresse als tod@jenseits.org erkannte.
Betr.: Ihre Anfrage
Sehr geehrter Hr. Dr. Rochner,
bezüglich ihrer Anfrage muß ich Ihnen leider mitteilen, daß es sich keineswegs um einen Scherz handelt. Auch eine nochmalige Prüfung der meiner Abteilung zugegangenen Unterlagen hat ergeben, daß die Terminvereinbarung für den 27. d. M. unauflöslich und undwideruflich fixiert ist. Mit dem Ausdruck des aufrichtigen Bedauerns für
Ihnen dadurch entstehende Unannehmlichkeiten verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Der Tod
Frank Rochner fackelte nicht lange. Er erinnerte sich, auf irgendeiner Webseite einmal die Mailadresse einer kriminalpolizeilichen Meldestelle gelesen zu haben, fand die Adresse sehr rasch wieder und sandte alle bisher eingelangten Nachrichten in der Causa Tod mit dem Vermerk, sich bitte um die Angelegenheit zu kümmern, an meldestelle@kriminalpolizei.net mit Kopie auch an den Tod. Sollte der nur
wissen, daß ab sofort die Cops hinter ihm her sein würden.
Am nächsten Vormittag legte seine Sekretärin ihm den Anruf eines Kriminalbeamten mit einem nicht zu überhörenden Unterton der Überraschung auf seinen Apparat.
'Rochner?'
'Kriminaloberinspektor Asslinger, Dezernat für elektronische Verbrechen, Landeskriminalamt. Sind sie dieser Dr. Frank Rochner, der uns gestern elektronisch kontaktiert hat?'
'Ja. Das trifft sich ja ausgezeichnet, daß Sie so schnell reagie---'
'Sagen sie mal, Herr Doktor,' wobei die Betonung des Doktor Spielraum für ganze
Dissertationen voll von Interpretation eröffnete, ' was glauben Sie eigentlich, mit wem sie es zu tun haben? Sind sie tatsächlich der Auffassung, daß sich die Polizei hinter jeden dahergelaufenen Mailschreiber klemmt, nur um sicherzustellen, daß der Posteingang des Herrn Doktor Frank Rochner frei von unsinnigen Nachrichten bleibt? Glauben sie wirklich, daß wir nichts besseres zu tun haben? Sie, ich mache sie aufmerksam, daß das im Wiederholungsfall für sie Konsequenzen haben wird! Das ist mißbräuchliche Verwendung amtlicher Kommunikationsmittel. Ich fordere sie auf, derartige Meldungen in Hinkunft zu unterlassen! Guten Tag!'.
Er hielt noch immer den Telefonhörer in der
Hand, aus dem deutlich vernehmbar das Zeichen für das beendete Gespräch tönte. Er überlegte, wann das letzte Mal jemand in solch rüdem Ton zu ihm gesprochen hatte. Das musste Jahre her sein, nein, wohl eher Jahrzehnte. Aber war er nicht selber Schuld an dieser Misere? Maß er diesem Scherzbold nicht viel zu viel Bedeutung bei? Hatte dieser Kriminaloberinspektor nicht völlig Recht damit, ihn in seine Schranken zu weisen? Er legte den Hörer auf und beschloß, ab sofort den Tod und seine Nachrichten zu ignorieren. Ein voller Terminkalender für diesen und den folgenden Tag war dabei sehr hilfreich.
Pling. Sie haben eine neue Nachricht. Frank Rochner hatte tatsächlich bereits die merkwürdige Korrespondenz der letzten Woche vergessen. Er seufzte vernehmlich, als er den Absender las: tod@jenseits.org
Betr.: Termin für den 27.
Sehr geehrter Herr Dr. Rochner,
ich hoffe, daß Ihnen das unkooperative Verhalten der Polizei nicht allzu viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Dennoch muß ich darauf hinweisen, daß die Zeit vergeht. Meinen Aufzeichnungen nach haben sie in den vergangenen Tagen keine Vorkehrungen
getroffen. Auch wenn solche aus meiner Sicht, wie bereits erwähnt nicht erforderlich sind, könnte es doch – insbesondere mit Rücksicht auf ihr nicht unbeträchtliches Vermögen – von Interesse sein, ihre Angelegenheiten geregelt zu wissen. Ich habe zu Ihrer Bequemlichkeit dieser Nachricht eine Liste mit in Frage kommenden Notaren beigefügt.
Mit freundlichen Grüßen
Der Tod
Woher wußte der Kerl von der Polizei? Ach ja, er hatte ihn ja selbst informiert. Und von seiner wirtschaftlichen Situation? Nun ja, auch
kein wirkliches Geheimnis. In Wirtschaftsmagazinen waren schon öfter Berichte über ihn und die Marktlücke, die er so erfolgreich füllte, erschienen. Frank Rochner begann Gefallen an diesem Spiel zu finden und verfasste eine Antwort:
Betr.: Anfrage
Werter Tod,
in ihrer unendlichen Weisheit wird ihnen sicher auch der Grund meines geplanten Ablebens bekannt sein. Nachdem mich keinerlei körperliche Beschwerden plagen und auch keine Reisen bis zum 27. d. M. geplant sind, die ein erhöhtes Unfallrisiko erwarten ließen,
erscheint mein plötzliches Lebensende etwas unwahrscheinlich. Ich ersuche also um Bekanntgabe meiner Todesursache.
Hochachtungsvoll
Dr. Frank Rochner
Kaum hatte er die Antwort abgeschickt, erfassten Frank Zweifel ob es tatsächlich richtig war, überhaupt nochmals auf die Angelegenheit einzugehen. Eigentlich war es ja kaum zu glauben. Hier saß er, ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren und beschäftigte sich mit E-Mails, die vorgaben vom Tod zu stammen. Er konnte nur von Glück reden, daß bisher niemand von
der Geschichte Wind bekommen hatte. Da würde es wohl einige geben, die sich darüber freuen würden, dieses Verhalten in der Öffenzlichkeit breittreten zu können.
Pling. Sie haben eine neue Nachricht. Schon am nächsten Abend fand Frank Rochner Antwort auf seine Frage vor:
Betr.: Todesursache
Sehr geehrter Herr Dr. Rochner,
bezugnehmend auf ihre Anfrage vom 24. d. M. und nach Rücksprache mit meinen Vorgesetzten kann ich Ihnen dazu Folgendes mitteilen:
Aus den unserer Abteilung überlassenen Unterlagen geht hervor, daß sie einen Riß der Aorta erleiden werden. Ich kann dazu
erfreulicherweise feststellen, daß diese Todesursache eine fast schmerzfreie ist. Lediglich kurz bevor sie das Bewustsein verlieren werden sie von Übelkeit befallen, die sich allerdings nicht zuordnen läßt und in der Regel fälschlicherweise auf Verdauungsprobleme rückgeführt wird.
Mit freundlichen Grüßen
Der Tod
Frank hatte plötzlich genug von diesem Spiel. Er fühlte tatsächlich Übelkeit in sich hochsteigen und allein das betrachtete er als Zeichen, daß es tatsächlich falsch gewesen war, sich auf diese Korrespondenz einzulassen. Wütend löschte er alle
Nachrichten, die mit tod@jenseits.org zusammenhingen und setze seinem Mailprogramm einen Filter, der alle eventuell noch kommenden Nachrichten sofort und ungelesen löschen würde. Schluß! Dieser Unsinn mußte ein Ende haben. Er merkte, daß die Geschichte bereits begann, seinen Tagesablauf zu beeinflußen. Einige Male ertappte er sich bei Unkonzentriertheiten inmitten von Besprechungen. Einmal hatte er sogar einen Hänger in einem Vortrag, da er darüber nachdachte, wie man tod@jenseits.org entlarven könnte.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ein Termin jagte den nächsten. Besprechungen, Vorträge, Geschäftsessen. Privatissima mit der ersten Reihe der Bankmanager. Man hörte auf seinen Rat, ja man suchte ihn geradezu in Zeiten, in denen sich die satten Gewinne blitzartig in noch sattere Verluste umkehren konnten. Jede Krise hatte ihre Gewinner. Er zählte mit Sicherheit zu den Gewinnern der aktuellen Krise.
Einmal telefonierte er mit seiner Schwester und sicherte ihr sein Kommen für das Wochenende zu. Seine Frage, was sie denn als Geschenk für Mutters Siebziger ausgewählt hatte beantwortete sie nur ausweichend. Sie wolle auch ihn damit
überraschen. Der Flug in seine Heimatstadt war jedenfalls für den Freitag gebucht. Den folgenden Montag hatte er sich terminfrei gehalten, vielleicht ergab sich die Möglichkeit zu einem ruhigen Tag im Kreise des kläglichen Restes, der von seiner Familie noch übrig war. Eine Vorstellung, die durchaus Vorfreude in ihm auslöste.
Frank Rochner schloß die Eingangstür hinter sich. Der Geruch des Penthaus war ihm im ersten Augenblick immer noch fremd und ließ für einen Augenblick den Wunsch nach dem Geruch seines Elternhauses hochkommen. Zwei Tage noch, dann würde er ja dort sein. Er streifte die Schuhe ab, hängte den Mantel an einen Haken und ging Richtung Kühlschrank. Die Haushaltshilfe hatte wie
gewohnt die Wohnung auf Vordermann gebracht und für sein leibliches Wohl vorgekocht. Er öffnete den Kühlschrank, nahm ein Bier heraus, öffnete es und drückte die kalte Flasche einen Augenblick gegen seine Stirn. Er nahm einen tiefen Schluck und ging zu seinem Lieblingsplatz an der Glaswand, von dem aus er in Gedanken an das bevorstehende Wochenende versunken das Treiben der Menschen tief unten in den Straßen betrachtete.
Rumms! Ein gewaltiger Knall riß ihn aus seinen Gedanken. Frank Rochner war zu Tode erschrocken, spürte förmlich, wie sein Herzschlag für den Teil einer Sekunde aussetzte und sein Blutdruck in die Höhe schnellte. Er wirbelte herum in die Richtung
aus der er den Knall vermutete, nicht ohne dabei ein wenig Bier zu verschütten. Jedoch durchaus ohne den kleinen Stich in seiner Brust zu registrieren, der genau im Zeitpunkt des Herumwirbelns auftrat. Botticelli lag am Boden. Vielmehr ein Bildband des genialen Renaissancemalers, den er verehrte. Er hatte dieses monumentale Buch mit mehreren Kilo Gewicht vor Jahren geschenkt bekommen und es beim Einzug in das Penthaus genau an die Stelle gestellt, von der es nun abgestürzt war und nach zwei Metern freien Falls lautstark auf den Boden knallte.
Erleichtert atmete Frank durch. Was einen so ein Buch doch für einen Schrecken einjagen konnte. Er sah die Spritzer des verschütteten Bieres über der Couch, doch bevor er sie
wegwischte wollte er sich noch eine Sekunde vom Schreck erholen. Er fühlte Schwindel, besonders wenn er runter auf die Straße sah und lehnte sich mit der freien Hand gegen die Glaswand. Der Schwindel wurde nicht besser. Im Gegenteil, nun gesellte sich auch noch Übelkeit dazu. Warum auch hatte er auf nahezu leeren Magen Bier getrunken? Er wußte, daß ihm das nicht bekam. Es war wohl besser, sich einen Augenblick zu setzen. Nur noch rasch die Bierspritzer weggewischt. Mühsam stieß sich Frank Rochner von der Glaswand ab, um in Richtung Küche zu gehen. Doch aus dem Gehen wurde mehr ein Taumeln, welches ihn in Erstaunen versetzte, denn abgesehen von Schwindel und Übelkeit fehlte ihm nichts, was diese plötzliche Kraftlosigkeit erklären würde. Das Erstaunen
war noch größer, als ihm nach wenigen Schritten die Knie weich wurden und er zu Boden ging. Im Versuch, sich irgendwo festzuhalten ließ er die Bierflasche fallen, konnte den eigenen Sturz jedoch nicht verhindern.
Er lag da ohne Kenntnis, wie er in diese Lage gekommen war, in seinem Blickfeld war die nun leere Bierflasche, und davor die Lache mit verschüttetem Bier. Etwas weiter im Hintergrund erkannte er den zu Boden gefallenen Bildband, der genau an einer doppelseitigen Darstellung Botticelli's 'Geburt der Venus' geöffnet da lag. Eine noch nie erlebte Ruhe überkam ihn, den Rastlosen. Er starrte auf das Bild der nackten Schaumgeborenen und lächelte, denn
plötzlich vermeinte er, den Geruch seines Elternhauses zu erkennen.
Dieses Lächeln war es, was er mit auf seine Reise nahm, die er um 20:42 antrat. Am 27. des Monats.